Die unsichtbare Wand - Predigt zu Jesaja 51, 1 + 2 + 4-6 von Ulrich Kappes
51,1,2,4-6

Die unsichtbare Wand - Predigt zu Jesaja 51, 1 + 2 + 4-6 von Ulrich Kappes

Seit Jahrzehnten wird für den Silvestertag unter den sechs Predigtreihen ein Abschnitt aus dem Buch des Propheten Jesaja ausgewählt. Es ist genau gesagt, der sog. „Zweite Jesaja“, der die Tradition der „Ersten Jesaja“ fortsetzt I1I , von dem wir hören. Aus dem 51. Kapitel des Jesajabuches stammt der heutige Predigttext.

Wir hören darin keine Worte zum letzten Tag eines Jahres. Unsere Stimmung, die wir beim Jahreswechsel zumeist haben, bleibt unerwähnt. Es geht aber dennoch um Themen, die zu Silvester gehören: einen Rückblick, eine Übergangssituation und einen Ausblick.

Ich halte es zum Verständnis des Textes für sinnvoll, wenn ich vorab einige wenige Worte über den Autor sage. Der zweite Jesaja, auch „Deuterojesaja“, ist in der babylonischen Gefangenschaft aufgewachsen I2I  und wirkte im letzten Abschnitt des babylonischen Exils, also etwa zwischen 550-540 v. Christus. I3I

Ein Kapitel vor unserem Predigttext (50,5) wird berichtet, dass sich der Prophet einem Gerichtsverfahren unterziehen musste. Danach wandten sich offenbar nicht wenige Juden von ihm ab. Selbstzweifel, ob seine Mission gescheitert war (49,4), ergriffen ihn. War sein Dienst als Prophet umsonst? Die Lieder vom leidenden Gottesknecht entstehen. I4I Er ringt um Gefolgschaft, um Menschen an seiner Seite, die ‚Gott suchen‘, und (mit ihm) „der Gerechtigkeit nachjagen“.

Hört mir zu, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, die ihr den Herrn sucht: Schaut den Fels an, aus dem ihr gehauen seid, und des Brunnens Schacht, aus dem ihr gegraben seid. Schaut Abraham an, euren Vater, und Sara, von der ihr geboren seid. Denn als einen einzelnen berief ich ihn, um ihn zu segnen und zu mehren. Merkt auf mich, ihr Völker, und ihr Menschen, hört mir zu! Denn Weisung wird von mir ausgehen, und mein Recht will ich gar bald zum Licht der Völker machen. Denn meine Gerechtigkeit ist nahe, mein Heil tritt  hervor, und meine Arme werden die Völker richten. Die Inseln harren auf mich und warten auf meinen Arm. Hebt eure Augen auf gen Himmel und schaut unten auf die Erde! Denn der Himmel wird wie ein Rauch vergehen und die Erde wie ein Kleid zerfallen, und die darauf wohnen, werden wie die Mücken dahinsterben. Aber mein Heil bleibt ewiglich, und meine Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen.

Hört mir zu, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, die ihr den HERRN sucht.“ Es ist eine Rede an die, die an der Seite des Knechtes geblieben sind und an der Zukunft Jerusalems festhalten. Ihre Gegenwart ist „Babylon“. Babylon bedeutet, dass die freie Rede eines Propheten gnadenlos mit Gericht und Gefängnis geahndet, ja mit dem Tod bestraft wird. Als ihre Zukunft sehen die Getreuen an einem fernen Horizont Jerusalem. Das bedeutet, die Hoffnung nicht fallen zu lassen und eine zweite Wüstenwanderung zurück nach Judäa nicht zu scheuen. Jerusalem muss neu aus seinen Trümmern entstehen.

Zwischen diesem „jetzt noch in Babylon“ und „morgen oder übermorgen in Jerusalem“ ist der Kompass zur Hand zu nehmen und zu prüfen, ob der Glaube stimmt. Zwei anspruchsvolle Bildworte gebraucht Deuterojesaja.

‚Ihr, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, die ihr den Herren sucht: Schaut den Fels, aus dem ihr gehauen seid und des Brunnens Tiefe, aus der ihr herkommt.“ „Schaut den Fels, aus dem ihr gehauen seid …“

Woran lässt der Prophet denken, was assoziiert er mit diesem Bildwort? Die Deutung ist nicht einfach. Ich meine, dass er an Skulpturen denkt, die aus einer Felswand herausgehauen werden. I5I Ein Bildhauer schlägt aus einem Felsbrocken eine Gestalt heraus. Die Friese der antiken Tempel beispielsweise hatten bisweilen Menschen – und Göttergestalten, die unmittelbar aus dem Stein heraus gehauen wurden. Fertige Statuen von Pharaonen, Königen und Priestern wurden nicht nur nachträglich vor eine Attika gestellt und befestigt, sondern bildeten eine in Stein gehauene Einheit mit der Wand hinter ihnen. Das war höchste Bildhauerkunst.

Schaut den Fels, aus dem ihr heraus gehauen seid …!“ Die „nach Gerechtigkeit streben und Gott suchen“, sind wie aus einem Stein herausgearbeitet. Sie stehen nicht für sich. Sie stehen, indem sie mit dem „Fels“, aus dem sie geschlagen wurden, fest verbunden sind. „Schaut den Fels, aus dem ihr gehauen seid …!“ Was ist nun der „Fels“?

Was steht hinter uns, gibt uns Halt und Standfestigkeit? Ist es Gott? Das liegt nahe, wird doch Gott vor allem als der Fels der Frommen in vielen Psalmen beschrieben. Ist das hier anwendbar? Sind wir aus „Gott“ heraus geschlagen wie aus einem Felsen? Das könnte ich nicht sagen.

Was ist dann mit dem Felsen gemeint, aus dem heraus wir geformt wurden? Was war es, aus dem heraus Abraham gebildet wurde, auf den Deuterojesaja verweist? Ich denke, sein Glaube war sein Fels, sein Glaube an den Gott, der ihn aus Ur wegführte und dann wunderbar in dem neuen Land bewahrte. Uns wird gesagt, dass Glaube eine unsichtbare Wand ist, die uns den Rücken stärkt und Sicherheit gibt.

Das Bildwort sagt uns, dass der Glaube an Gott die Felswand hinter uns ist, die uns hält. Wir sind nicht aus „Lehm und Ton“ herausgeformt wie einst Adam nach der Schöpfungserzählung. Darüber geht der Prophet hinaus. Das passt nicht zu dem, was er seinen Gefolgsleuten sagen wollte. Der Glaube ist ein Fels, der uns vor dem Absturz und Abgleiten schützt. Er lässt uns in Wind und Wetter feststehen. Mit dem Glauben im Rücken, oder „aus dem Glauben herausgehauen“ gewinnen wir Sicherheit und Festigkeit.

Das zweite Bildwort führt uns in eine andere Dimension: ‚Schaut in des Brunnens Tiefe, aus dem ihr gehoben seid‘.

Ich werde an Worte erinnert, mit denen Thomas Mann seiner Romantrilogie „Joseph und seine Brüder“ beginnt: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.“. Thomas Mann fordert die Leser auf, hinabzusteigen in den Brunnen der Vergangenheit, um sich nach diesem Weg in die eigene Vergangenheit neu zu verstehen. Es gelte für die Gegenwart, Orientierung aus der Geschichte zu holen. I6I

Blicken wir in die nähere Vergangenheit zurück, so liegt das Jahr 2018 hinter uns. Es war für uns als evangelische Kirche das Jahr „danach“, das Jahr Eins nach der 500-Jahr-Feier der Reformation. Was ist geblieben? Geblieben ist aus meiner Sicht mehr als eine Äußerlichkeit: wir dachten gemeinsam mit den Katholiken an Luther zurück. Das „Feindbild Luther“, bisweilen zur eigenen Profilschärfung aufgebaut, ist gewichen.

Was bedeutet das „Jahr Eins“ inhaltlich für uns?

Zentral für unseren Glauben ist Luthers Rechtfertigungslehre, von Gott ohne Leistungen und ohne Erfolge angenommen zu sein. Das gleiche gilt für seine Lehre vom Abendmahl, bei dem uns Christus in Brot und Wein real begegnet. Eine Kirche ohne die Begegnung mit Christus über die Brücke von Brot und Wein wird verkümmern. (Meine ich.)

Blicken wir tiefer in den Brunnen der Vergangenheit, so sehen wir, dass sich Generationen von Christen zweitausend Jahre am Neuen Testament ausrichteten. Sie haben vieles falsch gemacht. Das ist wohl war. Es hat aber immer wieder Menschen gegeben, die, von diesem Wort geleitet, die Kirche auf den biblischen Weg zurück brachten. Ja, noch einmal, wir haben Fehler gemacht - was wäre jedoch eine Welt ohne Menschen, die trotz Schwächen und Fehlern immer von neuem den Weg der Liebe zu gehen versuchen?

‚Schaut in den tiefen Brunnen eurer Vergangenheit!‘ Wir sind Teil einer unübersehbaren Kette derer, die den Brunnen Gottes aufsuchen und aus ihm das Wasser des Lebens empfingen.

Im letzten Teil unseres Predigttextes gibt es einen Bruch, der etwas Schockierendes an sich hat. Wir hören Worte, die uns verstören. Ein schlimmes Szenario wird entrollt, bei dem die Welt vergeht, die Erde in Rauch sich auflöst und die Menschen wie die Mücken sterben.

Auf dem Weg dorthin, auf dem Weg in eine neue Welt, die Gott auf den Ruinen der alten Welt schaffen wird, befindet sich das pilgernde Volk Gottes. Die Rückkehr nach „Jerusalem“ ist nur eine Station. Vor diesem düsteren Horizont, den der Prophet entfaltet, wird freilich so etwas wie ein Zielband ausgerollt. Es ist als sollten wir darauf vor allem unsere Augen richten. Auf diesem Spruchband oder Banner schreibt er die Worte: „Lebt in Gerechtigkeit!“

Erinnern wir uns! Gott spricht: „Weisung wird von mir ausgehen, und mein Recht will ich gar bald zum Licht für die Völker machen. Meine Gerechtigkeit ist nahe. Meine Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen.“ Weil Gott in seiner Gerechtigkeit nahe ist, schließt das ein, dass auch seine Menschen in Gerechtigkeit leben I7I, auf Gottes Gerechtigkeit antworten.

Was ist mit Gerechtigkeit gemeint? I8I Was heißt das für uns, die wir auf dieses Ziel hin streben sollen?

„Gerechtigkeit“ drückt für den Hebräer und den Urchristen in der Schule des Paulus eine Beziehung, ein Verhältnis aus. Der „Gerechte“ sucht eine feste Beziehung zu Gott, ein immer neues Verhältnis: „Ich hier und DU, Gott da, aber nichts geschehe ohne Dich.“ Gottes Gerechtigkeit zu entsprechen, heißt in aller Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit ihn nachahmen, ihm gerecht werden.

Gerechtigkeit ist also in erster Linie nicht, Gottes Geboten gerecht zu werden, so wichtig sie als Regel in unserem Leben sind. Gerechtigkeit ist zuerst, Gott als ein Gegenüber zu sehen und dabei seinem Willen gerecht zu werden.

Dieses Leben im Angesicht des gerechten Gottes kann heute das und morgen ein anderes bedeuten, weil Gott von uns heute das und morgen jenes will.

Wir laufen, folgen wir Deuterojesaja, auf das Banner „Lebt in Gerechtigkeit!“ zu. Wir stolpern dabei, wir fallen, wir zweifeln. Wir gehen weg von diesem  Ziel und wählen ein anderes Das ist bitter. Das Banner sagt uns: „Steh wieder auf!“ Gott spricht: ‚Meine Gerechtigkeit ist nahe. Das wird sich immer von neuem als unsere Rettung erweisen.

ANMERKUNGEN

Anm.1  Nach Hans-Jürgen Hermisson: Deuterojesaja. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, 2. Band, Tübingen 1999, Sp. 684-688., Sp. 684.

Anm. 2  Arthur Weiser: Einleitung in das Alte Testament, Berlin 1963, S.177.

Anm. 3  Hermisson Sp. 684. Anders Weiser, S. 182, der Deuterojesaja bis 530 n. Chr. (Eroberung Babylons durch Kyros) datiert.

Anm. 4  Mit Weiser, S. 182.

Anm. 5  Das von mir gewählte Bild ist sehr hypothetisch. Ich stehe dazu. Ulrich Berges überträgt die Metaphorik Fels „Fels und Brunnen“ auf den Schiloahtunnel. Ulrich Berges: Jesaja 49-54. Übersetzt und ausgelegt. Freiburg/Basel/Wien (HThKAT), S. 119.

Anm.6  Es dauert einige hundert Seiten, bis sich nach meinem Dafürhalten der Kreis in dem 1. Band des Romans zum Eingang schließt: „Der Mann (erg. Abraham) hätte zu sich selber sagen können … Es genügt, dass ich irgendeinem Elchen oder Ab- und Untergott diene, es liegt nichts daran. ‘ So hätte er es bequemer gehabt. Er aber sprach: ‚Ich, Abram, und in mir der Mensch, darf ausschließlich dem Höchsten dienen.‘ Damit fing es an. (Dem Joseph gefiel es.)“ Thomas Mann: Joseph und seine Brüder, Berlin und Weimar 1972, S.424.

Anm.  7 „Nicht nur formal, sondern auch semantisch sind die vier Strophen (V1-3.4-5.7-8) eng aufeinander abgestimmt. Alle durchzieht das Leitwort … Gerechtigkeit …, gefolgt von den ebenfalls theologisch zentralen Begriffen …. Tora, … Recht…, Rettung.“ Berges, S. 114.

Anm.  8  Eine kurze, prägnante Darstellung dieses Gerechtigkeitsbegriffes gibt Thomas Schumacher: Der Römerbrief als Wechselspiel philologischer Entscheidung und theologischer Aussage. In: www.bibelwerk.de.