Die Wahrheit Gottes in Knechtsgestalt - Predigt zu Jesaja 50, 4-9 von Friedrich Hauschildt
Worte aus weiter Ferne sind es, die mit dem eben verlesenen Text an unser Ohr kommen. Wer spricht da als eine unbekannte Stimme aus grauer Vorzeit? Zweieinhalb Jahrtausende trennen uns von dieser Gestalt. Ihre Lebensumstände können wir uns kaum vorstellen. Wir können uns auch beim ersten Hören keinen rechten Reim darauf machen, was diese Worte bedeuten und uns vielleicht sagen könnten. Aber in uns steigt eine Ahnung auf, dass sich in diesem Ruf aus der Ferne etwas Wichtiges, etwas für uns Bedeutungsvolles erschließen könnte, in den eigentümlichen Worten dieses geheimnisvollen Ich.
Schauen wir uns die wichtigsten Züge an, mit denen sich diese Person uns in ihren Worten präsentiert.
I. Kommunikation - „mit den Müden reden zu rechter Zeit“
Da ist als Erstes: Dieses geheimnisvolle Ich stellt sich uns ganz unspektakulär vor als eines, das kommuniziert, das redet und zuhört. Redet – aber nicht mit einer andere überbietenden, auf Macht und Einfluss bedachten lauten Stimme, sondern: es spricht einfühlsam mit Müden, mit Bedürftigen, es ermuntert und tröstet. Bei solchem Reden, bei dem nicht der objektive Inhalt allein im Mittelpunkt steht, sondern der andere Mensch, seine Lage, seine Bedürftigkeit, ist es wichtig, zum richtigen Zeitpunkt das richtige Wort zu finden, geschenkt zu bekommen. Es kommt nicht allein auf den Inhalt der Worte an, sondern zugleich auf den richtigen Zeitpunkt. Reden dieser Art ist sensibel dafür, was gerade jetzt „dran ist“. Und dieses Reden hat eine besondere Eigenart: es kommt nicht aus dem Willen zur Selbstdarstellung des Redenden, es kommt vielmehr aus dem Hören auf den anderen, den anderen Menschen. Aber mehr noch. Bei diesem Hören ist eine besondere Perspektive mit im Spiel: er hört wie „Jünger hören“. Gott – so sagt er – habe ihm „das Ohr geweckt“, ihn zu einem Hörenden gemacht. Er hört auf den bedürftigen Menschen in der Dimension schlechthinniger Wahrheit, einer Wahrheit, die wir nicht machen, über die wir nicht verfügen, sondern die uns aufleuchtet und dann Herz und Sinn öffnet. So sieht er den anderen in seiner konkreten Situation zugleich als Gottes Kind.
II. Die Wahrheit löst Widerstand aus
Und ein zweiter Zug: Diese geheimnisvolle Gestalt hat mit ihrem Reden und Verhalten keinen Erfolg, im Gegenteil, sie löst Widerstände aus, sie wird offensichtlich sogar geschlagen, gedemütigt, bespuckt. Warum, fragen wir, hat ihr Auftreten provozierend gewirkt? Wir bekommen keine Antwort. Wir kennen die Gründe nicht, nur: Diese Person wird nicht verstanden, sie weckt Widerspruch. Vielleicht wegen ihrer Ehrlichkeit, ihrer mangelnden Anpassung an das, was „man so tut“? Wahrheit findet nicht immer Zustimmung, sie trifft nicht selten auf Abwehr, ja sogar immer wieder auf gewalttätigen Widerstand bei machtbesessenen Herrschern und verblendeten Massen. Das Wort der Wahrheit erweist sich oft als schwach. Die Öffentlichkeit, die allgemeine Stimmung übertönen diese leisen Stimmen. Zuhören, verstehen, sich solidarisch einfühlen – diese Haltung kommt im allgemeinen Lärm in ihrer heilenden Wahrheitskraft nicht zur Geltung, sie wird, wenn nicht mit Gewalt beantwortet, so doch zu oft verächtlich abgetan oder totgeschwiegen.
III.. „den Rücken hinhalten“
Und wie – das ist der dritte Zug – reagiert diese Gestalt darauf, die mit Müden einfühlsam redet und dafür geschlagen wird? Sie scheint sich nicht zu wehren oder gar mit gleicher Münze heimzuzahlen, sie weicht aber auch der Schmähung nicht leisetreterisch aus, sie entzieht sich der Konfrontation nicht, sie geht ihren Weg unbeirrt, sie geht ihn „gehorsam“, so heißt es. Sie bleibt dem, was sie als Wahrheit, als ihren Auftrag erkannt hat, treu, auch wenn das bedeutet, sich schlagen zu lassen. Das könnte resignativ, wie aufgeben wirken. Warum wehrt sie sich nicht? In Wahrheit erfordert der Weg, den diese geheimnisvolle Gestalt geht, viel Kraft und Mut und große innere Stärke. Sie nimmt das Leiden, das ihr zu Unrecht aufgebürdet wird, um der Wahrheit willen auf sich. Eine Wahrheit, die nicht mit Macht auftrumpft, sondern sich zu beugen scheint.
IV. am Vertrauen festhalten
Wie ist das möglich? Woher kommt die dafür notwendige Kraft? Diese Gestalt wird – und das ist ihr viertes Charakteristikum – von einem unerklärlichen Vertrauen getragen: „Ich gehe nicht zugrunde, Gott hilft mir, er wird mich gerecht sprechen“. Wie diese Hilfe konkret aussieht, in welcher Form und wann sie Realität wird, all das wissen wir nicht. Das in diesem Text sprechende Ich weiß es auch nicht. Aber es ist gewiss: sein Weg ist in Wahrheit richtig und gut. Und allein diese Gewissheit ist schon so etwas wie ein Lichtblick, wie ein Lichtschein aus einer anderen Welt.
V.. Das Gottesknechtslied erschließt uns das Geschick Jesu.
Ein erstaunlicher Text, ein bewegendes Zeugnis, eine beeindruckende Gewissheit und Unbeirrbarkeit. Von solchen Texten finden sich im Buch des Propheten Jesaja noch drei weitere. Gottesknechtslieder werden sie genannt.
Die Christenheit hat diese merkwürdigen Texte, die Gottesknechtslieder aufgenommen, sich in sie hineingedacht, um sich mit ihrer Hilfe das schwer verstehbare Geschick des Jesus von Nazareth klar zu machen. Hat er nicht Ähnlichkeit mit dieser Gestalt?
Er wusste mit den Belasteten und Ausgegrenzten zur rechten Zeit zu reden.
Er zog sich immer wieder zum Gebet zurück, hörte auf den Vater und redete mit ihm: noch am Kreuz wird er mit Gott im Gespräch bleiben, dem Mitgekreuzigten einen Weg eröffnen, Gott um Vergebung gegenüber seinen Widersachern bitten.
Er hat im übertragenen und im wörtlichen Sinn seinen Rücken hingehalten, die Schmähungen ertragen, ohne zu verhärten.
Und er hat noch in der Klage der unbegreiflichen Gottverlassenheit am Vertrauen auf Gott festgehalten und zuletzt seinen Geist in Gottes Hände befohlen.
Das alte Lied aus dem Buch des Propheten Jesaja wirft ein deutendes Licht auf jene Ereignisse, derer wir in der vor uns liegenden Woche gedenken. Am Beginn dieser Woche begegnet uns dieser alte Text als Anleitung zum Verstehen, als Hilfe zu einer uns ergreifenden Deutung. In dieser geheimnisvollen Gestalt aus dem Jesajabuch erkennen wir so etwas wie eine Vorgestalt Jesu von Nazareth.
VI. Anwendung auf uns
Aber mehr noch. Diese Geschichte geht weiter, reißt einen weiten Horizont auf.
Wenn wir uns an die Gestalt und das Geschick Jesu erinnern und uns dabei von der Gestalt des Gottesknechtes helfen lassen, geht es nicht nur um Menschen, die vor langer Zeit auf der Erde lebten, die wir vielleicht bewundern. Indem wir uns an Jesus erinnern, uns seinen Lebensweg vergegenwärtigen, leuchtet vor unsrem geistigen Auge ein Lebensmodell auf, in dem wir uns selbst begreifen können. Vor uns steht die Möglichkeit, uns selbst von diesem Modell bestimmen zu lassen. „Lasset uns mit Jesus ziehen, seinem Vorbild folgen nach“, haben wir gesungen.
Zuhören, mit Müden zur rechten Zeit reden, sie ermutigen, sich den „geringsten Brüdern und Schwestern“ (Mt. 25) um Seinetwillen zuwenden, möglicherweise Unverständnis, Kritik und Verachtung dafür in Kauf nehmen und trotzdem daran festhalten, dass dieser Weg Gottes Wille ist: das ist ein Lebensmodell, das in Jesus von Nazareth Gott selbst für sich angenommen hat, ein Lebensmodell, das schon das unbekannte Ich aus dem Jesajabuch uns vor Augen hält. Ein Lebensmodell, in dem unser Leben Halt und Tiefe gewinnen kann.
„Erscheine mir zum Schilde, zum Trost“ und „laß mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot“ (EG 85, 10), so hat Paul Gerhard einst gedichtet. In dem Lebensmodell des Gottesknechtes, in der Gestalt des leidenden Jesus von Nazareth hat er – erstaunlicherweise – Trost erblickt. Die vor uns liegende Woche lässt uns den Weg Jesu wieder miterleben: letztes Abendmahl, Verrat, Verleugnung, Gethsemane, Gefangennahme, Verurteilung, Geißelung, Kreuzigung.
VII. Ist dieses Lebensmodell wirklich für uns geeignet?
Erfahren wir die tröstende Kraft dieses Lebensmodells? Oder erscheint es uns eher fremd, vielleicht zu idealistisch, unrealisierbar - aber doch auch irgendwie anziehend? Wer wollte nicht zustimmen: ja, so müsste es eigentlich sein. Ein Lebensmodell, das in unserer Welt, angesichts der Themen und Bilder, die unsere Tagesordnung bestimmen, weit weg erscheint, zweieinhalbtausend Jahre und noch mehr. Das unerträgliche, von Menschen zu verantwortende Drama in Syrien z.B. schlägt diesem Modell ins Gesicht. Miteinander reden in Solidarität, Gegensätze geduldig aushalten, am Vertrauen auf Gottes Liebe festhalten, wie soll das in unserer Welt gehen?
Und: Gleichen Christen nicht Masochisten, wenn sie diese Geschichte in den Mittelpunkt ihres Glaubens stellen? Manchen erscheint es so. Aber es ist bei Lichte besehen nicht der Fall. Dass der christliche Glaube dem Leid nicht ausweicht, sich in der Person Jesu dem stellt, hat einen guten Sinn. Der Glaube nimmt das Leid wahr, ohne sich von ihm das Gesetz des Handelns aufzwingen zu lassen, er schaut ihm ins Auge und hilft so das Leid zu überwinden. Der christliche Glaube versenkt sich nicht masochistisch ins Elend dieser Welt, er hält vielmehr scheinbar Unvereinbares zusammen: den realistischen, unverstellten Blick in die tiefsten Abgründe der Menschenwelt und das Vertrauen, dass Gottes Liebe größer ist. Er verbindet also das von uns her gesehen Nicht-Vereinbare: ehrlichen Realismus und Vertrauen auf Gottes Liebe. Beides wird am Gottesknecht Jesus von Nazareth erkenn- und erlebbar. Es ist kein Ausweg, die Augen zu verschließen, sich das Leben schön zu reden und die Wirklichkeit zu verdrängen. Wir würden aber umgekehrt die überschwängliche Gabe des Lebens und der Liebe verachten, wenn wir angesichts der Realitäten in Verzweiflung oder fatalistische Gleichgültigkeit versänken.
VIII,. „wir sind frei“
So gehen wir in die Karwoche mit wachem Sinn für das Leid im Kleinen und im Großen, wir sehen nicht weg, verleugnen nicht, was geschehen ist, haben keine Angst auch vor schmerzhafter Erinnerungskultur. Denn der Gottesknecht Jesus von Nazareth hat uns eine Tür geöffnet:
„Wir sind nicht mehr die Knechte der alten Todesmächte und ihrer Tyrannei.
Der Sohn, der es erduldet, hat uns am Kreuz entschuldet. Auch wir sind Söhne (und Töchter) und sind frei.“ (EG 94, 5 Kurt Ihlenfeld).
Der Teufelskreis von Schicksal und Schuld wird nicht mit Gewalt, mit auftrumpfender Macht durchbrochen. Wer in dieser Woche das Geschick Jesu von Nazareths auf sich wirken lässt, der wird mit Erscheinungen konfrontiert, die wir aus unserer Wirklichkeit kennen: Verrat, Verleugnung, Unrecht und Gewalt. In der geheimnisvollen Gestalt aus dem Jesajabuch kündigt sich etwas an, was uns an Jesus von Nazareth zur Gewissheit wird: die „Tyrannei der Todesmächte“ ist überwunden. Gott selbst wird neue Freiheit und neues Leben schenken, noch verborgen und doch wirklich und wahr.
Liedvorschläge:
EG 94 Das Kreuz ist aufgerichtet
EG 384 Lasset uns mit Jesus ziehen
EG 452 Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr