Winter 1990/1991: Ich stehe in einer kleinen Stadt inmitten einer Menschenkette. Sie zieht sich durch die Fußgängerzone. Alle tragen ein Glas mit einer Kerze in den Händen. Nicht alle gehören überhaupt zu einer Kirche. Alle eint, dass sie ein Mahnmal angesichts des drohenden Golfkriegs gegen den Irak, der im August Kuwait annektiert hatte, setzen wollen. Am 17. Januar 1991 beginnt die Operation „Wüstensturm“.
In der Stadt, in der ich heute arbeite, gibt es seit Anfang des Monats wieder ein Friedensgebet.
Die politische Situation gebietet die Einrichtung eines solchen Gebetes, sind sich alle im Vorbereitungskreis einig. „Wir müssen informieren, anklagen und bekennen.“ Das ist der Grundtenor.
Am 21. September, dem internationalen Friedenstag, werden zwischen 18.00 und 18.15 Uhr die Glocken vieler Kirchen läuten. Die Kirchengemeinden sind dazu aufgerufen worden. „Glocken rufen zu Andacht und Gebet,“ heißt es im Anschreiben an die Gemeinden.
„Beten verändert“ – das ist die Hoffnung hinter den Friedensgebeten. Diese Hoffnung stimmt nicht unbedingt mit den Erfahrungen überein. Trotzdem wird immer wieder zu Friedensgebeten und ähnlichen Aktionen aufgerufen.
Gebeten wird einerseits nicht viel Kraft und Wirkung zugetraut. Fragt man jemanden, ob er daran glaubt, hört man: „Ich glaube nicht daran, es wird aber auch schon nicht schaden.“ Andererseits werden immer wieder Kerzen in Kirchen angezündet. Gebetsanliegen werden aufgeschrieben und an dafür vorgesehenen Stellen abgelegt. Die Möglichkeit, eigene Anliegen vor Gott zu bringen, wird nicht nur im Gottesdienst gerne genutzt.
Beten – das scheint auch die einzige Möglichkeit für die kleine Gemeinde in Jerusalem zu sein. Ihre Existenz ist bedroht. Jakobus, einer der Apostel, ist hingerichtet worden. Petrus ist im Gefängnis. Ihm droht dasselbe Schicksal. Alle in der Gemeinde haben das Gefühl, dass sich die Schlinge um ihn und um sie immer enger zieht. „Die Gemeinde betete Tag und Nacht für ihn (Petrus) zu Gott.“
„Not lehrt beten“ – hin und wieder höre ich es: damals nach dem 2. Weltkrieg waren die Kirchen voll, wie auch einige Zeit nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York. Das Gefühl der Ohnmacht lässt Menschen die Hände falten und sich an Gott wenden.
Beten – wenn nichts Anderes mehr hilft. Wenn eine schwere Operation bevorsteht, wenn die Gefahr für Leib und Leben unausweichlich erscheint.
Was wie eine moderne Befindlichkeit erscheint, ist zutiefst menschlich. Die Psalmen geben dem wortgewaltig ihre Stimme. Selbst Kirchenräume erzählen auf ihre Art davon.
Beten ist gewaltfreier Widerstand. Wer betet, will sich nicht mit dem abfinden, was ist. Wer betet, weiß zugleich, dass sie es nicht allein schaffen kann. Wer betet, nimmt das Leben wie unter einem Brennglas wahr.
Oft genug habe ich den Eindruck, dass ich nichts tun kann. Was soll ich als einzelne schon bewirken können? So passiv das Beten auf andere wirken mag, so sehr ist es doch in Wirklichkeit ein aktiver Vorgang. Wenn ich meine Hände falte oder sie geöffnet vor mich halte, dann werde ich wehrlos. Gefaltete Hände sind eben keine geballten Fäuste. Beten ist für mich wie ein Eingeständnis dafür, dass ich nicht weiter weiß. Ich bin mit meinem Latein am Ende. Ich gebe ab, was ich selbst nicht erreichen kann.
Es tröstet und trägt mich, wenn ich weiß, dass andere mein Anliegen teilen. Wenn ich zweifle, ob mein Beten etwas nützt und meine Stimme zaghafter und leiser wird, dann sind da noch die anderen Stimmen, in die ich mich fallen lassen kann.
Sicher, ich habe keine Garantie dafür, dass mein Beten so ausgeht, wie ich es mir wünsche. Aber soll ich deshalb aufhören, mit Gott zu rechnen? So, wie es in der Apostelgeschichte von der Befreiung des Petrus erzählt wird, ist es viel zu schön, um wahr zu sein. Es mutet wie ein Märchen an. Bevor das geschieht, muss die Gemeinde damit umgehen, dass ihr Gebet für Jakobus ohne Erfolg war. Dennoch hören sie mit dem Beten nicht auf. Sie hören nicht auf, Gott in den Ohren zu liegen. Sie ergeben sich nicht der Macht der Mächtigen. Sie finden sich nicht mit dem scheinbar Unabdingbaren ab. Sie hören nicht auf, daran zu glauben, dass Gott das Leben will.
Mit den dann folgenden Ereignissen haben die Christen in der Jerusalemer Urgemeinde dann nicht gerechnet. Mit viel Humor wird geschildert, dass sie selbst ihre Gebetserhörung unglaublich finden. Es ist einfach zu verrückt. Es ist ein Wunder.
Mit dem Unwahrscheinlichen rechnen. Das haben Menschen zu jeder Zeit wieder neu lernen dürfen. Die Hoffnung, dass Gott mein Gebet erhört, zugleich mit meinen Worten quasi vor mich her zu werfen. Dann kann ich mich von dieser Hoffnung tragen lassen.
Das Unwahrscheinliche wagen: darauf setzen, dass Ohnmacht sich machtvoll wandelt. Dazu braucht es Mut. Das, was ich mir erhoffe, für mich selbst, für andere, für die Welt, Gott vor die Füße zu werfen. An Gott abgeben, was ich nicht selbst erreichen kann. Das ist Beten.
Solches Beten wird gehört.
Von dieser Gewissheit werden die Gebete genährt. Wer betet, webt mit an dem Klangteppich der vielen Gebete, die seit Menschengedenken vor Gott gebracht werden. Diese Vorstellung ist es, die mein Beten trägt. Deshalb kann ich nicht aufhören zu beten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Mächtigen dieser Welt die Oberhand behalten. Wer betet, ist nicht allein. Er verbindet Lob, Dank und Klage mit dem, was schon immer Gott überlassen worden ist. Das macht stark und mutig. Das wird gehört. Von Gott und von Menschen.
Die Friedensgebete werden unser Bewusstsein schärfen. Wir schauen hin. Wir erkennen, was wir ändern können. Wir geben in Gottes Hand, was wir loslassen müssen. Ich bin nicht allein. Andere beten ohne Unterlass mit mir.
Liedvorschlag nach der Predigt: „Klüger“ freitöne 93