"Die Weisheit des vierten Königs", Predigt zu 1. Korinther 2, 1-10 von Martin Schmid
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"Die Weisheit des vierten Königs", Predigt zu 1. Korinther 2, 1-10 von Martin Schmid

Die Weisheit des vierten Königs
Auch ich, liebe Brüder, als ich zu euch kam, kam ich nicht mit hohen Worten und hoher Weisheit, euch das Geheimnis Gottes zu verkündigen. Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten. Und ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und mit großem Zittern; und mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft, damit euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft.
  Wovon wir aber reden, das ist dennoch Weisheit bei den Vollkommenen; nicht eine Weisheit dieser Welt, auch nicht der Herrscher dieser Welt, die vergehen. Sondern wir reden von der Weisheit Gottes, die im Geheimnis verborgen ist, die Gott vorherbestimmt hat vor aller Zeit zu unserer Herrlichkeit, die keiner von den Herrschern dieser Welt erkannt hat; denn wenn sie die erkannt hätten, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt. Sondern es ist gekommen, wie geschrieben steht (Jesaja 64,3):
´Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.´
Uns aber hat es Gott offenbart durch seinen Geist; denn der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit.
Liebe Gemeinde!
Die Weisen sind zu Königen geworden. Zwei Sonntage nach Epiphanias sind die „Weisen aus dem Morgenland“ wieder auf dem Nachhauseweg. Aber für die meisten waren diese Weisen drei Könige, Epiphanias war das Dreikönigsfest. Die Entwicklung, die sich hier vollzogen hat, ist nicht unerfreulich. Man möchte sich das ja auch in anderen Fällen wünschen, dass ein Weiser zum König oder ein Philosoph zum Präsidenten oder ein Dichter zum Staatsoberhaupt wird. Es ist dergleichen ja auch schon geschehen. Noch schöner wäre das Umgekehrte, wenn also Könige zu Weisen würden und Herrschende sich nicht nur durch Macht und Einfluss, sondern durch Weisheit auszeichnen könnten. -
Wir sind keine Könige, werden wir sagen, und keine Herrscher, wir sind nicht betroffen. Höchstens insoweit, als auch wir einen Weg suchen, wie jene Reisende aus dem Morgenland ihn suchten. Das wäre der Weg, über dem ein Stern leuchtet, eine Verheißung. Aber eigentlich haben wir uns auch da schon so ziemlich festgelegt. Der Weg voller Verheißung ist für uns der Weg des Wissens. Wir leben in einer Wissensgesellschaft. Wir bemühen uns, den Kindern so früh wie möglich so viel wie möglich Wissen zu vermitteln, um ihnen dadurch den Weg zu ebnen. Wir beurteilen Menschen nach ihrem Wissen. Wir fordern lebenslanges Lernen und meinen damit nicht den Zuwachs an Weisheit, sondern den Zugang zum Wissen. Der Stern, dem wir folgen, heißt Wissen. Was das Wissen betrifft, sind wir dann doch Könige. Die immer und nahezu überall für nahezu alle verfügbare Information macht uns dazu. -
Paulus würde unser Wissen wohl „die Weisheit dieser Welt“ nennen. Denn das Wissen hat das Sagen in der Welt. Und seine Verheißung ist Macht. Es herrschen die Informierten.
Nach der Meinung des Apostels hat die Weisheit dieser Welt jedoch eine Schwäche. Dies ist zugleich auch eine Schwäche des Wissens. Die Weisheit dieser Welt kann Jesus Christus nicht erkennen. Natürlich weiß sie von ihm, sie kann ihn beschreiben, wie sie jede Gestalt der Geschichte beschreiben kann. Sie könnte berichten: er wurde geboren zur Zeit des Kaisers Augustus von einer jüdischen Mutter mit Namen Maria, er ist aufgewachsen in Galiläa, das liegt im Heiligen Land, er hat eine neue, erfreuliche Botschaft zu den Menschen gebracht und hat für seine Botschaft gelebt, er hat geheilt, er hat gelitten unter Pontius Pilatus, man hat ihn gekreuzigt, er ist gestorben und wurde begraben. -  Damit aber wäre das Wissen am Ende. Die Weisheit dieser Welt weiß von Jesus und erkennt ihn doch nicht. Anderes übrigens versteht das Wissen auch nicht: warum es Leid gibt zum Beispiel, warum Menschen bisweilen scheitern, was es mit der Liebe auf sich hat und was mit dem Tod .
Neben der Weisheit dieser Welt existiert eine andere Weisheit. Sie verdient es überhaupt erst, „Weisheit“ genannt zu werden. Von ihr erzählt eine Legende, die auch für die Könige des Wissens interessant ist, weil in ihr mal nicht die Weisen zu Königen werden, wohl aber ein König zu Weisheit gelangt. Es ist die Legende vom vierten König. Außer den drei Königen aus dem Osten sei nämlich noch ein vierter dem Stern von Bethlehem gefolgt. Auch dieser kam vielleicht aus dem Morgenland, vielleicht aber auch von anderswo her, manche erzählen: aus dem frommen Russland von einst. So oder so, der vierte König hat sich verspätet. Aufs Beste ausgerüstet und mit Schätzen versehen, war er aufgebrochen. Doch ging ihm auf seiner Reise alles verloren. Denn dieser vierte König ließ sich ablenken von seinem Weg. Hier musste er erst einem Bettler noch helfen und dort einem in Not geratenen Kind. Bald sah er sich genötigt, eine Witwe zu unterstützen, die den Mann und Ernährer verloren hatte, ein anderes Mal konnte er es nicht mit ansehen, wie Bauern in die Sklaverei geschickt werden sollten; er musste sie freikaufen. Während er so immer aufs Neue auf Umwege und Abwege geriet, blieb ihm weder von seiner früheren Macht mehr etwas noch von seinem Reichtum. Auch der Stern, der ihn einst leitete, war längst seinen Augen entschwunden. Er fand nicht nach Bethlehem und versäumte die lichtvollen Ereignisse dort. Schließlich wurde er auf eine Galeere gekettet und plagte sich, über das Ruder gebeugt, Jahr um Jahr. Gealtert und geschwächt setzte man ihn schließlich irgendwo ab. Nun folgte er Menschen, die zu einer Stadt zogen. Er erlebte, wie vor den Toren dieser Stadt drei Männer hingerichtet wurden, am Kreuz. Dort aber, nämlich unter dem Kreuz Jesu, sah er sich auf einmal angeblickt und erkannt und am Ziel. Den einst so sehnlich gesuchten König hatte er, der kein König mehr war, doch noch gefunden.
Wenn wir Könige des Wissens den Apostel Paulus fragen könnten, ob diese Legende die Wahrheit enthält, so würde dieser vermutlich mit einem Ja antworten. Denn die Geschichte erzählt von einem, der zum Ziel fand, obwohl er sein Ziel aus den Augen verlor, der dem wahren König ähnlich wurde, obwohl ihm all das abhanden kam, was ihn einmal zum König gemacht hatte, und der, so naiv er auch war, zu der Weisheit gelangte, die den Herrn Jesus erkennt. Paulus aber hat nach Korinth geschrieben, dass die Weisheit Gottes die Großen ihrer Weisheit beraubt und die Kleinen zu Vollkommenen macht, nämlich zu Weisen. Wenn die Weisheit der Welt eine hohe Weisheit ist, so ist diese andere Weisheit aber niedrig; wenn die Weisheit der Welt erfolgreich ist und überzeugend, so fehlt dieser anderen Weisheit oft der Erfolg; wenn die Weisheit der Welt mit dem Wissen verwandt ist – und Wissen ist Macht - , dann ist diese andere Weisheit mit der Torheit verwandt und schwach. Und trotzdem ist es Weisheit. Weil sie den Herrn Jesus erkennt. Und weil sie weder in achselzuckende Hilflosigkeit verfällt angesichts von Leid und Scheitern noch in Verlegenheit gerät, wenn ihr die Liebe begegnet oder der Tod. Paulus sagt von sich, er habe es ganz und gar mit dieser anderen Weisheit gehalten. Und er wollte seinen Hörern und Lesern nur eben diese andere Weisheit bringen.
Kommen wir aber noch einmal zurück auf den biblischen Bericht von den Weisen aus dem Morgenland. Dort wird erzählt, diese hätten dem Kind in der Krippe Geschenke gebracht: Gold, Weihrauch und Myrrhe. Die Geschenke erinnern an drei Lebens- und Machtbereiche. Gold weist auf die Macht der Herrscher, Weihrauch auf die Macht der Priester und Myrrhe als Heilpflanze auf die Macht der Gelehrten, der Ärzte besonders.
Wer Jesus kennt, weiß, dass er solche Geschenke nicht für sich behielt. Er gab sie den Seinen mit auf den Weg. Aber er ließ sie nicht so, wie sie waren; seit sie von ihm berührt wurden, sind sie verändert. Sie haben nun eine Ähnlichkeit zu Jesus. Und ein bisschen auch zu jenem vierten König aus der Legende. Während also die Heiligen Drei Könige wieder ins Morgenland ziehen, bleibt uns durch den heutigen Predigttext der vierte König erhalten. Und wir können uns vorstellen, wie jene drei Geschenke sich in seinen Händen ausmachen würden.
Was würde aus dem Gold? Das heißt, was würde geschehen, wenn die Machthaber in Politik und Wirtschaft oder andere Begüterte des Informationszeitalters von der Weisheit des vierten Königs etwas annehmen könnten?  Es könnte sich einiges bei ihnen ändern. Denn die zwei viel beachteten Regeln „du darfst einen Fehler  höchstens dann zugeben, wenn es gar nicht mehr anders geht“ und „du musst stets deinen Vorteil suchen“ hätten an Geltung eingebüßt. Schwachheit zu zeigen, wäre kein Widerspruch mehr zur Weisheit. Fehler einzugestehen, wäre kein Übel. Und einem, der die Interessen anderer in die eigenen Überlegungen einbezieht, würde deshalb kein Vorwurf gemacht. Auf einen Vorteil auch einmal zu verzichten, würde für denkbar gehalten.
Was würde aus dem Weihrauch? Was würde also geschehen, wenn im Bereich von Kirche und Religion die Weisheit des vierten Königs zur Geltung käme? Meist sind die Pastoren, die Priester und die vielen anderen Frauen und Männer, die in der Kirche arbeiten, in Eile und abgehetzt. Anders schaffen sie es nicht. Nun hätten sie auf einmal Zeit. Sie ließen sich aufhalten - die einen durch Menschen, deren Not sie beschäftigt, die anderen vielleicht durch einen Gedanken, der sie nicht loslässt und dem sie nachgehen wollen. Diese Zeit würde dann fehlen an anderer Stelle. Aber das würde geduldet und gutgeheißen.
Und was würde aus der Myrrhe? Was also würde passieren, wenn gerade das ärztliche Wissen und Können verbunden wäre mit der Weisheit des vierten Königs, der am Ende mittellos dastand? Es könnte dann nicht länger davon die Rede sein, dass an jedem Patienten alle denkbaren Mittel und Techniken eingesetzt werden sollen. Auch müsste der Leitspruch jenes Arztes, der meinte, bisweilen sei ein „liebevolles Unterlassen“ die beste Hilfe für einen Kranken, dann nicht mehr als exotisch oder gar abwegig erscheinen. Denn ein solcher Verzicht könnte nun verstanden werden als Ausfluss jener Weisheit, die noch größer ist als das Wissen. Weisheit wird nämlich – anders als das Wissen – durch die Liebe gefördert und durch Mittragen von Leid nicht behindert. 
Die Spuren der Heiligen Drei Könige hat der Wind schon wieder verweht. Nun müssen wir selbst jenen Weg suchen, über dem der Stern der Verheißung leuchtet. Das ist ein risikoreiches Unterfangen. Wie oft haben auch wir Könige der heutigen Zeit, die über viel Wissen verfügen, uns schon verrannt und verlaufen! Und die Lampe der Weisheit, die uns Paulus heute anzünden wollte, gibt keinen sehr starken Schein. Wie könnte sie auch, wenn sie in solchem Maße mit Schwachsein und Verzichten verbunden ist. Den Wissensbeweis, dass sie das Richtige zeigt, kann keiner erbringen. Aber dass wir diese Weisheit deshalb nur nicht unterschätzen! Die schwache Weisheit ist in Wahrheit gar nicht schwach. Und dass sie im Recht ist, zeigt der „Beweis des Geistes und der Kraft“! Was er vermag, braucht er nicht zu beweisen; das erweist sich. Dieser Beweis ist der Erweis des Geistes und seiner Kraft. Weil nämlich diese Weisheit Gott auf ihrer Seite hat; in diese Weisheit, so schwach sie auch ist, strömt Gottes Kraft hinein. Und wir können uns da ganz sicher sein: für den, der darauf traut, wird sich ihr Geheimnis erschließen! Amen.