„Die Welt gerät zurück in die Fugen“ - Predigt zu Offenbarung 15,2-4 von Klaus Pantle
15,2-4

„Die Welt gerät zurück in die Fugen“

1

Ich stehe auf einer Klippe am Rand einer Insel und schaue über das Meer. Die Wellen schlagen gegen die Felsen, die Gischt spritzt auf. Am Ende des Horizonts zerfließt der milchig blaue Himmel mit dem Meer. Die Weite scheint grenzenlos. Mein Blick verliert sich in der Ferne. So klein bin ich, so verletzlich und endlich und so weit ist der Raum um mich, dass mir schwindlig wird. Ausgesetzt und einsam fühle ich mich, ein winziger, unbedeutender Teil des Kosmos. Aber zugleich empfinde ich mich in dieser Weite auch unendlich geborgen.

Johannes, der Empfänger der nach ihm benannten „Offenbarung“, sitzt in ein rotes Gewand gekleidet auf einer Klippe am Rand der Insel Patmos. Sein Blick verliert sich in der Ferne. Zugleich scheint er nach innen zu schauen. Unzählige Künstler haben ihn so gemalt. Manche haben Visionen, von denen er in seiner Offenbarung erzählt, gleich mit ins Bild gesetzt. Andere Maler lassen die faszinierenden wie erschreckenden Einzelheiten seiner Schau weg. Bild-Betrachtende sehen ihn dann nur als einsamen Mann buchstäblich am Rande der Welt. Die Gestalt lädt sie ein, sich in sie einzufühlen und die ihnen nahe liegenden apokalyptischen Visionen in sich aufsteigen zu lassen.

Johannes blickt auf das unruhige Meer, auf das uralte Sinnbild des Chaos, und sieht in ihm das Monstrum auftauchen - den Leviathan, den Chaosdrachen, den Antichrist - die wesenhafte Verkörperung der alles verschlingenden Macht des Bösen. Dazwischen drängen sich ihm andere Bilder ins Bewusstsein, die Erinnerung an Schiffsflotten voller römischer Soldaten, die über das Meer kamen und sein Land eroberten. Ihm erscheint das „Tier“, ob es Nero oder Domitian heißt, bleibt sich gleich. Das „Tier“ verfolgt die Christus bekennenden Schwestern und Brüder auf grausame Weise. Überall im Römischen Imperium sind die Standbilder des „Tiers“ platziert und müssen verehrt werden auf eine Weise wie die Christus-Bekennenden nur Gott verehren können. Die Geheimpolizei des Religionsamtes ist allgegenwärtig. Sie spioniert die Leute aus, verhört sie, nimmt Verdächtige fest und wirft die, die an ihrem Bekenntnis zu Christus festhalten, den wilden Tieren zum Fraß vor. Wie viele sind schon gestorben? Wer kann das wissen? Um dem zu entkommen ist Johannes auf diese abgelegene Insel in der Ägäis geflohen. Bilder von seiner Flucht über das Meer tauchen auf, vom schwankenden Schiff im Unwetter, das den Verfolgern gerade noch entwischen konnte. Fast wie den Israeliten bei deren Flucht aus Ägypten ist es ihm ergangen, der Flucht vor ihrem „Tier“ – dem Pharao. Mit knapper Not waren sie heil durch das Schilfmeer gekommen. Gott, verborgen in einer Wolken- und Feuersäule, hatte sie herausgeführt und ihre bestialischen Verfolger vernichtet. Gott wird auch das gegenwärtige „Tier“ und alle kommenden Bestien vernichten. All ihre Helfershelfer wird er überziehen mit neuen Plagen. Mit Blitz und Donner, mit Feuer und Wasser wird er sie und mit ihnen ihre verrohte und verdorbene Welt untergehen lassen. Denn Gott ist ein gerechter Richter. Er wird die „Überwinder“, die nicht von ihrem Bekenntnis zu Christus abfallen und die darüber zu Märtyrern werden oder bereits umgekommen sind, ewiges Leben schenken. Vor seinem inneren Auge sieht sie Johannes schon gerettet - die Schar der abgerissenen, von der Verfolgung Erschöpften, wie sie jetzt - ja jetzt, in diesem Augenblick! - schon existieren, jenseits dieser verkommenen Welt – lebendig und frei:

Und ich sah, und es war wie ein gläsernes Meer, mit Feuer vermengt; und die den Sieg behalten hatten über das Tier und sein Bild und über die Zahl seines Namens, die standen an dem gläsernen Meer und hatten Gottes Harfen und sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes:

„Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott!
Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker.
Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen nicht preisen?
Denn du allein bist heilig!
Ja, alle Völker werden kommen und anbeten vor dir,
denn deine gerechten Gerichte sind offenbar geworden.“

2

Wenn ich mich der pulsierenden Stadtgesellschaft, in der ich lebe, entziehe und mir das, was sich in unserer Welt abspielt, vergegenwärtige, steigen in mir Bilder und Phantasien auf, die denen des Johannes gar nicht so fern sind. Nur ist das „Tier“ heute nicht so leicht zu identifizieren und noch viel schwerer zu personalisieren und beim „Namen“ zu nennen. Dafür ist es aber nicht weniger mächtig. Auch dieses „Tier“ hat „Zahlen“. Zahlen stehen für das Tier. Sie scheinen alles zu beherrschen: Euro- und Dollarzahlen, Börsendaten, Aktienindices, Gewinn- und Verlustrechnungen, Erfolgs- und Misserfolgsstatistiken, Arbeitslosenberechnungen, Wachstumsprognosen, Schulden- und Zinsquotienten. Alle Lebensbereiche, alle Dimensionen irdisch-menschlicher Existenz sind heute, so scheint es, „finanzialisiert“ (Saskia Sassen). Hoch lebe die Gier! Nicht nur das Arbeits- und Sozialleben sind davon geprägt, auch die Umwelt und das Klima fallen ihr zum Opfer. Zu oft kennen Egoismus und Gier kein Mitleid und keine Rücksicht mit anderen, auch keine Schonung der eigenen Person, sondern benutzen Menschen und Ressourcen allenfalls wie Spielgeld, um mit ihrer Hilfe und auf ihre Kosten das eigene Kapital zu erhöhen. Die unter die Räder kommen sind Legion. Fassungslos machen mich nicht allein die ganz „normalen“ Opfer von ganz „normalen“ Kriegen und Bürgerkriegen. Fassungslos macht mich der Blick auf die ganz „normalen“ Opfer des kapitalistischen Systems. Beispielhaft sehe ich die für die Betroffenen wahrhaft apokalyptische Bilder der brennenden Rana-Plaza in Savar in Bangla Desh von vor einem Jahr. 1134 Billigstarbeiter, die für 50 Euro Monatslohn für Kunden bei uns Kleidung sowohl für Billig-Ladenketten in unseren Hauptstraßen wie auch für teure Marken produzierten, verbrannten eingesperrt in einer bruchbudenartigen Fabrik. Mehr als 2000 überlebten verletzt und warten bis heute auf Hilfe und Entschädigung. Es war nicht die erste Katastrophe dieser Art – und nicht die letzte. Die Apokalypse findet statt, in unserer Gegenwart. Man braucht dafür noch nicht einmal die Bilder von den durch die Klimaerwärmung und die Abholzung der Regenwälder sich ausbreitenden Wüste auf diesem Planeten bemühen.

Die Vorstellung von Gott, der Gerechtigkeit einfordert und die Frevler an Mensch und Natur straft, ist in unserer Welt verblasst. Gottesfurcht scheint in diesem Zusammenhang kein Thema mehr zu sein. Johannes dagegen setzt noch auf einen Gott, der gegen die widergöttlichen Mächte streitet, der diese besiegt und vernichtet. Johannes sieht, wie in dieser Welt ein Machtkampf stattfindet zwischen Gut und Böse, zwischen, wie er es nennt: Gott und dem „Tier“, zwischen Christus und „Antichrist“, zwischen dem „Lamm“ und der Bestie.  Dieser Machtkampf führt zu blutigen Opfern. Die widergöttlichen Mächte haben Gesichter und Namen, man kann sie benennen und identifizieren. Vor Gericht wird jeder nach seinem Namen und seinem individuellen Vergehen gefragt. Allerdings ist die Macht des Bösen größer als einzelne Menschen oder Gruppen in ihrem frevlerischen Handeln sie ausüben. Aber die Apokalypse findet sich nicht ab. Sie enthüllt. Sie fragt nicht nur, wer hinter dem Frevel steht. Sie fragt auch nach den Opfern. Sie hält die Erinnerung an die Toten aufrecht und verspricht ihnen und allen Bedrängten Gegenwart und Zukunft. Denn sie weiß um die zweite Wirklichkeit hinter und in der ersten Wirklichkeit. Sie kennt auch den Himmel. Sie weiß um das gelingende Leben.  Ihr ist auch das Glück in der Gemeinschaft der Lebenden und der Toten gegenwärtig, die Brot und Wein teilen, die Gemeinschaft, in der man die Pracht der Welt feiert und die Schönheit Gottes besingt.

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Die Welt gerät zurück in die Fugen. Es gibt diese zweite Wirklichkeit. Es gibt sie auch. Die abgerissene Schar der „Überwinder“ singt das Lied der Freiheit und alle stimmen ein. Himmlischen Harfen entlocken sie himmlische Klänge. Die martialische Musik, die das monströse „Tier“ verherrlicht, ist verstummt. Verhalten erklingt der Jubel eines Anderen, das „Lied des Lammes“: „Es ist vorbei, es ist vorbei, vorbei... und alles ist gut.“ Wenn alles vorbei ist, bleibt die Erleichterung. Man muss um nichts mehr bitten und braucht nicht mehr zu klagen. Es bleibt das Soli Deo Gloria – der Lobpreis der Heiligkeit Gottes: „Sie, die Heiligkeit, ist die erste ohne Anfang, und sie ist die letzte ohne Ende, zu der fürwahr nicht einmal unsere Gedanken kommen können“ (Johannes Reuchlin). Annähernd zu erfassen ist Gottes Heiligkeit am Ende nur in der Musik. Die Saiten der himmlischen Harfen werden angeschlagen „und das Eis bricht vom Himmel, der am Ende offen sein wird. Was geschieht, ist einfach. Die Stimmung, die Willkür wird aufgegeben, und die Gesetze werden gefunden. Die Welt gerät zurück in die Fugen“ (Ingeborg Bachmann).

In Kay Pollacks Film „Wie im Himmel“ zieht sich der berühmte Dirigent Daniel Daréus nach seiner Apokalypse, einem Herzinfarkt, zurück in das nordschwedische Dorf seiner Kindheit. Es dauert nicht lange und er lässt sich überreden, die Leitung des örtlichen Kirchenchors zu übernehmen. In diesem Chor versammeln sich Menschen, die fast alle mitten in persönlichen Apokalypsen stecken oder schon welche durchlebt haben. Zum Teil sind sie selbst Ursache für ihre eigenen Apokalypsen oder die der anderen. Da sind die bigotte alte Jungfer, das sexuell vielseitige und doch nicht wirklich geliebte Blondchen, der ewig herumgeschubste Dickmops, der zynische Geschäftemacher, der geistig behinderte Dorfdepp, die fast taube Alte, die misshandelte Ehefrau und andere mehr oder weniger blasse und verkrümmte Menschen. Zu Beginn des Films sagt Daniel, auf die Frage, was er als berühmter Dirigent in so einem gottverlassenen Kaff suche: „Ich bin gekommen, um zuzuhören“ - zuzuhören, auf die Stimmen der Menschen zu hören, nicht nur darauf, was sie sagen, sondern auch wie sie es sagen. Nach und nach verhilft er ihnen dazu, ihre eigenen Stimmen zu finden. Das gefällt nicht jedem, wenn Menschen ihre eigene Stimme finden. Und das kann zu heftigen, zu notwendigen Konflikten führen, wenn man sich endlich einmal die Wahrheit zu sagen traut und die alltäglichen Spielchen sozialer Demütigung durchbricht. „Jeder Mensch hat seinen eigenen einzigartigen Ton“, sagt Daniel. Der ist schon da. „Alles ist schon da.“ Man muss den Ton nicht machen, man muss ihn nur finden.

Am Ende des Films nimmt der Chor an einem Wettbewerb in Salzburg teil. Die Chorsänger/-innen haben sich im Konzertsaal aufgestellt und warten auf ihren Dirigenten. Aber der erscheint nicht. Die Spannung steigt ins Unerträgliche, bis einer der Sänger, der Dorfdepp Tore, einen Ton anstimmt, seinen Ton, und die anderen nach und nach einstimmen, mit ihrem Ton. Das im ersten Moment irritierte Publikum erhebt sich und am Ende lassen alle ihre eigenen Stimmen mit einfließen. So entsteht ein improvisierter himmlischer Klang, der die Menschen miteinander verbindet und sie über sich hinaus hebt. Es ist eine unvergleichliche, eine kosmische Harmonie aus Menschenmund, eine Musik „wie im Himmel“. Daniel liegt nach einem erneuten Herzinfarkt in der Toilette des Konzerthauses. Über einen Lautsprecher hört er den Klang aus dem Saal und in diesem Himmelsaugenblick huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Solche Musik wollte er lebenslang finden: „Eine Musik, wie sie noch nie je ein Mensch gehört hat.“ Wo sie erklingt, da gibt es keinen Tod.

Noch immer stehe ich auf der Klippe am Rand einer Insel, schließe die Augen und lausche. Was ich höre ist ein unvergleichliches Zusammenspiel der Klänge von Wasser, Wind und Stein. Es rauscht und gurgelt, plätschert und klatscht. Gleich einer atmenden Bewegung schwillt der Klang an und wieder ab, wogt hin und her und findet seinen eigenen unregelmäßigen Rhythmus. Darüber und dazwischen schieben sich die Stimmen der Vögel, gellende langgezogene Schreie, kurze, kräftige Töne, feines Tschilpen, Gilpen, Zwitschern und Pfeifen. Der Klang meines Atems fügt sich ein. Ich bin Teil einer umfassenden Klanglandschaft – die eine dynamische Sinfonie spielt. Ich imaginiere die Klänge unter Wasser dazu, die Klänge, für die man andere Ohren braucht als ich sie habe, von denen ich aber weiß, dass sie da sind: die Klangsignale der Fische, das Schnarren der Krebse, die saugenden und schmatzenden Geräusche der Seeanemonen, das Lied von Buckelwal, Blauwal und Glattwal, das so mächtig ist, dass ihr Klang in nicht einmal 7 Stunden einmal die Erde umrundet.

In diesem Moment kann ich sie hören, diese kosmische Sinfonie. In diesem Augenblick bin ich Teil von ihr. Und ich kann meine Stimme begreifen als „eine Stimme in einem vielgestaltigen Orchester, (das) keinen wichtigeren Auftrag hat als die Feier des Lebens selbst“ (Bernie Krause). Dieser große, unendliche Gesang des Lebens wird mir in diesem Moment zum Lobgesang Gottes. Und meine Welt gerät zurück in die Fugen.

Pfarrer Klaus Pantle, Stuttgart

Literatur:

Made in Bangladesh. Das schmutzige Geschäft mit den Billigklamotten, Süddeutsche Zeitung 24. April 2014

Im Stich gelassen, Süddeutsche Zeitung Magazin vom 25. April 2014

Ingeborg Bachmann, Die wunderliche Musik, in: Über Musik, hg. von Eckart Kleßmann, Stuttgart 1986, S. 248

Johannes Reuchlin, in: Mark Andre, wunderzaichen, Programmheft der Staatsoper Stuttgart, Spielzeit 2014/15, S. 44

Wie im Himmel, Regie: Kay Pollack, Schweden 2004

Bernie Krause, Das große Orchester der Tiere. Vom Ursprung der Musik in der Natur, München 2013, S. 14 und 245

 

Perikope
18.05.2014
15,2-4