Die Wörterflut und das eine Wort des Lebens - Predigt zu Johannes 1,1-4;8-14 von Ralf Hoburg
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Die Wörterflut und das eine Wort des Lebens - Predigt zu Johannes 1,1-4;8-14 von Ralf Hoburg

Die Wörterflut und das eine Wort des Lebens

Wieder ist der Rummel vorbei. Die Lichterflut der Weihnachtsmärkte ist abgebaut und die Stromkabel sind verstaut. Die Welt ist abgeblendet und es ist endlich still. Jetzt, am zweiten Tag nach dem Heiligen Abend kann es Weihnachten werden. Am frühen Morgen des zweiten Weihnachtstages ist „stille Nacht“. Ich erinnere mich an meine Kinderweihnachten, als ich immer an den beiden Weihnachtstagen um 6.00 Uhr morgens wach wurde und im Schlafanzug ganz selbstvergessen in der Dunkelheit des Zimmers in die Welt meiner Kindergeschenke zwischen LEGO-Steinen und Fischer-Technik eingetaucht bin. Ohne Fernseher oder Computer war ich damals in einer Sphäre zwischen Himmel und Erde. „Zwischen den Zeiten“ erhielt Weihnachten plötzlich eine Ernsthaftigkeit und Tiefenwirkung für meine damalige Kinderseele. Ich vermute, dass dies auch heute – obwohl seltener geworden – bei manchen Kindern immer noch so ist. Während die meisten Menschen noch schlafen, schleiche ich mich heute heimlich an den einsamen Strand an einem geheim gehaltenen Ort an der Ostsee und genieße den Ausblick auf das Meer. Ruhig liegt es da und bietet Einblicke ins Jenseits. Bei Regen und Sturm, Wind und Wetter und weit weg von einer Kirche und ebenso weit weg vom Festtagsessen mit der Verwandtschaft und inmitten einer Menschenleere bekomme ich einen klaren Kopf und tropfen die unendlich vielen gesprochenen Worte dieses Jahres wie Regenperlen an mir ab. Und es bleiben mir nur manch wenige Sätze in Erinnerung. Es sind Worte, die durchgedrungen sind durch die Geschwätzigkeit des Alltags und hineingekommen sind in meine Seele.  Diese Worte machen dann Sinn im Leben und wollen interpretiert und gedeutet werden. Die Tage zwischen den Jahren sind für mich eine tief religiöse Zeit, da ich mich mehr als sonst mit mir selber beschäftigen kann. Ich gehe schon seit etlichen Jahren am Heilig Abend nicht mehr in den Gottesdienst. Alle, die sich dort engagieren, Pastorenschaft und die Chöre und vielen Ehrenamtlichen, bemühen sich ja sehr um die Aktualität der Weihnachtsbotschaft, aber außer einem kulturgeschichtlich tradierten Ritual ist für mich von „Heilig Abend“ wenig übriggeblieben. Die innere Leere des Weihnachtsfestes wurde mir schlagartig letzte Woche auf einer durch und durch säkularen Adventsfeier in einer Schule deutlich. Es war ein gewöhnliches Event mit Big Band und Chören, kaum ein Lied hatte etwas mit Weihnachten zu tun und das Einzige, was an Weihnachten erinnerte, war der Weihnachtsbaum in der Aula der Schule – und der ist wie wir wissen heidnischer Natur. Noch nicht einmal eine festliche Atmosphäre wurde transportiert und der nichtsagende Schuldirektor stand so verstohlen herum, als wäre ihm der Konfirmationsanzug zu klein geworden. Ich verstand plötzlich, was sich seit meiner Kinderzeit in unserer Gesellschaft verändert hat und warum mich Weihnachtsgottesdienste langweilen. Trotzdem sind sie für viele Menschen wichtig, um einmal im Jahr mit der Kirche in Verbindung zu treten. Aber am zweiten Weihnachtstag kommt für mich eine Ernsthaftigkeit zum Tragen, die über das eng geführt Christliche hinaus Bedeutung hat und das Weihnachtsgeschehen – obwohl christlichen Ursprungs – in eine allgemein religiöse Dimension weitet und die den Islam und das Judentum in die Feierlichkeiten mit einbeziehen kann ohne sie unter einem christlichen Deckmantel zu vereinnahmen. Der 2. Weihnachtsfeiertag sollte für mich zu einem Feiertag aller Religionen werden. Darin kann ich einen tieferen Sinn erkennen, weil die Religion in einer multireligiösen Gesellschaft durchaus einen Platz hat. In einer älteren Predigtmeditation fand ich den Satz: „In Städten finden sich mitunter am 2. Weihnachtsfeiertag Menschen zum Gottesdienst ein, die selten eine Kirche betreten, aber doch ahnen, dass das Fest mehr ‚hat‘, als der unruhige Heilig Abend…“

I)

                                       Ein Wort, das die Welt verändert hat…

Der Prolog aus dem Johannesevangelium, der als heutiger Predigttext in der ersten Perikopenreihe vorgesehen ist, gehört wohl neben der Schöpfungsgeschichte der Bibel zu den bekanntesten und kulturgeschichtlich wirkmächtigsten Texten. Und eine Verbindung zwischen der Schöpfungserzählung in 1. Mose 1 wird ja nun auch tatsächlich in dem Text hergestellt. Schon die hymnische Sprachform, die fast einen singbaren Rhythmus in sich trägt, konfrontiert den Lesenden und Hörenden mit einer über eine emotionale Getragenheit hinausgehenden tiefen Ernsthaftigkeit.  Schlagartig wird beim Lesen schon der ersten Worte klar: hier geht es um das Ganze, denn der Anfang der Welt birgt schon eine Totalität in sich. Diese Worte dringen durch und enthalten einen tiefen Sinn. So stellt sich Ehrfurcht und eine gewisse Scheu ein, sich dem Text zu nähern. Bis heute gilt es unter Bibelwissenschaftlern als Krönung der eigenen wissenschaftlichen Karriere und als eine Ehre, einen Kommentar zum Johannesevangelium schreiben zu dürfen. Große Bibelausleger wie der Neutestamentler Rudolf Bultmann haben einen Kommentar verfasst oder auch der Theologe Karl Barth. Und der Neutestamentler Ottfried Hofius schrieb: „Der Prolog des Johannesevangeliums Joh. 1,1-18 ist der beste und theologisch tiefste Kommentar zur Weihnachtsgeschichte.“ 

Und das ist so, obwohl keine einzige Silbe über das Weihnachtsgeschehen verloren wird und der Text weit weg ist von der Rührseligkeit der Geburtsgeschichte Jesu von Nazareth im Stall von Bethlehem. Aber es geht in dem Text um den Grundpfeiler nicht nur des Christentums, sondern vieler Religionen: Es geht um das Wirklichwerden des Göttlichen, wenn der Text universalistisch im Sinne einer Grundwahrheit zum Ausdruck bringt: „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh. 1,1) Dies erinnert an 1. Mose 1,1, wo es heißt: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ (1. Mose 1,1) Beide Sätze sind absolut und fordern ein Bekenntnis. Der Anfang der Welt ist ein Mysterium und ein Faszinosum für Astrophysiker und Wissenschaftler, die sich mit dem Urphänomen der Entstehung von Zeit, Raum und biologischem Leben befassen. Wahrscheinlich bildet die tiefe Ehrfurcht vor der Totalität der Weltentstehung den Grund, weshalb gerade Physiker sich als religiös bezeichnen und von Albert Einstein der Satz überliefert ist: „Gott würfelt nicht“.  Und dieser Gott des Wortes, der die Welt erschafft, besitzt eine tiefe Verwandtschaft zur Gottesvorstellung Allah‘s und dem jüdischen JHWH. In der Grundüberzeugung, dass die Welt erschaffen ist und dass es eine „Fundamentalunterscheidung“ (Ebeling) zwischen Gott und Mensch gibt, stimmen die Religionen überein. Das ist gerade an einem kulturgeschichtlich so sehr vom Christentum besetzten Fest wie Weihnachten mit dem Text aus dem Johannesevangelium ganz deutlich zu betonen.  

In den Versen Joh. 1,1-5 wird diese universalistische Schöpfungsreflexion weitergeführt. Dahinter steht die mythologische Vorstellung einer Erschaffung der Materie aus dem Wort. Diese philosophische Anschauung, hinter der die Auffassung einer die Wirklichkeit erschaffenden Macht des Wortes steht, hat die Philosophie und die Theologie des Abendlandes zutiefst geprägt. Welche Realität Worte erschaffen, kann man letztendlich gerade in einer durch die Medien geprägten Alltagswelt erkennen. Man muss nicht bis hinein in die legendäre Radioübertragung von Orson Wells gehen, die die Ankunft von Außerirdischen so realistisch beschrieb, dass Tausende Amerikanerinnen und Amerikaner aus ihren Häusern flüchteten. Dass Worte wirken und Realitäten erschaffen, lässt sich in der Mediengeschichte nicht nur einmal aufzeigen. Wahre Worte durchbrechen dann aber die Geschwätzigkeit der vielen Worte, die heute so gesprochen werden. Die Hohlheit der Worte wird für mich an Werbeslogans überdeutlich, die eben wenig Sinn oder gar keinen Lebenssinn machen und also „Nonsense“ darstellen. Ein Slogan hat mir in dieser Adventszeit des Jahres 2014 allerdings ausnehmend gut gefallen. Der Fernsehsender Bibel-TV plakatiert in S-Bahn und U-Bahnhaltestellen einen Satz: „Gott statt Schrott“. Das hat meine Aufmerksamkeit erregt. Darin wird der unendliche Wortschwall gebrandmarkt, der täglich als „Non-Sense“ durch die Sender wabert. Gleichzeitig wird erkennbar, dass Menschen sich nach dem einen Wort, das „Sinn“ macht und das Tiefe hat und zugleich Ernsthaftigkeit transportiert, sehnen.

II)

Das Wort in den Wörtern

Dieses Wort, das Sinn macht und auch Wirkung zeigt, ist das Wort, das mit Gott gleichgesetzt wird. Eine dieser Wirkungen, die von diesem Wort ausgehen, besteht in seiner „Heilwirkung“ oder man kann auch aus theologischer Sicht sagen: In der Wirkung der Versöhnung. Dies klingt etwa in dem Vers Joh. 1,5 an, wo es heißt: „Und das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.“ In Vers 11 wird diese ablehnende Haltung der Welt noch einmal bekräftigt: „Er kam in sein Eigentum und die Seinen nahmen ihn nicht auf“. Der Text spricht also die Erkenntnis von der Versöhnung und seiner Ablehnung aus: „In ihm war das Leben“, aber die Welt erkannte ihn nicht. Und in einer anderen Metapher heißt es: „Das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet.“ (V. 9) Das Wort, das Licht oder Gott selbst ist also die Errettung und die Erlösung. Mit dieser Wort- und Bedeutungskette wird die weihnachtliche Aussage transportiert: Gott selbst ist in der Welt als ihr Schöpfer anwesend. Obwohl hier Unterscheidendes und Trennendes zwischen den Religionen liegt, wird dennoch deutlich: Es geht um Erlösung und Versöhnung – auch im Judentum und im Islam. Die Wege dorthin unterscheiden sich indes.       

Vielleicht ist es wohl am angemessensten im Angesicht der Getragenheit und Tiefe des Textes, der hymnischen Sprache in der Form eines Liedes zu begegnen. Der Reformator Martin Luther hat in einem seiner ersten Kirchenlieder im Jahr 1524 eine mittelalterliche Melodie mit einem Text versehen und „verdichtet“ in dem Lied „Gelobet seist Du Jesu Christ, dass Du Mensch geworden bist…“ (EG Nr. 23) den Johannesprolog. Dort heißt es in Strophe 4:

„Das ewig Licht geht da herein,/
Gibt der Welt ein‘ neuen Schein,/
Es leucht‘ wohl mitten in der Nacht/
Und uns des Lichtes Kinder macht./
Kyrieleis“

In der christlichen Tradition bildet die Offenbarung den Grundpfeiler theologischen Verstehens. Im Zentrum des Prologes im Johannesevangelium steht genau dieser Gedanke, dass Gott oder das „Wort“ Fleisch wurde und auf der Erde wohnte. (Joh. 1,14) In diesem Vers ist die Theologie des Christentums im Kern enthalten. In der Alten Kirche stritt man um die Art und Weise dieser Menschwerdung. Die Vorstellung, dass Gott selbst auf die Erde kommt und Mensch wird, ist im Kontext antiker Religionen fremd und auch heute streiten sich die Religionen über das Faktum der Offenbarung. Dass Gott Mensch wird, aber vor allem die Tatsache, dass Gott dann auch als Mensch „stirbt“,  ist eine Provokation für die antiken Religionen. So half man sich durchaus mit der Vorstellung, dass Gott ja nur auf der Welt „wohnte“ und Martin Luther dichtet:

Der Sohn des Vaters, Gott von Art,/
Ein Gast in der Welt hier ward/
Und führt uns aus dem Jammertal,/
Macht uns zu Erben in seim Saal./
Kyrieleis

Mit diesem einen Wort durchbricht Gott den Zusammenhang der unendlich vielen Wörter in der Welt. Hier ist Tiefenwirkung erreicht und wenn dieses Wort „zwischen den Zeiten“ am zweiten Weihnachtsfeiertag zu Gehör kommt, dann stellt sich die Ernsthaftigkeit von alleine ein, die wir – mit Recht – in der Erinnerung des Weihnachtsgeschehens erhoffen, erwarten und oftmals nicht erfahren.  

Der Sohn Gottes ist – so der Tenor des Johannesprologs – das Wort in den Wörtern. Er ist die eine Offenbarung Gottes und zugleich identisch mit Gott. Martin Luther interpretiert aus dem Text ganz deutlich: Der Sohn ist „Gott von Art“ und er greift damit auf die Zwei-Naturen-Lehre zurück. Das Johannes-Evangelium spricht im Übrigen erst in Joh. 1,17 davon, dass mit dem, was beschrieben wurde, Jesus Christus gemeint ist. So öffnet sich der Vorhang nur langsam und bleibt ein Rest des Geheimnisses. 

III)

Von Wörtern und Wirkungen

Worte haben Wirkungen. Diese allgemeine Erkenntnis gilt aus meiner Sicht um so mehr für das Wort der Offenbarung. Diese Offenbarung, wie sie im Johannesevangelium beschrieben wird, hat im christlichen Verständnis einen Endgültigkeitscharakter, aber vor allem: sie hat auch ein Ziel. In den letzten beiden Strophen drückt Luther dies in seinem Lied aus:

Er ist auf Erden kommen arm,/
Dass er unser sich erbarm/
Und in dem Himmel mache rein/
Und seinen lieben Engeln
  
Das hat er alles uns getan,/
Sein groß Lieb zu zeigen an./
Des freu sich alle Christenheit/
Und dank ihm des in Ewigkeit./
Kyrieleis

Es geht also in dem Geschehen der Offenbarung und der Menschwerdung Gottes um die Gnade. Und diese Gnade wird beschrieben als Akt der Liebe. Es ist eine Liebe, die von Gott ausgeht und die die Herzen der Menschen in der Tiefe erfasst. Jesus Christus war und ist diese Liebe in Person. Er verdeutlicht, dass wir in unserem irdischen Leben angewiesen sind: auf den Nächsten, auf Zuwendung, auf Anerkennung und Respekt. Auf diese Weise werden die Menschen zu Gottes Kindern. (Joh. 1,12) Und diese Erkenntnis gilt im Christentum wie auch im Judentum und Islam. Weihnachten weitet sich demnach mit dem Johannesevangelium zu einer Doppelbotschaft:

Gott wird im Wort geboren und wir Menschen sind Gottes Kinder, weil er uns in seinem Wort zu solchen annimmt. Mit diesen Worten kann man doch im Leben was anfangen. Es geht ans Herz, es hat eine Tiefenwirkung und ist dem unendlichen Geschwätz der wabernden Gesichter in den Talkshows und dem unerträglichen Lärm oder säuselnden Gesinge in Kaufhäusern überlegen. Das Wort des Johannesevangeliums macht still und ehrfürchtig, weil es die Seele erfasst; es erträgt nicht das gleißende Neonlicht der Einkaufpassagen und will in der Ruhe des 2. Weihnachtstages andächtig gelesen, meditiert und verstanden werden. Weil das so ist, begebe ich zum Lesen und Verstehen dieses Textes in die „stille Nacht“ – für mich ist das der frühe Morgen der Festtage – an einen Ort, der „nicht gefunden werden kann außer man weiß wo er ist“ wie es Captain Jack Sparrow im Film „Fluch der Karibik I“ sagt.   

Aber um eines möchte ich sie dann bitten: Bleiben sie im nächsten Jahr dort, wo sie sind und kommen sie nun nicht auf die Idee, die Ostsee aufzusuchen. Denn denken Sie daran: Am zweiten Weihnachtstag stehe ich irgendwo am Strand an der Ostsee und suche das Wort in den Wörtern. Dabei möchte ich nicht gestört werden. Hoffentlich finden Sie das Wort der Wörter dann in einem Gottesdienst in der Kirche. Zu wünschen ist es Ihnen.