"Die Worte und das eine Wort" - Predigt über Jesaja 55, 10-12a von Martin Schewe
55,10
Die Worte und das eine Wort
Wir hören eine Stelle aus dem Buch Jesaja, liebe Gemeinde. An dieser Stelle spricht Gott, und zwar von seinem eigenen Wort. Gottes Wort redet über sich selbst. Die Stelle aus dem Buch Jesaja handelt davon, wie Gott spricht und warum das, was er sagt, wichtig ist. Gott sagt: „Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden.“
(1) Wer sich im Fußball auskennt, liebe Gemeinde, weiß: Schiedsrichterentscheidungen sind Tatsachenentscheidungen. Wenn der Schiedsrichter sagt: „Tor“, dann zählt das Tor, auch wenn sich in der Zeitlupe herausstellt, dass der Ball nicht hinter der Linie war. Nur ausnahmsweise wird eine Fehlentscheidung nachträglich korrigiert – wenn etwa ein Spieler das Foul gar nicht begangen hat, für das er vom Platz gestellt wurde. Der Spieler wird dann nicht für die nächsten Spiele gesperrt. Trotzdem muss er zunächst den Platz verlassen, weil der Schiedsrichter es verlangt. Denn Schiedsrichterentscheidungen sind Tatsachenentscheidungen. Sonst würde das Fußballspiel nicht funktionieren. Was der Schiedsrichter sagt, gilt.
Ein anderes Beispiel. Vor der Standesbeamtin sitzt ein Brautpaar. Die Standesbeamtin fragt erst den Bräutigam, dann die Braut, ob sie einander heiraten wollen, und beide antworten Ja. Daraufhin erklärt sie die Standesbeamtin zum Ehepaar – weil die beiden Ja gesagt haben, egal was sie sich dabei gedacht haben und ob sie zueinander passen oder nicht. Selbst wenn das Ja nicht ernst gemeint ist – es gilt, was das Brautpaar sagt.
Drittes Beispiel: die Straßenverkehrsordnung. Darin heißt es, dass man auf der rechten Straßenseite fährt. Auf den ersten Blick scheint das zwar nicht zu stimmen. Wer in Gütersloh auf dem Fahrrad unterwegs ist, kann ein Lied davon singen, dass er ständig anderen Radfahrern begegnet, die links fahren. So geht es offenbar auch, obwohl es gefährlich ist. Aber so ist die Straßenverkehrsordnung natürlich nicht gemeint. Dort steht nicht, was die Gütersloher Fahrradfahrer tun, sondern was sie tun sollen: dass man eben nicht links fahren darf und Strafe bezahlen muss, wenn man dabei erwischt wird. Wieder etwas, was gilt, weil es jemand sagt, nämlich ein Gesetz.
Die drei Beispiele haben eins gemeinsam: Sie zeigen, wie wir mit Worten etwas tun. Die Worte beschreiben die Tatsachen nicht nur. Sie schaffen Tatsachen. Das Wort des Schiedsrichters, der „Tor“ sagt, macht das Tor zum Tor. Durch das Ja vor der Standesbeamtin wird das Brautpaar zum Ehepaar. Das Rechtsfahrgebot legt fest, wo wir zu fahren haben. Der Schiedsrichter kann auch pfeifen und auf den Anstoßpunkt deuten. Das bedeutet dasselbe wie das Wort „Tor“. Der Schiedsrichter sagt es dann in Zeichensprache. Das Ja im Standesamt kommt zur Eheschließung nicht hinzu und bestätigt sie nicht bloß. Die Eheschließung besteht in dem Wort Ja. Und das Rechtsfahrgebot steht in einem Text, den Verkehrsregeln. Die englischen Verkehrsregeln sagen etwas anderes. Deshalb muss man in England links fahren – auch dort aufgrund von Worten, die jemand gesagt oder aufgeschrieben hat.
Nicht jeder kann diese Worte sagen. Wir machen nicht jeder seine eigenen Verkehrsregeln. Wenn zwei Kinder Hochzeit spielen und einander die Ehe versprechen, sind sie nicht wirklich verheiratet; und ein Schiedsrichter, der seine Entscheidungen nach Lust und Laune fällt, wird nicht lange Schiedsrichter bleiben. Wenn jedoch die Umstände stimmen, haben die Worte, die in den drei Beispielen gesprochen oder geschrieben werden, Bestand und Konsequenzen. Die Worte bewirken etwas. Wir benutzen sie wie unsere Hände oder ein Werkzeug. Andere Beispiele sind Grüße und Gratulationen, Beleidigungen und Entschuldigungen. Wenn jemand „Guten Morgen“ sagt oder „Herzlichen Glückwunsch“, ist das bereits der gute Wunsch; und wer einen anderen beleidigt, tut ihm nicht erstens etwas Böses und fasst es zweitens außerdem in Worte. Das Böse steckt in den Worten. Ähnlich bei einer Entschuldigung: Es kommt darauf an, was wir sagen, und in diesem Fall auch, wie wir es sagen.
Worte bewirken sogar da etwas, wo sie die Tatsachen scheinbar nur wiedergeben. Wenn ich jemandem den Weg beschreibe, mache ich den Weg nicht. Der Weg ist schon da. Aber meine Beschreibung sorgt dafür, dass der andere ihn findet – oder vielleicht auch nicht. Manchmal ist den Worten selbst nicht anzusehen, welche Aufgabe sie erfüllen. Dann macht es die Situation klar, in der sie gesprochen werden. Der Hundebesitzer, der mir sagt: „Dieser Hund ist bissig“, warnt mich, näher zu kommen. Der Tierhändler, der sagt: „Dieser Hund ist bissig“, will ihn mir als Wachhund empfehlen.
(2) Mit Worten können wir etwas tun. Der Sprecher spricht nicht nur, sondern handelt zugleich. Das gilt erst recht, wenn der Sprecher Gott ist. Auch seine Worte haben Konsequenzen, und was für welche. Es genügt, dass Gott spricht. Im Buch Jesaja sagt er: „Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.“
Das Erste, was Gott in der Bibel tut, ist sprechen. „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, erzählt das erste Kapitel im ersten Buch Mose. „Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.“ So geht es weiter, das ganze Kapitel hindurch. Gott befiehlt, und was er befiehlt, geschieht. Es entstehen der Himmel, Land und Meer, Pflanzen und Bäume, Sonne, Mond und Sterne, die Tiere und schließlich der Mensch – alles weil Gott es sagt. Die Schöpfung geht aus seinem Wort hervor.
Mit dem Volk Israel schließt Gott einen Bund und gibt ihm die Tora, die Weisungen, denen die Israeliten folgen sollen. Wenn sie das tun, fügt Gott hinzu, werden sie leben. Die Tora besteht also aus Worten, die lebendig machen – weil sie sagen, was ein erfülltes Leben ausmacht, was richtig und falsch ist, was sich lohnt und was nicht, was Hoffnung gibt und worauf Verlass ist. Gottes Weisungen gleichen damit nicht nur den Verkehrsregeln, an die wir uns halten müssen, um nicht unter die Räder zu kommen. Sie gleichen auch der Wegbeschreibung, von der wir festgestellt haben, dass sie den Weg nicht bloß beschreibt, sondern zugleich dafür sorgt, dass wir zum Ziel kommen. Gottes Wort zeigt uns das Ziel und führt uns hin.
Gottes Wort spricht uns frei. Das verbindet Gott mit dem Schiedsrichter. Was der entscheidet, gilt. Genauso wenn Gott über uns entscheidet. Weil Gott sagt: „Ihr seid mir recht“, brauchen wir uns seine Güte nicht erst zu verdienen und müssen uns nicht davor fürchten, dass er uns auf unsere Fehler festlegt. Gott kennt unsere Fehler, und sie gefallen ihm nicht. Aber wir gefallen ihm. Gott unterscheidet zwischen uns und dem, was wir leisten, und verurteilt uns nicht, wenn wir nichts leisten. Stattdessen ernennt er uns zu seinen Kindern. Das genügt, damit wir wirklich Gottes Kinder sind. Sein Wort tut, was es sagt.
Und es verspricht uns mehr. „Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden“, fährt Gott im Buch Jesaja fort. Und weiter: „Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen. Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln.“ Im Buch Jesaja redet Gott mit seinem Volk Israel und verspricht ihm eine große Zukunft. Weil sein Wort auch uns zu Gottes Kindern gemacht hat, geht uns auch das Versprechen etwas an. Er wird ein Wunder tun, verspricht Gott. Die Schöpfung wird neu – eine Welt, in der sich alle freuen. Darauf können wir Gott festlegen. Er selber legt sich darauf fest. Denn was man verspricht, muss man halten.
Manchmal ist es ein Mensch, der redet, und trotzdem redet Gott. „Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“, sagt die Pfarrerin oder der Pfarrer und nimmt den Täufling damit in die Kirche auf. Die Pfarrerin oder der Pfarrer kann das nicht von sich aus, oder weil es in der Kirchenordnung steht. Gott hat den Auftrag dazu gegeben. Er selbst nimmt den Täufling auf – in die „Gemeinschaft der Heiligen“. So erklärt das Glaubensbekenntnis, was die Kirche ist: Sie besteht aus lauter Menschen, die Gott heilig sind. Wer getauft ist, gehört dazu – weil Gott es sagt. Die Pfarrerin oder der Pfarrer sagt es nur weiter: in Gottes Namen, dem Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Am Ende des Gottesdienstes werde ich Sie segnen, liebe Gemeinde. Sie sind dann gesegnet, aber nicht nur von mir. Auch im Segen kommt Gott zu Wort. Er selbst segnet Sie, sagt Ihnen seine Nähe zu und seinen Beistand, stärkt, beschützt und tröstet Sie.
(3) Gottes Wort: Die Bibel wird so genannt. Das stimmt, obwohl Gott die Bibel nicht geschrieben hat. Das waren Menschen, in einer vergangenen Zeit und mit den Vorstellungen ihrer Zeit. Einiges davon ist uns inzwischen fremd geworden, aber andere Vorstellungen als die ihrer Zeit konnten die Verfasser der Bibel schlecht haben. Wir ja auch nicht. Wenn wir die Bibel zu schreiben versuchten, klänge sie daher im Einzelnen anders. Nur dass wir die Bibel gar nicht schreiben könnten, wenn wir sie nicht schon hätten. Was wir von Gott wissen, wissen wir aus ihr. Die fremden Vorstellungen brauchen uns nicht zu beunruhigen. Im entscheidenden Punkt sind wir nicht klüger als die Menschen damals. Denn die Bibel bringt uns Gott nahe. Das genügt. Das geht nicht besser. Auch die Bibel ist Gottes Wort, weil sie tut, was Gott sagt. „Ich will für euch da sein“, sagt er. In der Bibel ist er tatsächlich da: in den Schöpfungserzählungen, die zeigen, wie gut es Gott mit uns meint, in seinen Weisungen für ein erfülltes Leben, seinem Freispruch „Ihr seid mir recht“, seinem Versprechen, die Welt neu zu machen. Überall da finden wir Gott, oder vielmehr: Er findet uns. Auf jeder Seite der Bibel redet er und handelt er.
Für uns Christinnen und Christen besonders in Jesus Christus. Auch er begegnet uns in der Bibel und bringt uns Gott nahe. Auch den Menschen Jesus Christus nennt das Neue Testament Gottes Wort und meint damit, dass in diesem Menschen Gott selber einer von uns wird und zu uns spricht. Gott selber stirbt, wie wir sterben, damit wir mit ihm leben. So sagt uns Gott, wie viel wir ihm bedeuten. Als sich im Jahr 1934 in Deutschland die Bekennende Kirche gründete, um dem Nationalsozialismus etwas entgegenzusetzen, stellte sie daher an den Anfang ihrer Barmer Theologischen Erklärung den Satz: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ Das eine Wort Gottes, weil Jesus Christus uns Gottes Liebe zusagt. Jede Liebeserklärung verändert die Welt. Sie lässt uns die Welt neu sehen. Gottes menschgewordene Liebeserklärung setzt alles ins richtige Licht. Von Jesus Christus erfahren wir Christinnen und Christen, warum es die Welt und uns Menschen überhaupt gibt: weil Gott viel mit uns vorhat.
(4) Schiedsrichterentscheidungen sind Tatsachenentscheidungen. Damit haben wir begonnen, liebe Gemeinde, und schnell gemerkt, was es mit unseren Worten auf sich hat. Reden ist nicht nur reden, haben wir gemerkt. Wer etwas sagt, handelt zugleich. Seine Worte schaffen Tatsachen. Geendet haben wir damit, wie gut es ist, dass Gott mit uns spricht und Tatsachen schafft. Gott spricht in der Bibel und in Jesus Christus. Auf sein Wort können wir uns verlassen. Im Buch Jesaja redet es über sich selbst. Gott sagt: „Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden.“
(Hinweis: Besonders im ersten Teil der Predigt stütze ich mich auf die Sprechakttheorie von John L. Austin und beziehe mich vor allem auf den Vortrag „Performative Äußerungen“ [John L. Austin, Gesammelte philosophische Aufsätze, übersetzt und herausgegeben von Joachim Schulte, Stuttgart 1986, S.305-327].)
Wir hören eine Stelle aus dem Buch Jesaja, liebe Gemeinde. An dieser Stelle spricht Gott, und zwar von seinem eigenen Wort. Gottes Wort redet über sich selbst. Die Stelle aus dem Buch Jesaja handelt davon, wie Gott spricht und warum das, was er sagt, wichtig ist. Gott sagt: „Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden.“
(1) Wer sich im Fußball auskennt, liebe Gemeinde, weiß: Schiedsrichterentscheidungen sind Tatsachenentscheidungen. Wenn der Schiedsrichter sagt: „Tor“, dann zählt das Tor, auch wenn sich in der Zeitlupe herausstellt, dass der Ball nicht hinter der Linie war. Nur ausnahmsweise wird eine Fehlentscheidung nachträglich korrigiert – wenn etwa ein Spieler das Foul gar nicht begangen hat, für das er vom Platz gestellt wurde. Der Spieler wird dann nicht für die nächsten Spiele gesperrt. Trotzdem muss er zunächst den Platz verlassen, weil der Schiedsrichter es verlangt. Denn Schiedsrichterentscheidungen sind Tatsachenentscheidungen. Sonst würde das Fußballspiel nicht funktionieren. Was der Schiedsrichter sagt, gilt.
Ein anderes Beispiel. Vor der Standesbeamtin sitzt ein Brautpaar. Die Standesbeamtin fragt erst den Bräutigam, dann die Braut, ob sie einander heiraten wollen, und beide antworten Ja. Daraufhin erklärt sie die Standesbeamtin zum Ehepaar – weil die beiden Ja gesagt haben, egal was sie sich dabei gedacht haben und ob sie zueinander passen oder nicht. Selbst wenn das Ja nicht ernst gemeint ist – es gilt, was das Brautpaar sagt.
Drittes Beispiel: die Straßenverkehrsordnung. Darin heißt es, dass man auf der rechten Straßenseite fährt. Auf den ersten Blick scheint das zwar nicht zu stimmen. Wer in Gütersloh auf dem Fahrrad unterwegs ist, kann ein Lied davon singen, dass er ständig anderen Radfahrern begegnet, die links fahren. So geht es offenbar auch, obwohl es gefährlich ist. Aber so ist die Straßenverkehrsordnung natürlich nicht gemeint. Dort steht nicht, was die Gütersloher Fahrradfahrer tun, sondern was sie tun sollen: dass man eben nicht links fahren darf und Strafe bezahlen muss, wenn man dabei erwischt wird. Wieder etwas, was gilt, weil es jemand sagt, nämlich ein Gesetz.
Die drei Beispiele haben eins gemeinsam: Sie zeigen, wie wir mit Worten etwas tun. Die Worte beschreiben die Tatsachen nicht nur. Sie schaffen Tatsachen. Das Wort des Schiedsrichters, der „Tor“ sagt, macht das Tor zum Tor. Durch das Ja vor der Standesbeamtin wird das Brautpaar zum Ehepaar. Das Rechtsfahrgebot legt fest, wo wir zu fahren haben. Der Schiedsrichter kann auch pfeifen und auf den Anstoßpunkt deuten. Das bedeutet dasselbe wie das Wort „Tor“. Der Schiedsrichter sagt es dann in Zeichensprache. Das Ja im Standesamt kommt zur Eheschließung nicht hinzu und bestätigt sie nicht bloß. Die Eheschließung besteht in dem Wort Ja. Und das Rechtsfahrgebot steht in einem Text, den Verkehrsregeln. Die englischen Verkehrsregeln sagen etwas anderes. Deshalb muss man in England links fahren – auch dort aufgrund von Worten, die jemand gesagt oder aufgeschrieben hat.
Nicht jeder kann diese Worte sagen. Wir machen nicht jeder seine eigenen Verkehrsregeln. Wenn zwei Kinder Hochzeit spielen und einander die Ehe versprechen, sind sie nicht wirklich verheiratet; und ein Schiedsrichter, der seine Entscheidungen nach Lust und Laune fällt, wird nicht lange Schiedsrichter bleiben. Wenn jedoch die Umstände stimmen, haben die Worte, die in den drei Beispielen gesprochen oder geschrieben werden, Bestand und Konsequenzen. Die Worte bewirken etwas. Wir benutzen sie wie unsere Hände oder ein Werkzeug. Andere Beispiele sind Grüße und Gratulationen, Beleidigungen und Entschuldigungen. Wenn jemand „Guten Morgen“ sagt oder „Herzlichen Glückwunsch“, ist das bereits der gute Wunsch; und wer einen anderen beleidigt, tut ihm nicht erstens etwas Böses und fasst es zweitens außerdem in Worte. Das Böse steckt in den Worten. Ähnlich bei einer Entschuldigung: Es kommt darauf an, was wir sagen, und in diesem Fall auch, wie wir es sagen.
Worte bewirken sogar da etwas, wo sie die Tatsachen scheinbar nur wiedergeben. Wenn ich jemandem den Weg beschreibe, mache ich den Weg nicht. Der Weg ist schon da. Aber meine Beschreibung sorgt dafür, dass der andere ihn findet – oder vielleicht auch nicht. Manchmal ist den Worten selbst nicht anzusehen, welche Aufgabe sie erfüllen. Dann macht es die Situation klar, in der sie gesprochen werden. Der Hundebesitzer, der mir sagt: „Dieser Hund ist bissig“, warnt mich, näher zu kommen. Der Tierhändler, der sagt: „Dieser Hund ist bissig“, will ihn mir als Wachhund empfehlen.
(2) Mit Worten können wir etwas tun. Der Sprecher spricht nicht nur, sondern handelt zugleich. Das gilt erst recht, wenn der Sprecher Gott ist. Auch seine Worte haben Konsequenzen, und was für welche. Es genügt, dass Gott spricht. Im Buch Jesaja sagt er: „Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.“
Das Erste, was Gott in der Bibel tut, ist sprechen. „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, erzählt das erste Kapitel im ersten Buch Mose. „Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.“ So geht es weiter, das ganze Kapitel hindurch. Gott befiehlt, und was er befiehlt, geschieht. Es entstehen der Himmel, Land und Meer, Pflanzen und Bäume, Sonne, Mond und Sterne, die Tiere und schließlich der Mensch – alles weil Gott es sagt. Die Schöpfung geht aus seinem Wort hervor.
Mit dem Volk Israel schließt Gott einen Bund und gibt ihm die Tora, die Weisungen, denen die Israeliten folgen sollen. Wenn sie das tun, fügt Gott hinzu, werden sie leben. Die Tora besteht also aus Worten, die lebendig machen – weil sie sagen, was ein erfülltes Leben ausmacht, was richtig und falsch ist, was sich lohnt und was nicht, was Hoffnung gibt und worauf Verlass ist. Gottes Weisungen gleichen damit nicht nur den Verkehrsregeln, an die wir uns halten müssen, um nicht unter die Räder zu kommen. Sie gleichen auch der Wegbeschreibung, von der wir festgestellt haben, dass sie den Weg nicht bloß beschreibt, sondern zugleich dafür sorgt, dass wir zum Ziel kommen. Gottes Wort zeigt uns das Ziel und führt uns hin.
Gottes Wort spricht uns frei. Das verbindet Gott mit dem Schiedsrichter. Was der entscheidet, gilt. Genauso wenn Gott über uns entscheidet. Weil Gott sagt: „Ihr seid mir recht“, brauchen wir uns seine Güte nicht erst zu verdienen und müssen uns nicht davor fürchten, dass er uns auf unsere Fehler festlegt. Gott kennt unsere Fehler, und sie gefallen ihm nicht. Aber wir gefallen ihm. Gott unterscheidet zwischen uns und dem, was wir leisten, und verurteilt uns nicht, wenn wir nichts leisten. Stattdessen ernennt er uns zu seinen Kindern. Das genügt, damit wir wirklich Gottes Kinder sind. Sein Wort tut, was es sagt.
Und es verspricht uns mehr. „Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden“, fährt Gott im Buch Jesaja fort. Und weiter: „Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen. Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln.“ Im Buch Jesaja redet Gott mit seinem Volk Israel und verspricht ihm eine große Zukunft. Weil sein Wort auch uns zu Gottes Kindern gemacht hat, geht uns auch das Versprechen etwas an. Er wird ein Wunder tun, verspricht Gott. Die Schöpfung wird neu – eine Welt, in der sich alle freuen. Darauf können wir Gott festlegen. Er selber legt sich darauf fest. Denn was man verspricht, muss man halten.
Manchmal ist es ein Mensch, der redet, und trotzdem redet Gott. „Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“, sagt die Pfarrerin oder der Pfarrer und nimmt den Täufling damit in die Kirche auf. Die Pfarrerin oder der Pfarrer kann das nicht von sich aus, oder weil es in der Kirchenordnung steht. Gott hat den Auftrag dazu gegeben. Er selbst nimmt den Täufling auf – in die „Gemeinschaft der Heiligen“. So erklärt das Glaubensbekenntnis, was die Kirche ist: Sie besteht aus lauter Menschen, die Gott heilig sind. Wer getauft ist, gehört dazu – weil Gott es sagt. Die Pfarrerin oder der Pfarrer sagt es nur weiter: in Gottes Namen, dem Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Am Ende des Gottesdienstes werde ich Sie segnen, liebe Gemeinde. Sie sind dann gesegnet, aber nicht nur von mir. Auch im Segen kommt Gott zu Wort. Er selbst segnet Sie, sagt Ihnen seine Nähe zu und seinen Beistand, stärkt, beschützt und tröstet Sie.
(3) Gottes Wort: Die Bibel wird so genannt. Das stimmt, obwohl Gott die Bibel nicht geschrieben hat. Das waren Menschen, in einer vergangenen Zeit und mit den Vorstellungen ihrer Zeit. Einiges davon ist uns inzwischen fremd geworden, aber andere Vorstellungen als die ihrer Zeit konnten die Verfasser der Bibel schlecht haben. Wir ja auch nicht. Wenn wir die Bibel zu schreiben versuchten, klänge sie daher im Einzelnen anders. Nur dass wir die Bibel gar nicht schreiben könnten, wenn wir sie nicht schon hätten. Was wir von Gott wissen, wissen wir aus ihr. Die fremden Vorstellungen brauchen uns nicht zu beunruhigen. Im entscheidenden Punkt sind wir nicht klüger als die Menschen damals. Denn die Bibel bringt uns Gott nahe. Das genügt. Das geht nicht besser. Auch die Bibel ist Gottes Wort, weil sie tut, was Gott sagt. „Ich will für euch da sein“, sagt er. In der Bibel ist er tatsächlich da: in den Schöpfungserzählungen, die zeigen, wie gut es Gott mit uns meint, in seinen Weisungen für ein erfülltes Leben, seinem Freispruch „Ihr seid mir recht“, seinem Versprechen, die Welt neu zu machen. Überall da finden wir Gott, oder vielmehr: Er findet uns. Auf jeder Seite der Bibel redet er und handelt er.
Für uns Christinnen und Christen besonders in Jesus Christus. Auch er begegnet uns in der Bibel und bringt uns Gott nahe. Auch den Menschen Jesus Christus nennt das Neue Testament Gottes Wort und meint damit, dass in diesem Menschen Gott selber einer von uns wird und zu uns spricht. Gott selber stirbt, wie wir sterben, damit wir mit ihm leben. So sagt uns Gott, wie viel wir ihm bedeuten. Als sich im Jahr 1934 in Deutschland die Bekennende Kirche gründete, um dem Nationalsozialismus etwas entgegenzusetzen, stellte sie daher an den Anfang ihrer Barmer Theologischen Erklärung den Satz: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ Das eine Wort Gottes, weil Jesus Christus uns Gottes Liebe zusagt. Jede Liebeserklärung verändert die Welt. Sie lässt uns die Welt neu sehen. Gottes menschgewordene Liebeserklärung setzt alles ins richtige Licht. Von Jesus Christus erfahren wir Christinnen und Christen, warum es die Welt und uns Menschen überhaupt gibt: weil Gott viel mit uns vorhat.
(4) Schiedsrichterentscheidungen sind Tatsachenentscheidungen. Damit haben wir begonnen, liebe Gemeinde, und schnell gemerkt, was es mit unseren Worten auf sich hat. Reden ist nicht nur reden, haben wir gemerkt. Wer etwas sagt, handelt zugleich. Seine Worte schaffen Tatsachen. Geendet haben wir damit, wie gut es ist, dass Gott mit uns spricht und Tatsachen schafft. Gott spricht in der Bibel und in Jesus Christus. Auf sein Wort können wir uns verlassen. Im Buch Jesaja redet es über sich selbst. Gott sagt: „Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden.“
(Hinweis: Besonders im ersten Teil der Predigt stütze ich mich auf die Sprechakttheorie von John L. Austin und beziehe mich vor allem auf den Vortrag „Performative Äußerungen“ [John L. Austin, Gesammelte philosophische Aufsätze, übersetzt und herausgegeben von Joachim Schulte, Stuttgart 1986, S.305-327].)
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