"Die Zeichen der Zeit", Predigt zu Jesaja 7, 10-14 von Gunda Schneider-Flume
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"Die Zeichen der Zeit", Predigt zu Jesaja 7, 10-14 von Gunda Schneider-Flume

Die Zeichen der Zeit
Liebe Gemeinde
Auf dem Weg zur Weihnachtskirche waren die Zeichen der Zeit zu sehen: Lichter über Lichter, strahlende Weihnachtsbäume, glänzende Sterne,  Helligkeit überall. Zeichen müssen gedeutet werden. Sind es Werbesignale, die zum Verkauf reizen? Oder erleuchten sie die Stadt zum Fest? Es gilt wohl beides. Es kann gar nicht festlich genug leuchten zum Weihnachtsfest bis in alle Winkel unserer Stadt, bis dahin, wo es gar nicht hell werden will. Über dem Strahlen kommen Erinnerungen an den ersten Weihnachtsbaum der Kindheit auf, an das erste erlebte Christfest. Auf einer Bank im Bahnhof saß eine Frau und lauschte den alten Weihnachtsliedern. Tränen rollten über ihr Gesicht. „War das schön“, seufzte sie. Voller Sehnsucht mag man an das Paradies der Kindheit denken, da man unbefangen auf Geschenke hoffte und sich daran freute. Weihnachten und Kindheit, Freude und Erwartung gehören zusammen. Vielleicht steigt die Erinnerung an die Klarheit auf, die nach der Erzählung die Engel, die die himmlische Botschaft von der Geburt des Kindes überbrachten, umleuchtete. Licht, Leben, Freude, Zeichen für alle Welt und alle Zeit innerhalb der Weihnachtskirche, draußen auf den Straßen und in der Dunkelheit.
Andere Zeichen umgeben uns täglich und stündlich und verdrängen Erinnerung und Sehnsucht, Erwartung und Freude. Seit Monaten beherrscht die Rede von Krisen die öffentliche Diskussion. Krisen über Krisen in Wirtschaft, Banken, Staaten, öffentlichen und privaten Haushalten. Ganze Staaten verarmen und ihren Bürgern wird die finanzielle Sicherung entzogen, während einige wenige mit Milliardenbeträgen davonkommen. Auch das sind Zeichen der Zeit. Und es kommen noch mehr dazu: Nachrichten aus Regionen, in denen Menschen unterdrückt, gefoltert, getötet werden. Zeichen der Zeit: Hunger, Krieg, Verwüstung, Terror im eigenen Land. Die Zeichen der Zeit stehen im Widerstreit. Welche werden sich durchsetzen?
Die Zeichen der Krise, die die Börsen der Welt ausstrahlen, sind deutlich. Das ist eine andere Klarheit. Sie beherrscht die Politik und viele Menschen. Sie fordert alle Anstrengung, alle Konzentration und alle Zeit. Beherrscht von den Zeichen der aktuellen Situation können Menschen die Zeichen der Weihnachtszeit oft gar nicht wahrnehmen. Jetzt nicht! Es gelten nur Hektik, Aktionen und Angst, ob man die Krisen bewältigen kann. Ein anderes Zeichen würde nur verwirren und die zurzeit ganz wichtigen Aufgaben stören. Ein Fest wäre jetzt unerwünschte Unterbrechung. Es würde die Orientierung durcheinanderbringen. Man kann jetzt keine anderen Zeichen brauchen.
Aber die Zeichen der Weihnachtszeit lassen sich nicht verschieben, auch wenn wir sie gerade nicht wünschen, ja, auch wenn sie uns stören. War es nicht auch damals so: Es begab sich zur Zeit der römischen Besatzung unter Kaiser Augustus unter dem römischen Beamten Quirinius, dass das Kind geboren wurde, von dem die Engel große Freude verkündeten? Unter bedrückender Fremdherrschaft wurde der Messias, der als Friedefürst verheißen war, geboren und den Hirten in der Nacht verkündet, so dass sie sich fürchteten. Aber sie sahen die strahlende Klarheit des Himmels, hörten von der großen Freude und kamen in Bewegung. Was bedeuten die Zeichen? Die Zeichen der Zeit stehen im Widerstreit. Oft widersprechen sie einander, oder sie stören sich sogar.
Liebe Gemeinde, wir kennen wohl alle die Rede: Weihnachten, nicht jetzt! Ich habe keine Zeit für Weihnachten. Ich bin nicht in der Stimmung für Weihnachten. Wie soll ich Weihnachten feiern, ich, in meiner Situation, überlastet von Sorgen um meinen Arbeitsplatz, an den Grenzen meiner gesundheitlichen Kraft, aussichtslos krank. Weihnachten, nicht für mich, nicht jetzt! Das ist etwas für Kinder, die noch Erwartungen haben und sich an Geschenken freuen, das ist nichts mehr für mich. Für mich gelten die Zeichen der Weihnachtszeit nicht. Vielleicht hat uns diese traurige Stimmung selbst schon einmal gepackt.
Muss man die festlichen Zeichen verdrängen, weil sie gerade nicht passen? Wann passen sie? Retten könnte man die Zeichen allenfalls als Idylle für kurze Stunden. Doch auch für kurze Stunden kommt die Erinnerung. Licht, Leben, Freude. Die Erinnerung ist gefährlich für alle, die sich mit Krisenstimmung und Leidensdruck in dem „Weihnachten jetzt nicht!“ fest gemacht haben. Denn die Erinnerung an die Weihnachtszeichen bricht ein in aussichtsloses Dunkel und lässt neue Hoffnungen, neue Perspektiven aufscheinen. Eine neue Dimension der Wirklichkeit wird wahrnehmbar. Freude, Sehnsucht nach Frieden, Liebe gegen Misstrauen, Licht trotz Unterdrückung. Weihnachten lässt sich nicht verschieben, so wie auch Liebe sich nicht verschieben lässt. Unterdrückerische Regime haben das stets rasch begriffen, und sie haben versucht, die Hoffnungszeichen umzudeuten, um ihre gefährliche Kraft klein zu halten. Gewiss, man ließ das Licht, das Festessen und die geflügelten Jahresendfiguren, wie die Engel nach kommunistischer Sprachregelung hießen, zu. Man meinte, die Erinnerung so unter Kontrolle halten zu können wie die Aktienkurse. Aber, was bei den Aktienkursen nicht gelingt, gelingt bei der Erinnerung gar nicht. Die Kraft der Zeichen, die eine neue Dimension im Leben ansagen, setzt sich immer wieder durch und bringt Menschen in Bewegung wie die Hirten. Die Sehnsucht nach einem Fest, das mehr bietet als die Sorgen des Alltags und das Leid der Situation, und die Sehnsucht nach Zeichen, die den Horizont aufreißen, werden immer wieder lebendig. O Heiland, reiß die Himmel auf!
Der Predigttext für die Christnacht aus dem Buch des Propheten Jesaja erzählt davon, dass ein Zeichen Menschen aus der Eindimensionalität, aus der Einschränkung auf Angst, Krisen und Sorgen befreit und eine neue Dimension des Lebens erschließt. Ein neues Zeichen leuchtet heilsam in eindimensionale Wirklichkeit hinein. Licht leuchtet in der Finsternis. Ich lese die Verheißung aus dem siebenten Kapitel des Buches des Propheten Jesaja:
Und der Herr redete abermals zu Ahas und sprach: Fordere dir ein Zeichen vom Herrn, deinem Gott, es sei drunten in der Tiefe oder droben in der Höhe! Aber Ahas sprach: Ich will's nicht fordern, damit ich den Herrn nicht versuche. Da sprach Jesaja: Wohlan, so hört, ihr vom Hause David: Ist's euch zu wenig, dass ihr Menschen müde macht? Müsst ihr auch meinen Gott müde machen? Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine junge Frau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel (d.h. Gott mit uns). (Jesaja 7,10–14)
Eine Geschichte von vor etwa 2700 Jahren: Ahas, der König von Juda, befindet sich in einer politisch prekären Situation. Sein Regierungssitz, Jerusalem, steht kurz vor der Belagerung durch feindliche Truppen, deren Führer ihn absetzen wollen. Das sind die politischen Zeichen der Zeit, klar, eindeutig und bedrohlich. Da muss man handeln. Der König weiß das und plant seine Aktionen.
Schon einmal hatte der Prophet Jesaja Ahas angesprochen und ihn zu Ruhe und Vertrauen ermahnt. Er solle glauben, hatte es geheißen: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht.“ Aber was sollte Glaube in einer drohenden Kriegssituation helfen? „Was nützt euer Glaube?“ werden wir gefragt. „Was helfen eure Gebete? Haben sie schon einen Krieg verhindert? Haben sie schon eine Krankheit geheilt?“ Ahas konnte sich jetzt nicht mit Glauben beschäftigen, und für Zeichen hatte er keine Zeit. Jetzt nicht! Die Krisenzeichen der Zeit, die anrückenden feindlichen Truppen waren ein allzu klares Signal. Das forderte ihn ganz. Jetzt waren Aktionen notwendig. Darauf allein wollte er sich verlassen. Dass Glauben das Vertrauen ist, das ihm die notwendige Festigkeit für Entscheidungen, den Mut und die Distanz zur politischen Situation verleiht, die eine nüchterne Entscheidung erst möglich machen, hatte Ahas vergessen.
Doch er wahrte die Formen des Anstandes und antwortete dem Propheten fromm nach der festgelegten Religiosität: „Ich will den Herrn nicht versuchen.“ Aber diese Frömmigkeit, die nichts von Gott und alles von den eigenen Aktionen erwartet, ist ermüdend. Als ob man Gott verschieben könnte in eine Nische, wenn einem nach eigener Aktivität schließlich nach Feiern zu Mute ist. In der Not will Gott gerufen werden. Menschen sollen bitten, erwartungsvoll wie Kinder. Bittet, so wird euch gegeben.    
Nichts von Gott erwarten, nichts erbitten können, weil man sich nur auf sich selbst verlässt, das ist die ermüdende, stumpfe Eindimensionalität, mit der Menschen sich in sich selbst verschließen. Verlassenheit ist das. Von allen guten Geistern verlassen, muss ich alles von mir selbst erwarten, sonst ist mir auf Erden nicht mehr zu helfen. Das ist Verlassenheit, die sich immer enger um mich zusammenzieht. Hilf dir selbst, sonst hilft dir niemand. Wir wissen von Menschen, die gerade in der Weihnachtszeit in diese Verlassenheit fallen. Gelegentlich greift das nach einem. Wer könnte da helfen? – „Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein' neuen Schein.“
Liebe Gemeinde, Gott gibt ein Zeichen, der Prophet Jesaja kündigt es an: Siehe, eine junge Frau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel. (d.h. Gott mit uns)
Was für ein Zeichen! Nicht von einem Naturwunder oder einem großen Geschichtsereignis spricht der Prophet. Ein neu geborenes Kind ist das Zeichen. Ein Wunder. Zeichen für  Leben, Liebe, Hoffnung, Freude. Wir wissen nicht, was für ein Kind es ist. Aber es ist ein Zeichen für Leben, hoffnungsvolles und bedürftiges Leben. Aus jedem Kind spricht uns das an: Die Lebenshoffnung und die Bedürftigkeit.
Das siebenmilliardste Kind ist geboren. So erwartet, dass man sich jetzt streitet, welches es ist, die kleine Danica auf den Philippinen oder ein anderer Säugling weltweit. Was ist das für ein Zeichen? Ruft es Angst und Sorge hervor angesichts der drohenden Überbevölkerung? Provoziert es nur die gewiss notwendigen Pläne zur Geburtenkontrolle, um dem Wachstum der Erdbevölkerung zu steuern? Oder erkennen wir in diesem hilfsbedürftigen Kind auch geschenktes Leben, das Freude hervorruft?
Etwas Neues tut sich auf mit dem Namen. Der Name schafft Klarheit: Immanuel, Gott mit uns. Der Name ist Hoffnung, Leben, Liebe, Freude. In diesem Kind ist Gott mit uns, mitten im Leben, neu und klar orientierend. Das Kind muss versorgt und beschützt werden. Gott ist mit ihm. Gott erbarmt sich seiner. Es ist nicht verlassen.
Die ersten Christen haben mit der Verheißung des Propheten Jesaja Geburt und Leben Jesu von Nazareth gedeutet. „Davon Jesaja sagt.“ Wie hätte man sonst die Geburt eines Kindes in den Krisenzeiten des römischen Weltreiches als große Freude, als Rettung der Welt verstehen sollen. „Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“ Die alte prophetische Verheißung von vor vielen Jahrhunderten weist weit über sich hinaus. Immer wieder hat sie ihre Kraft entfaltet und Hoffnung geweckt. Sie unterbricht nicht nur die bedrohliche Situation des Ahas und sagt ihm ein Zeichen an, das ihn in seiner Angst stärken und neu orientieren kann, mit dieser Verheißung verstehen Menschen noch nach Jahrhunderten die Geburt des Messias. Die Hirten auf dem Felde werden in ihrem dunklen Alltag unterbrochen, und ihre Nacht wird hell und klar, so dass sie sich fürchten. Aber die Ankündigung des Zeichens bringt sie in Bewegung, und ihre Furcht verwandelt sich in Staunen über das Weihnachtswunder. Das Kind im Futtertrog, was für ein Zeichen! Der Gott, der mit uns ist, zeigt sich nicht als himmlischer Machthaber mit Gewalttaten. Mit Liebe gibt er sich selbst in unsere Welt. Er unterbricht menschliche Enge und Angst und ruft Vertrauen, Freude und Klarheit in der Dunkelheit hervor. Das Erbarmen Gottes macht Menschen menschlich.
Weihnachten 1942 hat der Arzt und Pfarrer, Dr. Kurt Reuber, im Kessel von Stalingrad auf einer kleinen Karte eine Madonna gezeichnet mit einem Kind im Arm. Auf dem Rand der Karte, um die Madonna herum stehen die Worte: Licht, Leben, Liebe, Weihnachten 1942, im Kessel, Festung Stalingrad. Das Kind inmitten von Hunger, Kälte und Tod – dennoch Licht, Leben, Liebe, die weihnachtlichen Zeichen. Inmitten von tödlicher Niedergeschlagenheit, in der Aussichtslosigkeit des Kessels Überraschung, Staunen, neuer Mut. Das ist der Glaube, der trägt. Die leuchtende Klarheit auch hier. Keine Verlassenheit. Das ist das Weihnachtszeichen: Es gibt keine Verlassenheit, seit Gott in diesem Kinde Mensch wurde. Immanuel – Gottes Liebe mit uns. Der Weg des Kindes führt von der Krippe zum Kreuz. Gott ist auch im Leiden, auch im Tode mit und führt schließlich in die Klarheit eines neuen Lebens.
Gewiss, Gottes Liebe zaubert die Krankheit nicht weg und auch die Tränen verschwinden nicht, aber mit uns ist einer, der sie mitträgt. Licht, Leben, Liebe, große Freude für alle. Gott mit uns, das ist die Klarheit, dass wir nicht verlassen sind, dass wir etwas erwarten können wie Kinder, die auf das rote ferngesteuerte Auto warten oder auf die Puppe, die einige Worte sprechen kann. Immanuel, das Weihnachtszeichen leuchtet in jedes Dunkel, es leuchtet auch da, wo ich gottvergessen gar nicht mehr erwarte, dass Gott hilft.
Auch die Lichtzeichen auf den Straßen, die schon nicht mehr an das Christfest zu erinnern scheinen, weisen noch darauf  hin: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude! „Heut schleußt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis; der Cherub steht nicht mehr dafür. Gott sei Lob Ehr und Preis.“ Etwas vom Glanz des Paradieses fällt in jeden Tag und in jede Nacht.
Amen.
Perikope
Datum 24.12.2011
Bibelbuch: Jesaja
Kapitel / Verse: 10,7
Wochenlied: 27
Wochenspruch: Joh 1,14a