"Die zwei Arten des Durstes" – Predigt zu Jesaja 55,1-3 von Dieter Koch
55,1
Die zwei Arten des Durstes
Durst, liebe Gemeinde, Durst, wer kennt ihn nicht? Durst nach Liebe und Geborgenheit, Durst nach Frieden in der Welt. Durst ist geradezu ein Kennzeichen alles Lebendigen. Was lebt, was atmet, was noch Kraft in sich spürt, dürstet. Und doch ruft der Prophet: Wehe allem, was dürstet. Was wie ein Fluch klingt, ist Totenklage. Wehe allem, dessen Sehnsucht dahin ist. Er beweint den Tod derer, die keinen Durst mehr spüren – und dürsten doch, sehnen sich, verzehren sich, gepeinigt von ihren Wünschen! Sollte es zwei Arten des Durstes geben, zwei Arten der Sehnsucht? Einen Durst des Todes und einen Durst des Lebens? Eine Sehnsucht nach Leben und eine Sehnsucht nach Tod? Wie groß muss die Enttäuschung sein, wie groß die Verzweiflung, wie groß der Leidensdruck, dass die Verweigerung dem Leben gegenüber zu wachsen beginnt? Wie groß muss die Friedlosigkeit in einer Seele gediehen sein, wenn sie nur noch Frieden gegen sich selbst zu finden vermag?
Die Verweigerung dem Leben gegenüber wächst in vielen kleinen Momenten. Banales und Schäbiges verweben sich. Man steht auf, man legt sich nieder. Die Tage drehen sich im Nichts. Der Tod beginnt zu wuchern und nimmt eine Seele gefangen. Sinnlosigkeiten grassieren, und irgendwann ist man bereit, sich ganz aufzugeben. Der Tod beginnt auch dort, wo wir zu Krämern des Lebens, zu Krämern des Glücks, zu Krämern unserer Wünsche werden. Der Tod beginnt dort, wo wir in unserem Herzen ein Konto einrichten, um Tag für Tag etwas von unserem Leben abzunehmen, um es anzusparen, weil wir meinen, wir könnten etwas auf die Seite legen im Hoffen auf einen Zins, der einmal ein Viel mehr an Leben zurückbringen wird, gleich ob in diesem Leben oder in der Erwartung eines kommenden Lebens. Doch einen solchen Lebenszins gibt es nicht. Wer sein Leben auf die hohe Kante legt, der wirft es weg, ja verwirft sich selbst. Dort, wo das Leben rein gelebt wird, bekommt jeder einzelne Tag einen unendlichen Sinn, eine unausschöpfbare Fülle und einen tiefen Ernst:
- Einen unendlichen Sinn, weil alles, was in unsere Hände gelegt wird an schöpferischer Kraft, an stiller Haltung und freiem Genuss, getragen und überformt wird von dem Sinn, der uns schon geschenkt ist. Wer seinen Aufgaben, seiner Arbeit nachkommt, der lebt von dem Sinn allen Tuns, den er nicht erst schafft, sondern der ihn schon umgibt wie die Luft zum Atmen.
- Eine unausschöpfbare Fülle, weil alles, was wir schöpfen, alles, was wir an uns ziehen und mit unserer Phantasie beleben, aus einem Grund, einem Quelltopf geschöpft wird, der ununterbrochen den Fluss unseres Lebens speist. Wer seinen Ideen eine Gestalt gibt, sei es, dass er für den Sommer einen Garten anlegt, sei es, dass er all seinen Verstand in die Lösung eines technischen Problems legt, oder mit den Gaben der Vernunft an der Gestalt des gesellschaftlichen Lebens teilnimmt, lebt aus einer Fülle und Vollendung, die ihn selbst vollenden will.
- Einen tiefen Ernst, weil alles, für das wir einzustehen haben, alles, was die Handschrift unserer Urheberschaft trägt, nicht Teil eines Spieles nur um Macht und Geltung ist, sondern unser Maß in der Verwirklichung des Guten. Wer sich nicht ausschließlich von seinem eigenen Nutzen und Vorteil leiten lässt, wer einmal erfahren hat, dass in allem Tun, ja noch in jedem kleinen Gedanken es auch um die Entscheidung zwischen dem Guten und dem Lebensmindernden gehen kann, lebt von dem Ernst, der alles Lebendige verbindet.
Weil wir den Sinn, die Fülle und den Ernst des Lebens immer wieder verleugnen, ja verachten, weil wir immer wieder aufs neue die große Lebenslüge des vermeintlich wahren Lebens in der Zukunft der Wahrheit des erfahrenen Lebens im Hier und Jetzt vorziehen, herrscht in uns ein Todesdurst und eine Todessehnsucht, eine Ziel- und Hoffnungslosigkeit gerade unter der Maske vielfältigster Ziele und Hoffnungen. Die Todesklage des Propheten deckt solche irregeleitete Sehnsucht, solchen falschen Durst auf. Wehe denen, die den Tod gewählt haben.
Aber gerade wie er die Todesklage anstimmt, erhebt der Prophet umso eindrücklicher den Ruf zum Leben und zur Wiederkehr echten Durstes, echter Sehnsucht. Er schreit uns regelrecht Gottes Aufforderung zu leben entgegen. Dass Wunder, das Geschenk, die Verheißung des Lebens bricht sich Bahn, erweckt tote Seelen und schenkt neuen, freien, leichten Gang. Wer aus dem Leben gefallen scheint, dem wird das Leben neu zugerufen. Der bergende Mantel von Sinn, Fülle und Ernst im Leben wird für ihn ausgebreitet. Gott, der die Toten weckt, will auch uns, heute schon auferwecken, wach machen für die Zuversicht zu leben. Gottes Ruf umgibt uns täglich, stündlich, ja in jeder Sekunde und jede Sekunde unseres Lebens, jeder Atemzug und Gedankenkeim trägt in sich die Möglichkeit der frohen Auferstehung. Gottes Ruf begegnet uns in seinem Wort, im Zeugnis derer, die ihn vernommen haben und deren Seele darüber weit und groß wurde. Gottes Ruf begegnet uns auch in jeder neuen menschlichen Begegnung, in jeder neuen Erkenntnis, in jeder neuen Freude:
- weil jede Begegnung die Verheißung von Vertrauen, Anteilnahme und so Teilhabe am unbedingten Sinn und Glanz des Lebens mit sich bringt, dem sich keiner entziehen kann,
- weil jede neue Erkenntnis einen Blick in Gottes Schöpferwalten gewährt, dem sich keiner entziehen darf,
- weil jede neue Freude uns den Genuss des Lebens selbst gewährt, dem sich keiner entziehen soll.
Gottes Ruf tritt an uns heran als Ruf ins Leben. Wo Gott ruft, kommt die Verheißung des Lebens zu uns, die Verheißung des Genusses von Wein und Milch. Wer den Genuss leugnet, leugnet Gottes schenkende Liebe. Aber jede Weise des Genießens ist eingebettet in unser Stehen zwischen Tod und Leben. Wie es einen Todesdurst gibt, so einen Genuss zum Tode. Wie es einen Lebensdurst gibt, so einen Genuss zum Leben. Denn was ist Genuss? Genuss ist nichts anderes als die Hingabe an das, was der Hingabe wert ist. Wer sich hingibt an eine Person, die er liebt, genießt. Wer sich hingibt an eine Arbeit, die auf ihn wartet, genießt. Wer sich hingibt an die Schönheiten der Natur oder der Technik, genießt. Wer sich hingibt in die Stille und die Ruhe schmeckt, genießt. Die tiefe Wahrheit des Genießens, die Tiefe der Hingabe, die gute Sehnsucht und der rechte Durst ereignen sich mitten in der Profanität des alltäglichen Lebens. Darin liegt der Kern des Prophetenwortes. Wir alle meinen, Genuss sei das Besondere, sei Lohn und Frucht der Entsagung im Alltag, Genuss sei erst im anderen, fremden, ewigen Leben. Doch der Prophet verlockt nicht zu Traumreisen, verheißt nicht Liebesinseln und Goldesel, sondern er spricht von Wein und Milch, Alltagsgaben, Lebensmitteln des Irdischen. Da ist das tägliche Brot und manchmal ein Stück Luxus. Da brauchen wir Milch, Milch und manchmal kosten wir Wein dazu. Wer die Milch nicht kosten kann, wer sich nicht freuen kann an der Fülle noch in der Gestalt des Notwendigen, der kann sich auch nicht am Wein, an den Zugaben im Alltag erfreuen. Nur wer Gott an allen Orten seines Lebens als den Einladend-Schenkenden erfährt, verpasst ihn nicht. Das uns von ihm verheißene Leben trifft uns im Hier und Jetzt. Das Sich-Einlassen auf Gottes Gnade ist ein Sich-Einlassen auf die vergebende wie neu machende Gnade im Hier und Jetzt. Gott führt uns nicht weg, nicht heraus aus dem Leben, sondern neu und aufs Neue immer tiefer hinein in das Leben. Wo er die echte Sehnsucht und den wahren Durst nach Leben erweckt, weicht der Durst des Todes, schwindet die Sehnsucht des Todes. Gott ist kein Gott der Toten, sondern der Lebenden. Er weiß den Durst nach Leben zu stillen und wird ihn zugleich umso mehr erwecken.
Durst, liebe Gemeinde, Durst, wer kennt ihn nicht? Durst nach Liebe und Geborgenheit, Durst nach Frieden in der Welt. Durst ist geradezu ein Kennzeichen alles Lebendigen. Was lebt, was atmet, was noch Kraft in sich spürt, dürstet. Und doch ruft der Prophet: Wehe allem, was dürstet. Was wie ein Fluch klingt, ist Totenklage. Wehe allem, dessen Sehnsucht dahin ist. Er beweint den Tod derer, die keinen Durst mehr spüren – und dürsten doch, sehnen sich, verzehren sich, gepeinigt von ihren Wünschen! Sollte es zwei Arten des Durstes geben, zwei Arten der Sehnsucht? Einen Durst des Todes und einen Durst des Lebens? Eine Sehnsucht nach Leben und eine Sehnsucht nach Tod? Wie groß muss die Enttäuschung sein, wie groß die Verzweiflung, wie groß der Leidensdruck, dass die Verweigerung dem Leben gegenüber zu wachsen beginnt? Wie groß muss die Friedlosigkeit in einer Seele gediehen sein, wenn sie nur noch Frieden gegen sich selbst zu finden vermag?
Die Verweigerung dem Leben gegenüber wächst in vielen kleinen Momenten. Banales und Schäbiges verweben sich. Man steht auf, man legt sich nieder. Die Tage drehen sich im Nichts. Der Tod beginnt zu wuchern und nimmt eine Seele gefangen. Sinnlosigkeiten grassieren, und irgendwann ist man bereit, sich ganz aufzugeben. Der Tod beginnt auch dort, wo wir zu Krämern des Lebens, zu Krämern des Glücks, zu Krämern unserer Wünsche werden. Der Tod beginnt dort, wo wir in unserem Herzen ein Konto einrichten, um Tag für Tag etwas von unserem Leben abzunehmen, um es anzusparen, weil wir meinen, wir könnten etwas auf die Seite legen im Hoffen auf einen Zins, der einmal ein Viel mehr an Leben zurückbringen wird, gleich ob in diesem Leben oder in der Erwartung eines kommenden Lebens. Doch einen solchen Lebenszins gibt es nicht. Wer sein Leben auf die hohe Kante legt, der wirft es weg, ja verwirft sich selbst. Dort, wo das Leben rein gelebt wird, bekommt jeder einzelne Tag einen unendlichen Sinn, eine unausschöpfbare Fülle und einen tiefen Ernst:
- Einen unendlichen Sinn, weil alles, was in unsere Hände gelegt wird an schöpferischer Kraft, an stiller Haltung und freiem Genuss, getragen und überformt wird von dem Sinn, der uns schon geschenkt ist. Wer seinen Aufgaben, seiner Arbeit nachkommt, der lebt von dem Sinn allen Tuns, den er nicht erst schafft, sondern der ihn schon umgibt wie die Luft zum Atmen.
- Eine unausschöpfbare Fülle, weil alles, was wir schöpfen, alles, was wir an uns ziehen und mit unserer Phantasie beleben, aus einem Grund, einem Quelltopf geschöpft wird, der ununterbrochen den Fluss unseres Lebens speist. Wer seinen Ideen eine Gestalt gibt, sei es, dass er für den Sommer einen Garten anlegt, sei es, dass er all seinen Verstand in die Lösung eines technischen Problems legt, oder mit den Gaben der Vernunft an der Gestalt des gesellschaftlichen Lebens teilnimmt, lebt aus einer Fülle und Vollendung, die ihn selbst vollenden will.
- Einen tiefen Ernst, weil alles, für das wir einzustehen haben, alles, was die Handschrift unserer Urheberschaft trägt, nicht Teil eines Spieles nur um Macht und Geltung ist, sondern unser Maß in der Verwirklichung des Guten. Wer sich nicht ausschließlich von seinem eigenen Nutzen und Vorteil leiten lässt, wer einmal erfahren hat, dass in allem Tun, ja noch in jedem kleinen Gedanken es auch um die Entscheidung zwischen dem Guten und dem Lebensmindernden gehen kann, lebt von dem Ernst, der alles Lebendige verbindet.
Weil wir den Sinn, die Fülle und den Ernst des Lebens immer wieder verleugnen, ja verachten, weil wir immer wieder aufs neue die große Lebenslüge des vermeintlich wahren Lebens in der Zukunft der Wahrheit des erfahrenen Lebens im Hier und Jetzt vorziehen, herrscht in uns ein Todesdurst und eine Todessehnsucht, eine Ziel- und Hoffnungslosigkeit gerade unter der Maske vielfältigster Ziele und Hoffnungen. Die Todesklage des Propheten deckt solche irregeleitete Sehnsucht, solchen falschen Durst auf. Wehe denen, die den Tod gewählt haben.
Aber gerade wie er die Todesklage anstimmt, erhebt der Prophet umso eindrücklicher den Ruf zum Leben und zur Wiederkehr echten Durstes, echter Sehnsucht. Er schreit uns regelrecht Gottes Aufforderung zu leben entgegen. Dass Wunder, das Geschenk, die Verheißung des Lebens bricht sich Bahn, erweckt tote Seelen und schenkt neuen, freien, leichten Gang. Wer aus dem Leben gefallen scheint, dem wird das Leben neu zugerufen. Der bergende Mantel von Sinn, Fülle und Ernst im Leben wird für ihn ausgebreitet. Gott, der die Toten weckt, will auch uns, heute schon auferwecken, wach machen für die Zuversicht zu leben. Gottes Ruf umgibt uns täglich, stündlich, ja in jeder Sekunde und jede Sekunde unseres Lebens, jeder Atemzug und Gedankenkeim trägt in sich die Möglichkeit der frohen Auferstehung. Gottes Ruf begegnet uns in seinem Wort, im Zeugnis derer, die ihn vernommen haben und deren Seele darüber weit und groß wurde. Gottes Ruf begegnet uns auch in jeder neuen menschlichen Begegnung, in jeder neuen Erkenntnis, in jeder neuen Freude:
- weil jede Begegnung die Verheißung von Vertrauen, Anteilnahme und so Teilhabe am unbedingten Sinn und Glanz des Lebens mit sich bringt, dem sich keiner entziehen kann,
- weil jede neue Erkenntnis einen Blick in Gottes Schöpferwalten gewährt, dem sich keiner entziehen darf,
- weil jede neue Freude uns den Genuss des Lebens selbst gewährt, dem sich keiner entziehen soll.
Gottes Ruf tritt an uns heran als Ruf ins Leben. Wo Gott ruft, kommt die Verheißung des Lebens zu uns, die Verheißung des Genusses von Wein und Milch. Wer den Genuss leugnet, leugnet Gottes schenkende Liebe. Aber jede Weise des Genießens ist eingebettet in unser Stehen zwischen Tod und Leben. Wie es einen Todesdurst gibt, so einen Genuss zum Tode. Wie es einen Lebensdurst gibt, so einen Genuss zum Leben. Denn was ist Genuss? Genuss ist nichts anderes als die Hingabe an das, was der Hingabe wert ist. Wer sich hingibt an eine Person, die er liebt, genießt. Wer sich hingibt an eine Arbeit, die auf ihn wartet, genießt. Wer sich hingibt an die Schönheiten der Natur oder der Technik, genießt. Wer sich hingibt in die Stille und die Ruhe schmeckt, genießt. Die tiefe Wahrheit des Genießens, die Tiefe der Hingabe, die gute Sehnsucht und der rechte Durst ereignen sich mitten in der Profanität des alltäglichen Lebens. Darin liegt der Kern des Prophetenwortes. Wir alle meinen, Genuss sei das Besondere, sei Lohn und Frucht der Entsagung im Alltag, Genuss sei erst im anderen, fremden, ewigen Leben. Doch der Prophet verlockt nicht zu Traumreisen, verheißt nicht Liebesinseln und Goldesel, sondern er spricht von Wein und Milch, Alltagsgaben, Lebensmitteln des Irdischen. Da ist das tägliche Brot und manchmal ein Stück Luxus. Da brauchen wir Milch, Milch und manchmal kosten wir Wein dazu. Wer die Milch nicht kosten kann, wer sich nicht freuen kann an der Fülle noch in der Gestalt des Notwendigen, der kann sich auch nicht am Wein, an den Zugaben im Alltag erfreuen. Nur wer Gott an allen Orten seines Lebens als den Einladend-Schenkenden erfährt, verpasst ihn nicht. Das uns von ihm verheißene Leben trifft uns im Hier und Jetzt. Das Sich-Einlassen auf Gottes Gnade ist ein Sich-Einlassen auf die vergebende wie neu machende Gnade im Hier und Jetzt. Gott führt uns nicht weg, nicht heraus aus dem Leben, sondern neu und aufs Neue immer tiefer hinein in das Leben. Wo er die echte Sehnsucht und den wahren Durst nach Leben erweckt, weicht der Durst des Todes, schwindet die Sehnsucht des Todes. Gott ist kein Gott der Toten, sondern der Lebenden. Er weiß den Durst nach Leben zu stillen und wird ihn zugleich umso mehr erwecken.
Perikope