Und der Engel sprach: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Denn euch ist heute der Heiland geboren!
Liebe Gemeinde am 1. Weihnachtsfesttag!
In die Engelsbotschaft und in den Gesang der himmlischen Chöre hinein hat Johann Sebastian Bach im Weihnachtsoratorium den Choral komponiert, den wir eben auch gesungen haben: „Brich an du schönes Morgenlicht und lass den Himmel tagen! Du Hirtenvolk erschrecke nicht, weil dir die Engel sagen, dass dieses schwache Knäbelein soll unser Trost und Freude sein – dazu den Satan zwingen und letztlich Frieden bringen!“
Offenbar meinte Bach, dass es, um überhaupt verstehen zu können, was der Engel da verkündigt und der Engelschor singt, das klare Licht, das Morgenlicht braucht. – Und vielleicht hat er ja recht.
Denn der Heilige Abend – der ist nach alter liturgischer Tradition doch nur der Vorgeschmack auf das, was am 1. Weihnachtstag dann in ganzer Klarheit in die Herzen und die Köpfe dringen – und mit allen Sinnen gefeiert werden soll.
Und so reiben auch wir uns nun im Morgenlicht die Augen, nach dem verzaubernden Glanz der Heiligen Nacht, und sagen, ja fragen vielleicht ein wenig zaghaft, mit dem Liederdichter Johann Rist: „dass dieses schwache Knäbelein soll unser Trost und Freude sein – dazu den Satan zwingen, und letztlich Frieden bringen“? Ja! Wirklich wahr???
Doch, ja, doch! Auch heute Morgen klingt die Weihnachtsbotschaft von der Geburt des Heilandes wieder durch die Welt. Rund um den Globus feiern die Menschen das Fest seiner Geburt, das Fest der Liebe, das Fest der Familie, auch wenn sie die Einzelheiten vielleicht gar nicht mehr so richtig kennen.
Mehr Spenden, mehr Freundlichkeit, aber auch mehr Verletzlichkeit und Sensibilität, - und dazu der manchmal überbordende Weihnachtsschmuck: ja, an Weihnachten ist wirklich alles anders, und viel mehr von alledem in uns und um uns als an allen anderen Tagen des Jahres. Weil, ja weil eben „dieses schwache Knäbelein soll unser Trost und Freude sein, dazu den Satan zwingen, und letztlich Frieden bringen….“
Wie kann das nur sein? Dass die Geburt dieses Kindes überall auf der Welt Anlass zur Freude ist, auch wenn viele die Geschichte aus der Bibel gar nicht mehr kennen?
„Seht“, so heißt es in unserem Predigttext aus dem 1. Johannesbrief, „ seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget, dass wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es auch!“
Seht hin, hört hin! Gott liebt euch alle. Ihr alle seid gemeint. Allen Menschen auf der weiten Erde verkündigt der Engel Gottes Wohlgefallen – auch den Böswilligen, den Ungeliebten, denen, die Euch eher Angst einjagen! Und Friede soll schließlich auf der ganzen Erde, und nicht nur in euren Weihnachtszimmern sein.
Wie selbstverständlich singen wir, singt die ganze Christenheit an jedem Sonntag in ihrer Liturgie diese unglaubliche Botschaft der Engel, auch wenn wir sie immer noch nicht fassen können: Friede auf Erden – und allen Menschen ein Wohlgefallen.
Widersprüche über Widersprüche, Fragen über Fragen tun sich da auf. Wirklich? Der ganzen Welt gilt Gottes Frieden? Allen Menschen gilt Gottes Liebe, Gottes Heil? Ja, ja: weil sie alle seine Kinder sind.
Und dieses schwache Knäbelein - es ist das Zeichen, so etwas wie der Beweis dafür. So ruft es der Engel den Hirten doch zu: „Das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“
Das ganz Große, die Liebe schlechthin, der Friede schlechthin: alles das, was wir Menschen uns herbeisehnen, ja was sich die Menschheit seit Ur-Zeiten herbeisehnt: in diesem Kind ist es da! Es ist, wie jedes Neugeborene, Symbol für das Neue, für das schlechthin Lebensbejahende.
Und: an jedem Weihnachtsfest, auch gestern, auch heute, wenn unsere Augen auf die Krippe, auf das Kind gerichtet sind, da können wir es sogar erspüren, dieses neue, ungeteilte wahre Leben. Die erbärmliche Krippe birgt in sich, worauf sich die Hoffnung aller Menschen, gleich welcher Religion, welcher Herkunft, welchen Aussehens und welchen Ansehens letztlich richtet: Wohlgefallen, Heil, und Frieden.
In diesem schwachen, elendiglich untergebrachten und notdürftig versorgten Knäbelein will Gott erkannt sein. Wir sollen ihn erkennen als Den, der das Wohlgefallen, das Glück aller Menschen will, Lebensrecht und Lebenszukunft auch für alle die, die morgen und übermorgen in diese Welt hineingeboren werden.
Es ist eine schier wahnsinnige Vorstellung. Da müssen wir uns nun wirklich im Morgenlicht noch einmal heftig die Augen reiben – denn die Sprache der Tatsachen steht doch dagegen, alles spricht letztlich dagegen.
Die Hungersnot im Jemen – offenbar schlimmer als alles, was wir in den vergangenen Jahrzehnten erlebt haben,- hat ihre Ursache in nichts anderem als in der Böswilligkeit der Menschen. Die einen tun alles dafür, dass die anderen buchstäblich ausgehungert werden. Und wir können nichts tun. Tatenlos, hilflos müssen wir davon hören und mit ansehen, welches Unheil der Hass anzurichten vermag. Und die Liste der Gräueltaten könnten wir ja noch beliebig weiter schreiben – oder aus der langen Geschichte der Menschheit wieder neu ins Bewusstsein rufen.
Nein, die Sprache der Tatsachen gibt keinen Anlass, auf eine bessere Welt zu hoffen. Oder gar daran zu glauben, dass Gott alle Menschen liebt, sogar die Böswilligen, jene, die von uns voller Angst und mit tiefem Misstrauen beobachtet werden. Im Gegenteil, so mögen manche sagen: verschleiert solch ein Glaube nicht geradezu die realen Gefahren?
Und doch feiern wir Weihnachten, doch sind wir voller Freude zur Krippe gekommen – gestern Abend, im Schein der Kerzen – und heute genau so, im Morgenlicht des neuen Tages. Weil da eben dieses unauslöschliche Zeichen ist, auf das der Engel die Hirten damals hingewiesen und es sozusagen an den Himmel geschrieben hat: dieses schwache Knäbelein, in dem sich die Sehnsucht nach Frieden und einem Wohlgefallen für alle, wirklich für alle Menschen auf dieser Erde zum Ausdruck kommt. Das Vollendete im Unvollendeten.
In einer erbärmlichen und übel riechenden Behausung das Kind, das das göttliche Kind ist – und uns alle zu Gottes Kindern macht. – „In unser armes Fleisch und Blut verkleidet sich das ewig Gut…“ so sagt – und singt Martin Luther.
„Allen Menschen ein Wohlgefallen!“ Das ist das göttliche Heilsversprechen, das Weihnachten zu diesem wunderbaren Fest macht. Es ist zugleich Ausdruck einer unüberbietbaren menschlichen Hoffnung, ja, Ausdruck des Gefühls, dass doch wir Menschen, trotz allem, was uns trennt, dennoch zueinander gehören zu einer einzigen großen Menschheitsfamilie – als Kinder Gottes.
Deswegen wird Weihnachten auch überall auf der Welt gefeiert, auch dort, wo die Geschichte von der Geburt des Heilandes im Stall von Bethlehem nahezu unbekannt ist, weil es die Sprache der Hoffnung aller Menschen spricht. Friede auf Erden und allen Menschen ein Wohlgefallen..
Der Schriftsteller Navid Kermani hat am Abend seines 50. Geburtstags – so sagte er - Ende November anlässlich der Verleihung des Staatspreises des Landes Nordrhein-Westfalen in Köln eine Rede darüber gehalten, was denn eigentlich wichtig, das allerwichtigste sei im Leben von uns Menschen.
Er hat im Rahmen einer Reise durch das östliche Europa diesseits und jenseits der Kriegs-Linien den unterschiedlichsten Menschen diese Frage gestellt.
Und die Antwort, - ich zitiere, „sie läuft auf die üblichen Wünsche hinaus: Gesundheit, Familie, Arbeit, einen Partner, der verlässlich ist und einen zurückliebt; Geld nicht, aber doch ein Auskommen, von dem man in Würde leben kann; Freunde. In manchen Ländern ist das Wichtigste noch schlichter: sauberes Wasser, genügend Nahrung, ein Dach überm Kopf….Manche würden noch Gott anführen, der ihnen näher als die eigene Herzschlagader sei, die jenseitige Existenz…“
Also: so verwandt, so ähnlich sind wir uns in dem, was uns wahrhaft wichtig ist – in der ganzen großen Menschheitsfamilie, ob Freund, ob Feind, ob reich, ob arm, ob gebildet,oder wenig gebildet.
Und dann kommt Navid Kermani zu einer bemerkenswerten Schlussfolgerung. Und er zitiert dabei einen Song-Text von Neill Young, einem amerikanischen Sänger auf dem Höhepunkt der Proteste gegen den Vietnam-Krieg, deren erbittertster Gegner damals Richard Nixon war. Da singt er: Sogar Richard Nixon, der Feind, der Lügner, der fürchterliche amerikanische Präsident, - has got soul - hat eine Seele. Auch dein Feind ist ein Menschenkind, ist ein Gotteskind.
Genau das ist auch die Botschaft jenes schwachen Knäbelein aus Bethlehem Schließlich erwachsen geworden, von ihm selbst ausgesprochen – und vor allem, gelebt: auch dein Feind, auch der, oder die, die du abgrundtief missachtest, oder fürchtest, hat eine Seele – ist ein Gotteskind, ist letztlich dein Bruder, deine Schwester.
Das erleben auch wir an diesem Weihnachtsfest wieder: vor der Krippe angekommen, die Augen auf das schwache Knäbelein gerichtet, weitet sich unser Blick - und das zutiefst menschliche Gefühl einer Verbundenheit mit der ganzen Menschheit, über allen Argwohn und alles Misstrauen hinweg, es kann wachsen.
Die Fremdheit der anderen mag bleiben, derer, die eine andere Kultur, eine andere Religion, auch zu uns bringen. Auch wird es immer wieder vorkommen, dass abgrundtiefer Hass, agressive Bosheit und die ideologische Verwirrung der Geister Feindschaft, Krieg und Terror verbreiten. Dennoch, im Angesicht des göttlichen Kindes, und im Hören auf die Friedenbotschaft der Engel kann immer wieder neu auch unser Mut wachsen, zusammenzustehen, nicht nur im wackeligen Haus Europa, nein, auch in der einen Menschheitsfamilie, der großen Familie der Gotteskinder.
Diesen Anblick und diese Botschaft, wir wollen sie heute Morgen in unserem Herzen bewegen und bewahren – wie Maria, die alle die Worte, die sie damals gehört und das, was sie gesehen hatte, in ihrem Herzen bewegt hat.
„Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott.“ – Auch wir werden gleich wieder umkehren, aus der Kirche hinaus gehen, aber nicht ohne vorher noch aus tiefstem und dankbaren Herzen gesungen zu haben: „Oh du fröhliche, o du selige Gnaden bringende Weihnachtszeit.“
Amen