Der zerrissene Vorhang
Es ist wieder die neunte Stunde. Heute ist Gebetszeit. Vor wenigen Wochen war es Todesstunde. Noch immer hören sie die Detonation, die den Alltag ihrer heiligen Stadt vertont. Sie schauen in den Himmel. Als wären Schlieren der Finsternis göttlicher Abenddämmerung zu sehen. Der Schrecken jenes Abends tönt sirenensirrend in ihren Ohren. Dieser eine Abend hat sich in ihre Erinnerung gebrannt. Seitdem war ihr Leben anders.
Es war genau um diese Zeit, da riss der Vorhang im Tempel entzwei. Zwischen allem Silber und Gold hängen die Fetzen des Vorhangs wie kraftlose Schultern herunter. Keiner hat ihn geflickt. Keiner hat ihn aufgerichtet. Niemand hat sich mit Nadel und Faden daran gewagt. So, als müsste eine Wunde offenbleiben. So als sollten alle es sehen: Der Glanz des Ganzen hat seinen Riss. Im Großen und Ganzen klafft der Mut zur Lücke. Zerrissen waren Petrus und Johannes seit jenem Abend. Und doch ist ihr Blick auf das Allerheiligste frei.
Und was sehen Sie?
in einen Spiegel?
oder ein dunkles Licht?
Stückwerk?
Erkenntnis?
Mut zur Lücke
Zerrissene Stücke
Die großen Worte. Rund und schön. Schwarz auf weiß. Passend in Form. Sie werden andere erst noch suchen und schreiben müssen. Jetzt war die Zeit zum Sehen, nicht zum Schreiben. Es war die Zeit zum Gehen. Doch sie hielten inne.
Auf Augenhöhe
Damals hatten sie einen Toten weggetragen. Eine Geste, die den Alltag dieser Stadt begleitet. Heute tragen sie einen Mann hinein. Ein Verletzter? Ein Ehemann und Vater? Ein Freund? Ein Kollege, der morgen nicht mehr kommen wird? Ein Opfer? Auf jeden Fall ein Opfer. Sie starren auf ihn. Ihr Blick ist gebannt. Der Mann ist gelähmt. Von Mutterleibe an unfähig alleine wegzugehen. Lebenslänglich liegen. Unfähig, sich selbst zu bewegen. Für jeden Schritt ist er auf Hilfe angewiesen. Sie tragen ihn zu seinem Arbeitsplatz, auf dass dann andere ihm helfen. Wenn die neunte Stunde um ist, vielleicht auch noch die zehnte und die elfte, dann wird er wieder zurückgetragen. Die Tageseinnahmen trägt er bei sich. Seine Familie wird es brauchen. Die Blicke der Vorbeigehenden sieht er lange schon nicht mehr. Er will ihr Mitleid nicht. Er will in keine traurigen aufgeschlagenen Augen schauen.
Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an! Er sieht sie an und während er wartet, dass sie ihm etwas geben, hat er die entsetzten Augen seines Vaters und die Tränen seiner Mutter vor Augen. Er hört die Stimmen der Familie: „Der hat kein Recht hier zu sein. Wir können ihn uns nicht leisten. Wenn er hier bleiben soll, muss er für sich sorgen. Der ist zu schwach zum Arbeiten. Ehe der ans Laufen kommt, sind andere schon am Ziel. Er soll das machen, was er am besten kann: Nichts. Sitzen bleiben. Nichts tun. Er darf nicht den Anschein erwecken, dass er irgendetwas könnte. Wir stellen ihn aus. Seine Unfähigkeit. Seine Untätigkeit. Das bei ihm nichts, aber auch gar nichts läuft. Alle sollen es sehen.“
Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an! Der Mann sieht sie an und während er wartet, dass sie ihm etwas geben, fällt es ihm wieder ein. Er hatte etwas geschrieben. Schreiben, das konnte er im Sitzen gut. Jetzt, wo die beiden vor ihm stehen, aber Silber und Gold auf sich warten lassen, nutzt er die Zeit, sich zu erinnern. An das Gedicht, das er vor wenigen Wochen geschrieben hatte; da, als im Tempel der Vorhang zerriss.
So viele Nächte lag ich wach
Meine Augen rot, vom Weinen schwach
Den Kelch mit Tränen aufgefüllt
Meine Knöchel ins Leintuch eingehüllt
Es war um die Zeit als der Vorhang zerriss
und ich mich fragte, ganz ungewiss:
Bin ich von dieser Welt?
Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh‘ uns an! Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth ...
... so viele Nächte lag dieser wach
Seine Augen rot, vom Weinen schwach
Den Kelch mit Tränen aufgefüllt
Seine Wunden ins Leintuch eingehüllt
Es war um die Zeit als der Vorhang zerriss
und sie sagten, ich bin gewiss:
Er ist von dieser Welt.
Und da berührten sie sich. Auf Augenhöhe. Ihre Worte und ihre Leben. Der Krüppel und der Gekreuzigte.
Petrusblick und Bettlerworte
Im Blick des Petrus liegt die Welt Gottes für den Mann draußen vor dem Tor, dem Schönen. Im Blick des Petrus liegt die Schönheit Gottes für einen Menschen.
Was ich aber habe, das gebe ich dir. Meine Zeit. Für den Tempel und das Beten. Für das Reden und Danken und Loben. Um gesund zu werden. Heil an der Seele, mit all deinen inneren Bildern, Familiengeschichten, Verletzungen. Ich gebe dir das, was ich habe: an Überzeugung. Silber und Gold wären schnell gegeben, mit gutem Gewissen kann ich schneller weitergehen: durch jeden Einkaufstempel. Ich gebe dir das, was ich habe: für dich. Einer von vielen. Nicht allen auf der Straße, nicht jedem in der Welt werde ich gerecht. Ich bin nur einer von Vielen. Ich bin aber einer von Vielen. Darum: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!
Da wurden meine Füße und Knöchel fest. Ich sprang auf, konnte stehen und gehen. Und was kam mir jetzt alles in den Sinn: wohin gehen. Zu denen, die mich jahrelang wie im Schoß der Mutter klein und liegend gehalten hatten. Ich hätte manchen so richtig in den ... treten können, die mich als Sozialschmarotzer gebrandmarkt hatten. Ich hätte gleich losrennen können, um in den ärmsten Ländern der Welt zu verhindern, dass Eltern ihre Kinder verstümmeln, damit sie beim Betteln mehr Mitleid auslösen. Vor allem hätte ich mit denen in Indien springen und tanzen können. Mit den Gotteslieblingen. So heißen die Bettelnden da. Sie werden nicht als Schande gesehen, sondern als eine Wohltat für den Geber. Sie wecken Milde. Sie reinigen das Herz des Gebers. Wer ins Allerheiligste will, der muss an ihnen vorbei. Sie sind der Eingang zum Tempel. Petrus hat mich angesehen. Er sieht mich.
Es war um die Zeit als der Vorhang zerriss
und ihr Blick sagte, ich bin gewiss:
Du bist von seiner Welt.
Da ging er mit Petrus und Johannes in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott. Ich bin von dieser Welt, höre ich ihn heute noch singen. Ich bin in dieser Welt, mit Gott, der mich am Leben hält, höre ich ihn heute noch singen. Und die Leute, sie schütteln den Kopf. Sie sind verwundert und entsetzt. So ist das wohl. Sie erkennen auch, wer das ist. Es hat scheinbar keine nachhaltige Wirkung. Vielleicht habe ich es inzwischen verstanden. Das Wunder ist es nur für einen. Wer einen richtig ansieht, der sieht die anderen nicht. Dass sie auch so gesehen werden wollen, jede für sich, das kann ich gut verstehen:
denn sie sehen in einen Spiegel
und auch ein dunkles Licht
sind Stückwerk
Erkenntnis ist
Mut zur Lücke
Zerrissene Stücke
Der Schreiber unter dem Schönen Tor
Es war die Zeit und die Fähigkeit gekommen, um zu gehen. So spazierte er zum Schönen Tor. Er genoss seit jenem Tag jeden Schritt. Ein Schritt wie ein Gebet. Gehen und sehen; achtsam die Füße setzen auf den Weg. Er ging an die Stelle, wo er früher gelegen und gebettelt hatte. Er war damals nicht der einzige; auch an diesem Abend nicht. Es dämmerte. Er setzte sich. Langsam. Genoss diese Bewegung seiner Beine. Wie der Knöchel sich drehen konnte. Wie er sein Gewicht hält. Und er wollte Wort halten.
Schreiben: eine Geste, die seinen Alltag färbt. Jetzt war die Zeit zum Schreiben. Die großen Worte und kleine Gesten. Manches Rund mit Kanten. Schönes und Hässliches. Wie man übersehen wird. Wie es ist, gesehen zu werden. Von dem Einen. „Draußen vor dem Tor“ schrieb er.
Mit dabei:
er selbst, Bettler, Krüppel, einer von uns
Petrus und Johannes, die ihn sahen und forderten
seine Frau, die er noch gar nicht kannte, aber sich darauf freute
sein Vater, mit dem es viel zu reden gab und wo ihnen beiden vor graute
seine Mutter, die das alles nicht mehr erleben konnte
seine Familie, die ihm so wehgetan hatte,
seine Stadt,
das Allerheiligste,
ein zerrissener Vorhang,
das Schöne Tor,
im Namen Jesu Christi von Nazareth:
Seht ihn an.
Amen.