Als Elfriede ihr Zuhause verlassen muss, da ist sie zwölf Jahre alt. „Es ist nicht für lange“, sagt die Mutter. „Nur ein paar Orte weiter westlich, nur ein paar Wochen warten, bis sich alles wieder beruhigt“.
Aber es beruhigt sich nichts. Die Russen bleiben, die Familie muss gehen.
1945 ist Elfriede zwölf Jahre alt und versteht das alles nicht.
Zwölf Jahre lang ist sie im Großdeutschen Reich groß geworden. Und jetzt ist alles durcheinander und anders. Was gestern noch galt, ist heute alt und überholt.
Keiner lebt für sich alleine.
Du bist hineingewoben in eine Welt mit tausend Fäden.
Auch wenn sie dir die Nabelschnur durchtrennen, Du bleibst verbunden, Mama, Papa, Oma, Bruder, Schwester.
Du bist hineingewoben in deine Welt mit tausend Fäden.
Du lernst erste Worte, verstehst und begreifst, wohin du gehörst und welche Sprache die deine ist.
Elfriede begreift gar nichts mehr.
Mit einem Ochsen und einen Karren ziehen sie mit ein paar Habseligkeiten gen Westen. In Zwickau kommen sie unter. Für´s erste. Keiner weiß, wie es weitergehen soll. Aus dem „für´s erste“ werden 16 Jahre.
Aus dem Mädchen wird eine Frau und Günter kann so gut tanzen.
Keiner lebt für sich alleine.
Ich und Du - 1951 wird geheiratet in Zwickau.
Die Wunden heilen. Töchter werden geboren.
Mit dem Zug geht es im Sommer 1961 in die Sommerfrische an die Nordsee. Tante Martha besuchen.
Das Rückfahrticket kommt nie zum Einsatz. Eine Mauer wird gebaut, zerschneidet Deutschland in Ost und West.
Schon wieder neu anfangen. Mit einem Zimmer unter dem Dach bei Bekannten.
Keiner lebt für sich alleine.
Also fangen sie noch einmal an.
Arbeit finden, eine Wohnung bekommen, sich einrichten im neuen Leben.
Sie werden alt miteinander, die beiden.
Viele Sommer halten sie am Südstrand ihr Gesicht in die Sonne.
Viele Winter zieht der Duft von Apfelkuchen durch die Wohnung.
Sie werden alt und langsam. Und manchmal vergessen sie etwas. Den Haustürschlüssel oder den Arzttermin.
Die Töchter machen sich Sorgen. Wie geht das weiter?
Keiner lebt für sich alleine, keiner stirbt für sich alleine.
Im Wohnpark am Deich finden sie ein Zuhause.
Manchmal wollen sie zum Zug nach Zwickau, vergessen was war oder wer morgen kommen wollte. Sogar die Namen der Töchter, die zu Besuch kommen, werden verlegt und nicht mehr gefunden.
Sie schlurfen über das Linoleum zu ihren Zimmern und halten sich dabei an der Hand.
Wenn der Verstand verschwindet, bleibt das Gefühl.
„So nahe waren wir uns sonst kaum im Leben“, sagt die Tochter.
Eine Umarmung, den Rücken eincremen, die Hände massieren und spüren:
Keiner lebt für sich allein, keiner stirbt für sich allein.
Als er stirbt, da geht sie nach vorne zum Sarg, küsst sein Bild und will gehen. Obwohl die Trauerfeier noch gar nicht angefangen hat.
„Ich geh jetzt auch“, sagt sie.
Einen Monat später ist sie gestorben.
Beide sterben nur einen Monat auseinander. Darum können ihre beiden Urnen gemeinsam beigesetzt werden. Sie werden in die Erde gelegt und der Pastor sagt:
Keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber.
Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebendige Herr sei. (Röm 14,7-9)
Wenn Du Gott finden willst, erzähl deine Lebensgeschichte.
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen.
Ich lebe nicht für mich alleine.
Ring für Ring, wie bei einem Baum wächst mein Leben, mit den Menschen meines Weges.
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen.
Ich kreise um Gott, den uralten Turm, und frage mich:
Werde ich den letzten vollbringen?
Paulus, der Apostel, hat unseren heutigen Predigttext geschrieben.
Paulus, der Menschenkenner, weiß: Mal bist du stark, mal bist du schwach in deinem Glauben.
In der Gemeinde in Rom gab es Streit und unterschiedliche Richtungen.
Die einen wollten an den alten jüdischen Traditionen festhalten.
Die anderen wollten ganz neu ihren Glauben leben.
Paulus sagt in diesen Streit der Gemeinde hinein:
Stellt euch die Frage: Was ist eure Mitte? Worum dreht es sich bei euch im Leben und Sterben?
Bei Paulus ist es Christus, der Auferstandene. Seit er ihm begegnet ist, weiß er, was im Leben und Sterben sein Trost ist.
Paulus erinnert die Gemeinde in Rom an die Mitte.
Bei allen Auseinandersetzungen, bei allen unterschiedlichen Meinungen ist da eine Mitte, um die sich alles dreht.
Du bist da.
Manchmal fragen mich die Konfirmandinnen und Kornfirmanden, wenn wir über das Glaubensbekenntnis reden: Auferstehung, ewiges Leben, wie soll das gehen?
Ich weiß es nicht so genau, sage ich dann.
Aber Gott ist da in meinem Leben.
Ich lebe nicht für mich allein.
Sollte er dann nicht auch da sein, wenn ich sterbe?
Und dann singe ich mit ihnen gemeinsamen:
„Du bist da,
du bist da
bist am Anfang der Zeit,
am Grund aller Fragen bist du.
Bist am lichten Tag,
im Dunkel der Nacht
hast du für mich schon gewacht“.
Amen
/ Inspiration Rilke Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen
Lied am Schluss (kann dann auch direkt nach der Predigt gesungen werden):
Du bist da – Text Jan von Lingen + Musik G.P Münden 2004