Liebe Gemeinde,
dünn ist das Gewand unserer Kultur. [Ablegen des Talars]
Schnell entgleitet es uns.
Darunter, dahinter, im Hirn und bei den Instinkten, ist alles bestmöglich angepasst – an die Steinzeit. So sagen die Anthropologen.
[Darunter: Fellkleid und Trinkhorn]
Denn diese Urzeit ist – nach weltgeschichtlichen Maßstäben – erst einen kleinen Augenblick lang her. Noch viel zu wenig Zeit ist für Menschen vergangen, sich auf neue Herausforderungen einzustellen.
Ötzi, der wohl berühmteste Mumienmensch der Welt, den Wanderer vor 25 Jahren in den Ötztaler Alpen fand, ist auch erst 5000 Jahre alt. Er lebte am Ende der sogenannten Steinzeit.
Aber das Forschen und Suchen geht weiter und reicht weiter zurück, bis zu zur entscheidenden Frage aus Psalm 8:
Was ist der Mensch?
Was genau macht den Menschen zum Menschen?[1]
Es ist immer noch strittig unter denen, die nach Knochen graben, die zu rekonstruieren versuchen, was war: Was unterscheidet Mensch und Tier?
Ist es das Wetter, das Frieren – spätestens im Herbst – , das dazu führt, dass sich schon lange vor Ötzi die Bewohner dieser Weltgegenden aus Fellen warme Kleider nähen mussten? Und dafür feine Werkzeuge brauchten.
Ist es die Tatsache, dass Menschen Vorräte anlegen können? Ötzi hatte getrockneten Schwarzdorn im Rucksack, so etwas wie hochdosierte Vitamintabletten. Ist es menschlich, dass man nicht von der Hand in den Mund leben muss wie die Tiere von der Pfote ins Maul?
Findige Forscher kamen auch darauf, dass es der bewegliche und deshalb geschickte Daumen sei und der aufrechte Gang, der für Weitblick sorgt.
Aber die Pinguine stehen fast aufrechter und mahnender in ihrer Antarktis und hoffen, dass die Menschen endlich Vernunft annehmen – und dafür sorgen, dass es kalt genug bleibt.
Ist es menschlich, Feuer zu machen? Ötzi hatte in einem geteerten Topf aus Birkenrinde mit Glut dabei, um bei Bedarf jederzeit ein Feuer anzuzünden. Viel weiter sind wir mit unseren Hightech-Outdoor-Ausrüstungen auch noch nicht.
Was macht den Menschen zum Menschen?
Die Entwicklungsgeschichte der Menschheit verlief nicht einlinig, so viel wissen wir inzwischen. Sie verästelte sich in zahlreiche Seitenlinien. So wie es heute Löwe und Kätzchen, Puma und Tiger gleichzeitig gibt, bevölkerten über Jahrmillionen ganz verschiedene Menschenarten die Erde. Aber warum haben genau unsere Vorfahren überlebt? Da kommt Erstaunliches ans Licht, neuerdings besonders in Kenia, am Turkana-See.
Dort, in Afrika, fand man heraus:
Es kommt nicht auf den beweglichen Daumen an, der für Computerspiele später wichtig wurde.
Es kommt nicht auf extreme Geschicklichkeit an, sondern auf viel Phantasie, räumliches Vorstellungsvermögen und gute Lehrer und Schüler. Allein findet kein Wesen den richtigen Weg. Die vorzeitlichen Werkzeugmacher müssen fähig gewesen sein, zu kommunizieren und voneinander zu lernen.
Die ersten Sprachen sind nicht erhalten geblieben.
Spuren an den afrikanischen Fundstücken aus Stein verraten jedoch, dass es keine Waffen waren. Die Steinklingen dienten dazu, Nüsse zu knacken und Pflanzenknollen zu zerteilen, um Insekten in Baumstämmen freizulegen.
Unsere Vorfahren lange vor Ötzi halfen sich mit Werkzeugen und Intelligenz, während der sogenannte Nussknackermensch sich auf seine besseren Zähne verlassen musste und auf seine Bärenkräfte.
So gab es während Millionen von Jahren in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit wahrscheinlich zwei unterschiedliche Lösungen für dieselben Probleme: Kraft oder Verstand.
Auf lange Sicht waren Geschöpfe im Vorteil, die auf Geist setzen statt auf Gewalt. Denn Körperkraft stößt an Grenzen. Beine müssen immer etwas schneller sein, so dass ein Menschenwesen seinen Feinden entkommt.
Verstand hingegen schafft ungeahnte Möglichkeiten, die noch mehr Verstand erstrebenswert machen. Um zu lernen und andere zu lehren, braucht es Kommunikation und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Beides verlangt ein ziemlich ausgereiftes Gehirn.
Je mehr Nahrung die intelligenter werdenden Wesen aber zur Verfügung hatten, umso leistungsfähiger konnten die Gehirne werden.
Fazit dieser langen Vorrede über unsere noch längere Vorgeschichte:
Geist ist viel besser als Gewalt!
Das gehört zum A und O der Bibel, am Anfang und am Ende und unzählige Male dazwischen wiederholt sie dieses Motto:
Geist statt Gewalt!
Die Schöpfungsgeschichten fangen mit dem Geist an und verurteilen sogleich die erste Gewalt.
Die Offenbarung des Johannes endet mit einer großartigen Vision vom Ende der Gewalt.
Die Knochen unserer Vorfahren offenbaren es den Archäologen auch:„Vielleicht haben weder die Intelligenz noch die Kultur, das Feuer oder der bewegliche Daumen unsere Ahnen zu Menschen gemacht. Vielleicht waren diese Errungenschaften, vielleicht war sogar die ganze Menschheitsgeschichte nur die Folge unserer Zerbrechlichkeit.
Nur wer mit seinem unvollkommenen Körper die Gemeinschaft suchte und bei ihr Schutz fand, dem gelang es zu überleben. Alle anderen Hominiden, [also menschenähnlichen Wesen, DG] scheiterten früher oder später an ihrer feindlichen Umwelt.“[2]
Woran man das heute noch erkennen kann?
An den vielen Knochen.
An den vielen Knochen mit den schweren, aber verheilten Knochenbrüchen. Eigentlich jedes andere Geschöpf wäre mit derartigen Frakturen zugrunde gegangen. Unsere Vorfahren waren schon menschlich genug, um einander zu helfen, so dass Kranke und Schwache überlebt haben, auch wenn sie selbst nicht jagen konnten. Überschaut man die großen Zeitalter, muss man zusammenfassen: Überlebt haben diejenigen, die auf den Geist statt auf Gewalt setzten – und alle, die die Schwächsten nicht zurückließen und dem Tod preisgaben, sondern sie pflegten und die Geduld hatten, Kranke zu versorgen.
Wer sind unsere Vorfahren?
Was ist der Mensch?
Im Rückblick wird es klar: Alle, die geistreich halfen und sich helfen ließen. Überlebt haben nicht die Starken, sondern diejenigen, die geholfen haben. Und überlebt haben diejenigen, die ohne Hilfe nicht überlebt hätten.
Dünn ist das Gewand dieser Kultur. [Anlegen des Talars]
Sorgfältig müssen wir es hüten und pfleglich damit umgehen.
Damit sind wir unmittelbar bei Paulus und seinem Schreiben über reiche Saat und Ernte, über fröhliche Geber – und zu guter Letzt wird das Ganze eine Predigt. Nur weniges muss ich heute den Geschichten, die die alten Knochen erzählen, noch hinzufügen.
Erstens: Gott ist der erste fröhliche Geber aller guten Gaben. In Psalm 112 heißt es: »Großzügig gibt er den Bedürftigen; seine Wohltätigkeit wird in Ewigkeit nicht vergessen werden.«
Er wird euch so reich machen, dass ihr jederzeit freigebig sein könnt.
Paulus schreibt es nur ab.
Gott gibt zuerst. Er hat angefangen.
Er hat geschaffen, was zum Leben taugt – und eine Überfülle darüber hinaus.
Schon seit Millionen Jahren war einigen, aber Paulus dann gänzlich klar: Purer Egoismus tötet.
Wohlgemerkt und an den Knochen studiert:
Purer, kraftstrotzender Egoismus tötet nicht irgendwen, sondern zuletzt den Egoisten selbst.
Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft sind nicht nur ein Zeichen von großem Geist und weitem Herzen, sondern ein entscheidender Überlebensvorteil. Finden unsere Wissenschaftler.
Es ist die Gelegenheit, Gott zu loben und sich bewusst zu werden, woher alles Gute kommt. So schreibt es Paulus:
6 Denkt daran: Wer spärlich sät, wird nur wenig ernten. Aber wer mit vollen Händen sät, auf den wartet eine reiche Ernte. 7 Jeder soll so viel geben, wie er sich in seinem Herzen vorgenommen hat. Es soll ihm nicht Leid tun und er soll es auch nicht nur geben, weil er sich dazu gezwungen fühlt. Gott liebt fröhliche Geber! (2.Kor 9,6f, Zürcher Bibel)
Es ist alles edel, gut, nützlich und überlebenswichtig, was sich beim Nachrechnen kaum oder gar nicht lohnt:
Geben und teilen, Geduld haben mit denen, die nichts zu geben oder zu teilen haben, geradezu verschwenderisch sein.
Wir sehen es den Knochen nicht mehr an, aber Paulus betont es: Fröhlich soll das alles geschehen. Guten Mutes sollen wir sein. Paulus muss diesen guten Mut gehabt haben, sonst hätte er sich nicht auf solch gefährliche Reisen begeben, sonst hätte er es nicht gewagt.
Dabei ist es dann nicht verboten, an wirklich alle, also auch an sich zu denken! Denn Paulus ist auf einer Reise zum Geldsammeln: die Korinther sollen Geld und Gaben zusammentragen für die Gemeinde in Jerusalem. Paulus drückt es – zugegeben – etwas umständlich aus, was er auch für sich hofft:
12 Dieser Liebesdienst soll ja nicht nur die Not der Gemeinde in Jerusalem lindern, sondern darüber hinaus viele Menschen zum Dank gegen Gott bewegen. 13 Wenn ihr euch in dieser Sache bewährt, werden die Brüder und Schwestern in Jerusalem Gott dafür preisen. Sie werden ihm danken, dass ihr so treu zur Guten Nachricht* von Christus steht und so selbstverständlich mit ihnen und mit allen teilt. 14 Und weil sie sehen, dass Gott euch in so überreichem Maß seine Gnade erwiesen hat, werden sie für euch beten und sich nach euch sehnen. (2.Kor 9,12-14),
Zuletzt erinnert er noch einmal daran:
15 Lasst uns Gott danken für sein unsagbar großes Geschenk! (2.Kor 9,15)
Das ist menschlich.
Dünn ist das Gewand unserer Kultur.
Allzu oft entgleitet es uns.
Dann herrschen Tod und Verzweiflung. Überall dort, wo wir nicht nur Hilfsgelder, sondern auch unsere ausgeklügelten Waffen hinschicken.
Dünn ist das Gewand unserer Kultur.
Sorgfältig müssen wir es hüten und pfleglich damit umgehen.
Darunter, dahinter, im Hirn und bei den Instinkten, ist alles bestmöglich angepasst – an die Steinzeit. Aber schon damals war es überlebenswichtig, Geist statt Gewalt herrschen zu lassen.
Dünn ist das Gewand unserer Kultur.
Gottes Geist wirkt unablässig daran, es dichter zu weben.
Geben wir fröhlich das Unsere dazu!
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.