Durch Liebe in Liebe - Predigt zu Lukas 7, 36-50 von Ralf Hoburg
7,36
Durch Liebe in Liebe
Immer, wenn ich von Auslandsreisen – ob aus dem Urlaub oder beruflich – nach Deutschland zurückkehre, spüre ich unweigerlich, dass der Umgangston hierzulande unhöflich ist. Die zunehmend bürokratisch verwaltete bundesdeutsche Gesellschaft ist nicht nur an ihren Rändern, sondern in ihrer Mitte ein wenig „lieblos“ geworden. Wie oft passiert es mir, dass ich in einer gewissen verbalen Ruppigkeit im Einkaufsladen angesprochen werde nach der Devise: „Platz da, jetzt komm ich...“ oder mir in Geschäften oder Verwaltungen von Mitarbeitenden schlichtes Desinteresse an meinem Anliegen signalisiert wird. Es ist – so scheint es mir – die alte Mentalität, die eher in einer Mangelgesellschaft zu finden war: „Geht nicht – kann ich nicht – hab‘ ich nicht... Gibt’s hier nicht.“ Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass das „Hupen“ im Straßenverkehr exorbitant zugenommen hat? Mit dem Hupen signalisiert der Fahrer doch nur eines: Spring‘ mal schnell zur Seite, denn jetzt komme ich... und ich habe Vorfahrt. In diesen Momenten möchte ich nur eines: „raus aus Deutschland...“! Und offensichtlich geht es ja vielen jungen Menschen ähnlich, die nach dem Abitur nach der 12. Klasse erst mal nur eines wollen: „chillen“ und mit „work and travel“ in Australien dieser von ihnen empfundenen Sinnlosigkeit hierzulande entfliehen. Es ist schon beängstigend, dass im europäischen Vergleich der Alkoholkonsum in Deutschland laut Drogenbericht der Bundesregierung stark gestiegen ist.
Damit will ich nicht sagen, dass es nicht auch viel soziales Engagement gibt, fürsorgliche Nachbarschaftshilfe und eine Kultur des Helfens. Ich würde den vielen Initiativen und sozialen Vereinen nicht gerecht, die es zwischen Tafel-Bewegung, Hospizarbeit und ehrenamtlicher Sozialarbeit gibt. Es gibt viele Menschen, die Anderen Gutes tun und so wie die Frau in der Erzählung aus dem Lukasevangelium die geplagten Füße des Nächsten mit Tränen benetzt und mit Öl salbt. (V. 44+46) Eine moderne Gesellschaft ist komplexer und in sich vielgestaltig und weist immer parallel verlaufende Tendenzen auf. Aber im Ganzen kann ich mich des Eindrucks eines gewissen Lebensfrustes trotz der Lärmigkeit auf hunderten von Weindorffesten oder Stadtsommerfesten mit Bier, Musik und Trallala auf Musik-Bühnen nicht erwehren.  Mir scheint, dass zuweilen der äußeren Dekadenz eine innere Leere entspricht, die man vielleicht mit demokratischem Sinnverlust beschreiben kann.  Dies findet sich im übrigen nicht nur in Deutschland, sondern auch andernorts, wie ich jüngst in Schweden entdecken konnte. Es sind für mich die äußeren Anzeichen einer „Ego-Gesellschaft“, die den Verlust der bürgerlichen Mitte ausmachen.  Der Bestseller-Titel von Richard David Precht, „Die Kunst, kein Egoist zu sein“ appelliert an die Moral des Guten und diagnostiziert, dass wir einen besseren Umgang miteinander brauchen. Auch wenn die Rede vom „Verlust der Werte“ oftmals etwas holzschnittartig daher kommt, zeigt die Analyse von Precht für mich vor allem, dass der „Umgang“ miteinander sich von einem wohlwollenden Grundton zu einem aggressiven Unterton gewandelt hat. Ob im beruflichen Alltag, wo Kommunikationsprobleme, Mobbing und Burn out Menschen oftmals an ihre Grenzen führen oder bei alltäglichen Begegnungen findet sich die Spur nörgelnder Missmutigkeit, die sich oft auch in den Gesichtern der Vorbeigehenden oder mir flüchtig Begegnenden zu finden ist. Das „Für-Sein“, d.h. dem Anderen Gutes zu wollen, bleibt immer öfter auf der Strecke. Unterstellt wird zuerst eine „böse“ Absicht:  So wurden etwa jüngst die vielen gut arbeitenden Professoren in Niedersachsen durch das zuständige Ministerium in einer Verbalattacke als “raffgierig“ bezeichnet. Wie oft geschieht es, dass dem anderen eine „böse“ Absicht des Handelns unterstellt wird und nicht mehr die Suche nach gemeinsamen Lösungen im Vordergrund steht. Die meisten Menschen werden diese Erfahrung vermutlich aus dem eigenen Lebensalltag kennen.  
Gibt es hierfür Gründe oder Ursachen? Mir scheint, dass neben politischen und soziologischen Analysen der Predigttext für diese Woche, die Erzählung von Jesu Salbung durch die Sünderin, wie sie im Lukasevangelium beschrieben wird, hier eine Spur zeigen kann.
Der Verlust der Gnade
Es gibt bei dieser Erzählung verschiedene Stolpersteine, die schon beim ersten Lesen auffallen und durch die man sich leicht gedanklich verheddern kann. Dabei soll auch zur Deutung der Erzählung zunächst nicht interessieren, dass in dieser Perikope zwei Erzählstränge vom Evangelisten Lukas parallel verarbeitet werden, nämlich die Beispielerzählung von dem Erlass der Schulden (V. 40-43) und der Rahmenerzählung von der Sünderin (V. 37-39; V. 44-50). Beide Teile werden durch das zentrale Logion in V 47 zusammengeführt, in dessen Mitte das Thema der Vergebung steht. Ich bin beim Lesen spontan auf einen Halbsatz in dem zentralen Jesus-Logion in V 47 aufmerksam geworden, wenn es dort heißt: „wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig“. (V. 47b) Es ist offensichtlich, dass in der Verkündigung von Jesu von Nazareth ein inneren Zusammenhang von Vergebung und Liebe aufgebaut wird, der aus meiner Sicht einzig und allein aus der Reich-Gottes Predigt abgeleitet werden kann. Im Horizont des Reiches Gottes ist die Vergebung Gottes, die durch den stellvertretenden Tod Christi  möglich geworden ist, der Ermöglichungsgrund der Liebesfähigkeit des Menschen. Es kommt mir dabei die Erkenntnis des Reformators Martin Luthers in den Sinn, der den lateinischen Satz prägte: „pecca fortiter, sed fortiter fide“, m.a.W. sündige kräftig, aber noch kräftiger glaube. Verallgemeinert lässt sich theologisch formulieren: Vergebung macht Liebe erst möglich. Das klingt wie eine sehr steile Aussage und ist in seiner Absolutheit in heutigen Lebenskontexten auch schnell angreifbar, denn es impliziert eine Ausschließlichkeit, die andere Zugangsformen zur Liebesfähigkeit – etwa humanistischer oder allgemein ethischer oder religiöser Natur – nicht zulässt.  
Geht man dem Sinn des Textes nach, so existieren sowohl eine positive Verstärkung und als auch eine negative Mangelerfahrung gleichermaßen. Spannend empfinde ich hier im Kontext dessen, was ich eingangs beschrieben habe, die negative Seite, die doch besagt: existiert ein „Verlust“ an Vergebung, führt dies zu einer Abnahme von Liebesfähigkeit auf der anderen Seite. Etwas keck formuliert könnte dies zu der Annahme führen, dass dort wo keine Vergebung mehr existiert, das Zusammenleben von Menschen in eine Form von Lieblosigkeit verkommt. Diesen inneren Zusammenhang finde ich nun als Grundlage einer Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der wir uns gegenwärtig befinden, hoch interessant. Lässt sich auf die Gesellschaft von heute das vor gut 50 Jahre von dem Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter in der Situation einer Verweigerung zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit geprägte Wort von der „Unfähigkeit zu trauern“ umprägen auf die Vermutung, dass wir heutzutage an der „Unfähigkeit zu vergeben“ leiden? Hier ergeben sich spannende Zusammenhänge zwischen den Negativ- und Positivkreisläufen, die auch in dem Bibeltext vorkommen.  Die Unfähigkeit des Vergebens führt zu einer mangelnden „Kunst des Liebens“, wie Erich Fromm beschrieb und was ist die Moral ohne die Basis einer Vergebung oder eines „moralischen Gesetzgebers“, wie Immanuel Kant philosophiert? Die „Kunst, kein Egoist“ zu sein, wie Richard David Precht fordert, braucht also als Grundlage die Religion oder zumindest dessen, was die Grundlage einer jeden Religion bildet, nämlich den Glauben an die metaphysische Ebene.
Denkt man diesen Gedanken weiter, so tun sich viele Aspekte auf. Basiert die Unterstellung, der Andere habe primär „böses“ im Sinn, wie es in Mobbing- und Arbeitszusammenhängen  oft der Fall ist, auf der Unfähigkeit zur Vergebung? Ist die „Lieblosigkeit“ eine Folge von der Unlust zu vergeben? Konflikte im beruflichen und zwischenmenschlichen Umfeld beruhen oft darauf, dass Menschen nicht bereit sind zuzugeben, eigene Fehler zu machen und dann dem Anderen auch Fehler zugestehen können.  
Der „Mehrwert“ der Vergebung ist Liebe
Die Sünderin in der Erzählung im Lukasevangelium  hat viel Liebe gegeben. Ihre Haltung Jesu von Nazareth gegenüber spiegelt die Erkenntnis, dass ihr vergeben wurde. Aber die Grundlage ihres eigenen Verhaltens ist die „Spiegelung“ des Verhaltens Jesu. Seine Haltung der Annahme und Liebe bildet die Basis ihres liebenden Verhaltens. Am Anfang dieses sonderbaren Kommunikationszusammenhanges zwischen Jesus und der Sünderin steht wohl ein innerer Erkenntnisprozess. So beginnt die Erzählung in V. 37 damit, dass die Information über die Gegenwart Jesu im Hause des Pharisäers (was schon an sich im Kontext des lukanischen Evangeliums eine Besonderheit darstellt), dazu führt, dass die sog. „Sünderin“ offensichtlich einem inneren Impuls folgend, handelt und ein Glas mit Salböl bringt. Dies ist eine Geste, die im jüdischen Alltagszusammenhang dem Gast eine besondere Aufmerksamkeit entgegenbringt und ihm „Ehre“ erweist. Man kann auch sagen, dass sich darin eine Geste der „Fürsorge“ wiederspeigelt, die aber gleichsam auch im Kontext der Erzählung der Besonderheit des Gastes Rechnung trägt. Dies wird damit unterstrichen, dass sie im Augenblick der Begegnung anfängt zu weinen. Ein Exeget unserer Zeit schreibt hierzu in einer früheren Auslegung des Textes, dass es wohl mitnichten Tränen der Reue seien, sondern vielmehr sie so „entspannt weint“ (Günther Klein), dass man ruhig von Freudentränen sprechen kann. Wie das Lachen so können die Tränen hier als innerer Ausdruck einer Erkenntnis gewertet werden: In Jesus von Nazareth begegnet der Sünderin persönlich der Mehrwert der Vergebung, ja man kann sagen, dass in der Kommunikation die Vergebung als Liebe gegenwärtig ist. Dies ist ein tiefer theologischer Zusammenhang, den der Theologe Eberhard Jüngel einmal mit der Metapher des Geheimnisses beschrieben hat.
Die Vergebung macht Liebe möglich und sie stiftet im Gegenüber zu Gott die Gleichheit von „Ich“ und „Du“. An dieser Stelle weite ich den Zusammenhang dieser Erzählung, die ganz und gar auf der christologischen Fixierung ruht, nämlich dass Gottes Liebe in Jesus Christus gegenwärtig ist, zugunsten der weiten jüdischen Sozialvorstellung, für die die Annahme und Liebesfähigkeit des Anderen in der Gleichheit gegenüber der Schöpfungsmacht Gottes liegt. Wenn der Neutestamentler Günther Klein hierbei von der „schöpferischen Macht“ der Vergebung spricht, liegt hier ein über den christlichen Rahmen hinausgehender sozialtheologischer Anknüpfungspunkt, der sich weiten lässt. Indem Jesus von Nazareth nicht auf der „Sündhaftigkeit“ der Frau (worin diese auch immer bestanden haben mag) beharrt, sondern ihr in würdevollem Umgang begegnet mit Respekt und in einer Kultur der Anerkennung, verwirklicht sich „gelebte Rechtfertigung“.   
Vielleicht hat die gepredigte Theologie auf den Kanzeln der protestantischen Volkskirche es seit dem Ende der großen Theologie im 20. Jahrhundert verlernt, die elementaren Prozesse von Vergebung und Rechtfertigung aus der Mitte des Lebens, sozusagen als „gelebte“ Rechtfertigung zu predigen. Wo wenn nicht dort ist die Reformation des 16. Jahrhunderts bei ihrer Mitte. Stattdessen lese und höre ich in langweilender Eintönigkeit kirchenamtliches Gefasele von „Spiritualität“. Wie aber erwächst die Liebe als Quelle des erneuerten Lebens, wenn in der Kirche nur noch am Rande von Gnade und Rechtfertigung die Rede ist und die Rechtfertigungstheologie der Reformation zum unnützen Lehrstoff universitärer Seminare  degradiert wird?
Die Erzählung im Lukasevangelium verdeutlicht die positive Sprengkraft der Vergebung: Sie öffnet Herzen, wo vermuteter Missgunst dem Anderen immer Böses unterstellt. Friedrich Nietzsche rief einst der Kirche des 19. Jahrhunderts zu: „Erlöster müßten die Christen sein“. Schließe ich die Augen und stelle ich mir die Begegnung zwischen Jesus und der Sünderin vor – und viele anderen Geschichten und Erzählungen vom blinden Barthimäus bis zum Zöllner Zachäus und vor allem der wunderbaren Erzählung von Maria und Marta wären hier ebenfalls zu nennen – ,  so zeigt sich mir in allen Geschichten immer wieder der lebensbejahende Zusammenhang von Vergebung und Liebe: aus der Vergebung heraus begegne ich dem anderen Menschen einfach anders. Wer im 21. Jahrhundert an die Reformation erinnern will, der kommt an diesem Zusammenhang nicht vorbei. Aber er versteht auch, dass dies nicht allein ein christliches Erbe ist, sondern einen tiefen inneren Zusammenhang von Judentum – Christentum – Islam darstellt, denn in allen drei Religionen wird die Liebe zum Nächsten aus der Gottesbeziehung heraus möglich. Eine Gesellschaft, die dieses religiöse Erbe wach hält, kann hoffentlich der Gefahr entgehen, „lieblos“ zu werden und zu einer Gesellschaft von „Egomanen“ zu degenerieren.
Durch Liebe in Liebe... heisst mit der Erzählung aus dem Lukasevangelium gesprochen: hinschauen und sich einüben in eine Kultur gegenseitiger Anerkennung und Achtsamkeit!   Und auch dies ist mir schon beim Einkaufen durchaus begegnet...
Perikope
11.08.2013
7,36