Ein anderer Advent – Predigt zu Jesaja 63,15-19b; 64,1-3 von Norbert Stahl
63,15-19b; 64,1-3

Süßer die Kassen nie klingen

15% auf alle Weihnachtsartikel. 20% Rabatt auf den gesamten Einkauf - mit Ausnahme rezeptpflichtiger Arzneimittel und Zuzahlungen. Gutschein für eine hochwertige Parkscheibe. So klingt es hinter den Türchen eines Adventskalenders, der mir in diesen Tagen ins Haus flatterte. Rabatte und Geschenkaktionen aller Orten. Viele Geschäfte haben die gesamte Adventszeit hindurch jeden Wochentag bis 22 Uhr geöffnet. An den Adventssamstagen bis 24 Uhr. So viel zur besinnlichen Adventszeit. Immer verlockender, immer massiver werden wir angegangen. Es geht um unser Geld. Um Konsum. Um Umsatz und Gewinn. Die Verballhornung von Süßer die Glocken nie klingen" hat Recht: "Süßer die Kassen nie klingen, als zu der Weihnachtszeit!" Mit Jesaja klage ich:

"Ach Gott, sieh doch herab von deiner heiligen herrlichen Wohnung! Warum lässt du uns abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken?"

Am 25. November

Sie wollten einfach nur ein besseres Leben für sich. Einfach nur in Sicherheit sein. Einen Beruf erlernen können. Mit dem Verdienst die Familie zu Hause unterstützen. In ihrer Heimat hatten sie keine Chance. Korruption, Gewalt, Niedergang. Das Leben war zu Ende, bevor es begonnen hatte. Also hatten sie die Schlepper bezahlt. Beinah ihr gesamtes Vermögen hatten sie hergegeben. Ihre Leichen wurden vor Libyen an den Strand gespült. Ungefähr 30. Darunter auch Kinder. Am 25. November war das. Am Ende dieses Jahres werden es fast 1.500 Ertrunkene sein. Wir sind auf dem besten Wege, uns an diese Zahlen zu gewöhnen. Mitten im Advent 2017. Mit Jesaja klage ich: "Ach Gott, sieh doch herab von deiner heiligen herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? … Warum lässt du uns abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken? … Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, … dass dein Name kund würde und die Völker vor dir zittern müssten!"

Schmetterlingsflieder

Es ist ein schöner Sommertag. Ich mache einen Besuch bei meinen Schwiegereltern. Vor dem Haus blüht wie jedes Jahr ein ausladender Sommerflieder. Ich verharre einen Moment. Der Strauch heißt nicht umsonst Schmetterlingsflieder. In früheren Jahren war er umschwärmt von dutzenden von Schmetterlingen. Vielleicht sehe ich einen schönen? Ich muss lange warten.  Dann endlich nähert sich ein hübscher Falter. Aber eben nur ein einziger. In den Nachrichten höre ich: Dramatischer Rückgang bei Fluginsekten. 75% weniger Tiere in den vergangenen 25 Jahren. Autos sind auch nach langen Autobahnfahrten noch sauber. Pestizide,  Herbizide und Überdüngung machen den Insekten den Garaus. Der Bundeslandwirtschaftsminister trifft gegen alle Widerstände eine einsame Entscheidung. In diesem Advent 2017. Erst sterben die Bienen, dann der Mensch.

"Ach Gott, sieh doch herab von deiner heiligen herrlichen Wohnung! Warum lässt du uns abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken? … Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab!"

Meine Klage

Liebe Gemeinde,

die Klage Jesajas hat mich motiviert, in meine eigene Zeit und Gesellschaft zu blicken. Ich habe mich anstecken lassen von Jesaja. Und auch wenn unsere gesamtgesellschaftliche Situation mit der der Israeliten zur Zeit Jesajas nicht vergleichbar ist – Grund zur Klage gibt es auch heute. Klagen hat ja etwas Befreiendes. Ich kann Gott es wenigstens sagen, woran ich leide: An der Oberflächlichkeit, an der Unmenschlichkeit, an der Gleichgültigkeit, an der Gier. Auch wenn ich nicht gleich eine Lösung habe und erwarte. Beklagen darf ich es. Gott hält das aus. Er hat es auch bei Jesaja ausgehalten. Und die Israeliten hatten wahrlich Grund zur Klage:

Israels Klage

Sie waren vertrieben worden aus ihrer Heimat. Sie mussten im Land der Feinde leben. Jerusalem und der schöne Tempel lagen in Trümmern. Die Israeliten sind tief traurig und enttäuscht. An anderer Stelle beschreiben sie ihre Situation so: "Unsere Widersacher haben dein Heiligtum zertreten. Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest. ... Jerusalem ist zerstört. Alles, was wir Schönes hatten, ist zunichte gemacht."(63,18f; 64,9) Das ist wirklich krass. Die Israeliten hatten alles verloren, was ihnen lieb und teuer war. Das beklagen sie. Zu Recht. Und sie klagen an: Gott selbst. Über ihrem Elend und darüber, dass sie in die Irre gegangen sind: "Warum lässt du uns, Herr, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht mehr fürchten."(63,17) Diese Anklage ist freilich verräterisch. Die Israeliten geben damit auch eine Selbstbeschreibung ab: Sie waren abgeirrt, sie haben ihr Herz verschlossen, sie haben es an Gottesfurcht fehlen lassen. Sinniger wäre es also, sich mehr an die eigene Nase zu fassen. Sich zu selbstkritisch zu besinnen und umzukehren.

Buße und Fasten

Früher war die Adventszeit einmal eine solche Zeit selbstkritischer Besinnung. Eine Zeit, in der man sich bewusst fragte: Was war falsch? In den vergangenen Wochen, im vergangenen Jahr? Wo habe ich es an der Liebe zu meinen Mitmenschen fehlen lassen? Was bin ich mir und anderen schuldig geblieben? Wo muss ich mich ändern? Und die Adventszeit war eine Zeit des Fastens. Eine Zeit also, in der man nicht bereits die Weihnachtsfreuden und das Festessen vorwegnahm. Heute kann man die Spekulatius und die Gänse an Weihnachten ja schon nicht mehr sehen, weil man einfach schon zu viel davon gegessen hat, bevor das eigentliche Fest beginnt. Darin, die alten Bräuche von Besinnung und bewusstem Verzicht wieder zu beleben, läge eine Chance. Advent und Weihnachten könnten neuen Tiefgang gewinnen!

Mein Anteil am Ganzen

Das wäre auch eine gute Antwort auf meine anfänglichen Klagen. Ja, es tut mir gut, das alles einmal aussprechen und beklagen zu dürfen. Ich bin dankbar, dass ich meine Ratlosigkeit nicht in mich reinfressen muss, sondern auch einmal in solche Worte fassen darf. Das hat etwas Befreiendes. Ich verschaffe mir Luft. Nun kann ich fragen, was mein Anteil daran ist, dass es so ist, wie es ist. Wo lasse ich mich mitreißen vom Konsumrausch? Wo mache ich unkritisch mit bei dem, was alle tun? Wo bin ich gleichgültig gegenüber dem Leid und Elend anderer? Wo bin ich zu leise, wenn andere behaupten "Das Boot ist voll!" Wo bin ich zu geizig einen angemessenen Preis zu zahlen für gutes Essen, für faire Produkte? Fair für Mensch und Tier. Dass es so ist wie es ist, liegt ja auch an mir.

"Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab" - ja, führest herab mir ins Herz! Auf dass ich ehrlich werde vor mir selbst. Auf dass ich bereit werde zum Verzicht. Auf dass ich die Apathie überwinde und fähig werde zur Solidarität mit Mensch und Tier. Und auf diese Weise so viel gewinne: Tiefgang und Wahrhaftigkeit. Einen ganz neuen Genuss, weil nicht alles schon mehrfach vorweggenommen ist. Und Menschlichkeit. Und eine Kultur der Hilfsbereitschaft und Güte. Und ein neues Verhältnis zu meinem Gott.

Der andere Advent

Gott sei Dank: viele Menschen sind schon auf diesem Weg.  Es gibt nicht nur die kommerziellen Weihnachtsmärkte. Es gibt auch jene, bei denen die ortsansässigen Vereine für ihre oder eine andere gute Sache sammeln und spenden. Es gibt die Vielen, die mit Kranken und Leidenden Advent feiern - im Krankenhaus oder in Alten- und Pflegeheimen. Es gibt immer noch tausende, die in Flüchtlingsinitiativen die Fremden willkommen heißen und sie begleiten. Es gibt ihn: den anderen Advent. Übrigens auch buchstäblich: In Form eines Kalenders, der inzwischen in einer Auflage von 650.000 Exemplaren erscheint.

Gott sei Dank, es gibt ihn, den anderen Advent! Jenen der mich zu einer neuen Begegnung führt mit mir selbst, mit den anderen und mit Gott.

Amen.

Perikope
10.12.2017
63,15-19b; 64,1-3