Seit über einem Jahr singen wir nicht in unseren Gottesdiensten. Wir hören Lieder, wenn Solisten sie uns singen. Wir hören Liedtexte, wenn sie vorgelesen werden, und hören die Melodie von der Orgel. Wir hören auch andere Musik. Doch gemeinsam, zusammen zu singen, das fehlt uns. Und zu Ostern vermissen wir das besonders schmerzlich. Denn unsere Osterlieder sind froh und gelöst, ausgelassen, jubelnd. In kaum einer anderen Zeit im Jahr singen wir so häufig Halleluja: den Aufruf, den HERRN, den Gott Israels, zu loben und zu preisen. In unserem heutigen Predigttext spielt das Singen eine große Rolle. Ein Lobgesang von Vielen– eine Einladung, wenigstens im Geist und im Herzen miteinzustimmen; und so auch – das gehört zum Singen ja dazu – ein wenig aufzuatmen.
Der Text steht im letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung des Johannes. Oder an Johannes. Auf Griechisch: Apokalypse. Wenn wir „apokalyptisch“ sagen, meinen wir meist katastrophale Zustände und Ereignisse. Nicht ohne Anhaltspunkt, denn von Katastrophen ist in diesem Buch in der Tat die Rede. Aber Apokalypse meint nicht Katastrophe, nicht Weltuntergang, sondern Enthüllung. Einem Seher ist gegeben, einen Blick, viele Blicke hinter die Wirklichkeit zu tun, die wir sehen und wahrnehmen können. Und diese Wirklichkeit ist auch zu seiner Zeit katastrophal – Bedrängnis, Verfolgung, Mord und Terror. Er fragt sich, und viele seiner Zeitgenossen tun das auch: haben wir den Mund zu voll genommen, als wir sagten, Jesus Christus habe dem Tod die Macht genommen; als wir heiter spöttisch sangen: Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? Ist die Macht des Todes nicht völlig ungebrochen auch nach Ostern? Erleben wir nicht die Hölle auf Erden? Und vor allem: wir Jesusjünger und -jüngerinnen, Zeugen seiner Auferweckung und darum Protestleute gegen den Tod – können wir etwas bewirken und ändern oder leben wir in einer geschlossenen Welt, in der Gott und Jesus keinen Ort haben, keinen Handlungsraum – und wir darum erstrecht nicht?
Es mag sein, dass uns in diesem Jahr diese Fragen besonders nah sind. Wir haben die Macht des Todes so kräftig zu spüren bekommen. Es ist ja nicht nur die große Zahl von Menschen, die in aller Welt an den Folgen des Virus gestorben sind. Das Leben Aller ist beschränkt und bedrückt. Unser Zusammenleben nämlich, und das macht ja unser Leben lebendig, auch unser Gemeindeleben. Doch die Osterbotschaft war nie selbstverständlich oder offensichtlich – für keine Generation von Christen und Christinnen. Darum muss sie ja verkündet werden. Vielleicht haben wir in gemütlicheren, in vergleichsweise sorglosen Zeiten gemeint und auch gesagt: der Sieg des Lebens über den Tod ist doch die natürlichste Sache von der Welt, jedes Jahr in jedem Vorgarten zu sehen. Aber ein ernsthafter Trost im Leben und im Sterben war das nie. Und gerade die starken Osterlieder haben ihre Kraft dadurch, dass sie von der Todeswirklichkeit nicht absehen, sondern gegen sie ansingen: Die Trübsal trübt mir nicht mein Herz und Angesicht, das Unglück ist mein Glück, die Nacht mein Sonnenblick.
Vor dem Seher Johannes in seiner ausweglosen Lage tut sich eine Tür auf. Fast möchte man sagen: buchstäblich. Aber das ist übertrieben, denn das ganze Buch ist ja bildhafte Rede. Er sieht hinein in eine Art himmlischen Thronsaal, steht gleich schon drin. Da sitzt jemand auf dem Thron. Der Seher sagt nicht, wie der aussieht. Das ist weder für ihn noch für uns wichtig. Wichtig und tröstlich ist die Vision: der Gott Israels, der Gott der Bibel, ist trotz allem auf dem Thron, sitzt im Regimente, hat nicht abgedankt. Und wichtig ist ihm auch: er hat ein Buch in der Hand. Doch das ist versiegelt mit sieben Siegeln. Und niemand ist in der Lage, dazu qualifiziert ist, das Buch zu öffnen. Darüber muss Johannes heftig weinen. Wir merken erst an seiner Verzweiflung, wie wichtig es wäre, es zu öffnen und zu lesen. Da könnte sich herausstellen, dass die ganze Geschichte doch Sinn hat, die so verzweifelt sinnlos zu sein scheint und die so grausam ist – die große Weltgeschichte und unsere vielen kleinen Lebensgeschichten; dass sich alles klärt; dass sich Trost findet, Hilfe zum Leben.
Da wurde dem Seher zwar eine Tür aufgetan, aber nun steht er wieder vor einer verschlossenen Wirklichkeit. Doch einer der Engel sagt ihm: weine nicht! Der Löwe aus Juda hat gesiegt, das Buch zu öffnen – nicht irgendein reißendes Raubtier, sondern der Repräsentant, die Personifikation des jüdischen Volks. Da beginnt unser Predigttext:
Ich sah: in der Mitte des Throns und der vier Lebewesen und in der Mitte der Ältesten stand ein Lamm wie geschlachtet. Es hatte sieben Hörner und sieben Augen. Das sind die sieben Geister Gottes, ausgesandt auf die ganze Erde. Und es kam und es nahm aus der Rechten dessen, der auf dem Thron sitzt. Und als es das Buch genommen hatte, fielen vor dem Lamm nieder die vier Lebewesen und die vierundzwanzig Ältesten, jeder hatte eine Harfe und goldene Schalen voll Räucherwerk; das sind die Gebete der Heiligen. Und sie singen ein neues Lied: du bist würdig, zu nehmen das Buch und seine Siegel zu öffnen. Denn du wurdest geschlachtet und hast erkauft mit deinem Blut für Gott aus allen Stämmen und Sprachen und aus dem Volk und aus den Völkern und machtest sie für unseren Gott zu einem Königreich und zu Priestern, dass sie regieren auf Erden. Und ich sah und ich hörte die Stimme vieler Engel rings um den Thron und die Lebewesen und die Ältesten. Und ihre Zahl war Abertausende um Abertausende, Tausende um Tausende. Sie sagten mit gewaltiger Stimme: würdig ist das geschlachtete Lamm zu empfangen die Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Herrlichkeit und Lobpreis. Und alle Geschöpfe im Himmel und auf der Erde und unter der Erde und auf dem Meer und alles, was darin ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm der Lobpreis und die Ehre und die Herrlichkeit und die Herrschaft in Ewigkeit um Ewigkeit! Und die vier Lebewesen sagten: Amen. Und die Ältesten fielen nieder und beteten an.
Der Löwe entpuppt sich als ein Lamm, das wie geschlachtet aussieht. Doch es lebt. Es ist auch kein Opferlamm, eher ein Böckchen, ein Leithammel; seine Hörner deuten Kampfkraft an. Aber es wurde geschlachtet, es wurde ermordet, es steht für alle Ermordeten – und es steht in der Mitte. Es ist uns gut, dass die Gequälten heute in den Mittelpunkt gerückt werden. Wir hatten sie, bedrängt und bedrückt durch den langanhaltenden Ausnahmezustand, fast vergessen. Die Seuche hat zwar fast alle Menschen aller Völker betroffen, aber die Menschheit nicht geeint, die Welt nicht solidarisch gemacht. Gewalt und Unrecht, Leid und Schmerz wachsen im Schatten der Pandemie. Auch unsere Welt ist ein Schlachtfeld, doch das Bild signalisiert: die Opfer der Geschichte werden nicht Opfer bleiben, die Ermordeten werden regieren. Der Löwe aus Juda hat gesiegt, hatte der Engel gesagt – er hat gesiegt, stellt sich jetzt heraus, indem er als Lamm geschlachtet wurde. Durch seine Ermordung hat das Lamm Menschen für Gott freigekauft – Gefangene; Geiseln –, Menschen aus allen Völkern und Sprachen; der Seher kann gar nicht genug betonen, dass es sich um eine Internationale handelt.
Der große Gesang, das neue Lied hebt an, als das Lamm das Buch empfängt – noch ist kein Siegel geöffnet. Wer singt? Zu den Osterbräuchen gehört das Suchen und Finden von Verstecktem. Gestern haben die Kinder in ihrer gewohnten Umgebung Überraschendes entdeckt. Das versuchen wir heute auch. Johannes will enthüllen, drückt sich aber selbst in einer sehr verhüllten, geheimnisvollen Sprache aus. Zum einen handelt es sich um Untergrundliteratur – da ist es gut, Mitteilungen zu verschlüsseln. Zum anderen, wichtiger noch: das Geschaute lässt sich nicht platt direkt sagen, nur in poetischer Sprache, in Sprachbildern. Und Johannes ist nicht nur ein großer Visionär, sondern auch ein großer Schriftgelehrter; er findet in seiner Bibel, unserem Alten Testament sein Material. Das hilft uns, ein paar Zahlen zu entschlüsseln: die Sieben – denkt an die Schöpfungsgeschichte – steht für das Ganze, die ganze Welt, vor allem: die Welt der Völker. Für Johannes aber ist das Ganze das Falsche, eine verkehrte Welt; gott- und israel- und menschenfeindlich. Später im Buch erfahren wir, dass die Stadt Babylon, Zentrale der Ausbeutung, auf sieben Hügeln steht. Da wissen wir gleich, welche Macht mit dem Decknamen Babel gemeint ist. Mit sieben Augen hat das Lamm die Völkerwelt im Blick, sie ist – sieben Hörner – auch sein Kampfplatz. Die sieben Siegel zeigen, was dieses so entscheidende Buch verschlossen hält. Doch auch die großen Worte, die das Lied dem geschlachteten Lamm zusingt, sind sieben – und sollen sieben sein, denn Ehre, Herrlichkeit, Lobpreis sind ja strenggenommen dasselbe. Hier wird nicht nur dem Lamm zugejubelt – hier wird eine Gegenregierung ausgerufen.
Auch die Vier steht fürs Ganze, für die ganze Erde: Ost und West und Nord und Süd. Darum vier Lebewesen und die Aufzählung: Stämme, Sprachen, Volk und Völker. Und als dann nicht mehr nur tausende Engel singen, von denen wir das ja erwarten, sondern alle Geschöpfe, da werden aus den sieben großen Worten vier.
Die Zwölf steht für das Zwölf-Stämme-Volk Israel. Hier sind es vierundzwanzig Älteste, doch der Verfasser hat die Zwölf nicht einfach verdoppelt, weil doppelt besser hält. Erst spät im Buch erfahren wir, dass er die zwölf Stämme und die zwölf Apostel addiert: die Ältesten stehen – und singen – für Israel und die Kirche.
Ein großer Gesang – erst diese vier Wesen und die Ältesten, dann Tausende von Engeln, schließlich alle Geschöpfe. Und das Lied gilt einem Ermordeten – ein Osterlied, in dem der Karfreitag deutlich mitschwingt, mitklingt. Leonard Cohen, der von Liedern, von poetischer Sprache was versteht, singt von einem gebrochenen Halleluja. Dieses Lied ist so eins, zumal das geheimnisvolle Buch noch nicht geöffnet ist und das Buch des Johannes, es besteht selbst aus sieben Teilen, noch nicht zuende. Und noch wird gemordet.
Vielleicht ist euch in früheren Jahren ein Kontrast aufgefallen: unsere Osterlieder jubeln überschwänglich und übermütig in Worten und in Tönen. Unsere Ostertexte aber klingen zurückhaltender, benommen und beklommen. Das Osterevangelium endet mit panischem Entsetzen. Auch die Emmaus-Geschichte hat eine fahle, bewölkte Atmosphäre, obwohl wir ihr unseren österlichen Wechselruf verdanken, dass der Herr auferstanden, wahrhaftig auferstanden ist; obwohl die Jünger im Nachhinein gestehen, dass ihr Herz brannte.
Worüber man nicht reden kann, hat ein sehr nüchterner Denker gesagt, darüber muss man schweigen – und im Blick auf viel Gerede können wir seinen leicht gereizten Ton verstehen. Doch die biblischen Autoren denken da anders und handeln auch anders: wovon wir – noch – nicht reden können, davon kann man bereits singen. Alle Musik ist Zukunftsmusik, auch und vielleicht gerade wortlose. Leid und Schmerz, Tränen und Tod werden nicht geleugnet, nicht überspielt, und doch hören wir eine andere, eine neue Welt anklingen, da Gott selbst alle Tränen von allen Augen abwischen wird, Leid und Schmerz und Tod nicht mehr da sein werden.
Es werden Tage kommen, auch Ostertage – jeder Sonntag ist ja Ostern –, an denen wir wieder zusammen singen werden, einstimmen in den großen Gesang, von dem heute nur erzählt wurde. Einstweilen aber hören wir, was Andere singen und gesungen haben, hören auch, was in der Musik ohne Worte mitschwingt und mitklingt: ein gebrochenes Halleluja.
Amen.
Vorschläge für den Gottesdienst
Höchstwahrscheinlich werden wir nicht singen – davon ist in der Predigt ja die Rede. Ich schlage trotzdem Lieder vor – vielleicht gibt es Solisten, oder die Texte werden gelesen.
Nach der Begrüßung mit Offb 1,18: EG 99 oder 100,1–3
Als erste Lesung käme statt der Epistel die AT-Lesung, Jes 25, infrage, zum einen weil schon der Predigttext zur Gattung Epistel gehört, zum anderen weil hier deutlich wird, wo der Seher Johannes das Motiv vom Tränenabwischen herhat. Ich schlage trotzdem 1. Kor 15 vor, weil der Text in der Predigt zitiert wird; und danach EG 113,1.3.4. Nach Jes 25 würde 293 oder 294,1–3 gut passen.
Wer noch das Evangelische Kirchengesangbuch besitzt, könnte als Lied nach dem Evangelium die Strophen 10–12 aus „Es ist das Heil uns kommen her“ von Paul Speratus (EKG 242) auf ein Liedblatt kopieren; die 10. Strophe – eine Emmaus-Strophe – ist im jetzigen Gesangbuch gestrichen; das Lied hat dieselbe Melodie wie EG 113: eine Fortsetzung. Sonst EG 112,4–6 – auch daraus wird in der Predigt zitiert.
Nach der Predigt: EG 114,6–9; zwischen Abkündigungen und Gebet: EG 375; Schlussstrophe zwischen Gebet und Segen: 111,14.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Menschen, denen es angesichts der bedrückenden Situation schwerer als in anderen Jahren fällt, zu Ostern den Sieg des Lebens über den Tod zu feiern; ein Gottesdienst, in dem, wenn er denn überhaupt stattfindet, die Gemeinde nicht singen wird; Menschen, die zurzeit Gottesdienste wie alles andere leibliche Zusammenkommen scheuen und meiden, aber eine Osterpredigt wenigstens lesen möchten.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
In diesem Ostertext schwingt und klingt deutlich der Karfreitag mit. Das scheint mir in diesem Jahr besonders hilfreich zu sein.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Der Kontrast zwischen dem starken Bild eines geschlachteten Lamms und dem Lobge-sang von Vielen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Auf Anregung meines Coaches habe ich fast alle langen Sätze in kurze umgewandelt.