Ein Geheimnis und ein Rätsel - Predigt zu Römer 11,25–32 von Matthias Loerbroks
11,25-32

Ich will nicht, dass ihr dieses Geheimnis ignoriert, Geschwister, damit ihr nicht etwa in euch selbst klug seid: Verhärtung ist Israel geschehen zu einem Teil, bis die Fülle der Völker hineinkommt; und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht: Aus Zion wird kommen der Löser, der wird abwenden Untreue von Jakob. Und dies ist von mir her der Bund mit ihnen, wenn ich erlasse ihre Sünden. Im Blick aufs Evangelium sind sie zwar Feinde – um euretwillen. Im Blick auf die Erwählung aber Geliebte – um der Väter willen. Nicht bereut sind nämlich die Gnadengaben und Berufungen Gottes. Denn wie ihr einst Gott ungehorsam wart, jetzt aber Erbarmen erfahren habt durch ihren Ungehorsam, so sind auch sie jetzt ungehorsam dem Erbarmen für euch, damit auch sie jetzt Erbarmen erfahren. Denn zusammengeschlossen hat Gott alle im Ungehorsam, um sich aller zu erbarmen.

I. Geheimnis Israel: Volk – Land – Sprache

Mit Israel, mit dem jüdischen Volk ist es geheimnisvoll. Da gibt es deutsche Juden und französische, Juden in den Vereinigten Staaten und in Russland, in Südafrika, Argentinien, in Indien und in vielen anderen Ländern und Völkern, und sie sind alle Söhne und Töchter ihrer Völker, loyale Staatsbürger ihrer Länder – auch wenn eine Internationale der Judenfeinde beides nicht glauben mag und heftig bestreitet –, doch zugleich sind sie über alle Landes- und Sprachgrenzen miteinander verbunden, sind Angehörige des jüdischen Volkes. Jude sein – das hat nicht nur mit Religion zu tun, sondern auch mit Abstammung, wenn auch nie exklusiv: niederländische Juden sehen ja deutlich anders aus als jemenitische. Doch auch Juden, die nichtreligiös sind, bleiben Juden – entweder selbstbewusst mit ein bisschen Nationalstolz oder schlicht darum, weil Judenfeinde sie daran erinnern. Durch diese Abstammungsgemeinschaft gibt es trotz aller Brüche und Umwege eine nicht nur geistige, sondern materiell leibliche Verbindung zwischen heutigen Juden und dem biblischen Volk Israel – auch das ist geheimnisvoll, lässt sich nicht von vielen Völkern der Antike sagen und schon gar nicht, wenn dieses Volk in so vielen Ländern der Welt lebt. Doch es hat die Bindung an das biblische Land Israel nie aufgegeben, aus dem Landverlust keine Tugend gemacht, indem es das Jüdische zu etwas rein Geistigem umformte, für das etwas so primitiv Materielles wie ein bestimmtes Land keine Rolle mehr spielt. Und nun gibt es in diesem Land seit über siebzig Jahren wieder einen Staat Israel und, vielleicht noch geheimnisvoller: die hebräische Sprache, viele Jahrhunderte lang die Sprache von Gelehrten, die Sprache fürs Bibelstudium und für Gottesdienste, wurde Alltagssprache, ist inzwischen für einige Generationen Muttersprache.

II. Sakrament – Handeln Gottes in den Menschen

Ein Geheimnis, das ist etwas anderes als ein Rätsel, denn ein Rätsel verliert seinen Reiz, wenn es gelöst ist; ein Geheimnis aber, auch wenn es gelüftet oder jedenfalls gedeutet wird, behält seinen Zauber, bleibt staunenswert. Wir machen diese Erfahrung vor allem, wenn Kunstwerke interpretiert werden – Musik, Bilder, Literatur – und dadurch nicht platt oder banal oder blass werden, sondern gewinnen. Geheimnis – das ist nun auch das Wort, auf das der Begriff Sakrament zurückgeht: ein sichtbares menschliches Tun, das aber Zeichen ist für das verborgene Handeln Gottes, das in, mit und unter dem menschlichen Handeln geschieht. So ist das ja auch mit dem jüdischen Volk: ein ganz und gar menschliches Geschehen, das aber ein Zeichen ist für das verborgene Handeln Gottes – das Geheimnis Israels ist so etwas wie ein Sakrament. So sagen wir es ja auch von Jesus Christus, von dem Augustin und sein Schüler Luther überlegt haben, ob er nicht das einzige Sakrament ist: er ist ganz und gar Mensch, kein Übermensch, kein Halbgott, und doch agiert in ihm und durch ihn in verhüllter Form Gott selbst.

III. Das quälende Rätsel des Paulus

Paulus will nicht, dass wir dies Geheimnis ignorieren, die Wirklichkeit Israels für völlig geheimnislos halten, sie jedenfalls mit unserer eigenen Klugheit erklären können, ohne dafür auf Gottes Wort und Weisung angewiesen zu sein. In einem anderen Brief hat er seine Rolle als Haushalter der Geheimnisse Gottes beschrieben – jemand also, der sorgsam und achtsam mit solchen Geheimnissen umgeht. Doch nun gibt es innerhalb dieses Geheimnisses, das Israel ist, doch ein Rätsel, das Paulus lange gequält hat, das er betend und arbeitend lösen wollte und von dem er jetzt gewiss ist, es gelöst zu haben, was in seinen früheren Briefen nicht der Fall war: die ganz überwiegende Mehrheit des jüdischen Volks betrachtet Jesus nicht als den Christus, den schon lange erwarteten und ersehnten Messias Israels. Für Paulus ist das rätselhaft, denn nachdem es ihm damals in Damaskus wie Schuppen von den Augen fiel, hat er doch in der jüdischen Bibel, unserem sog. Alten Testament, lauter Hinweise entdeckt, die ihm zeigten: das, was der Gott Israels in und durch Jesus gesagt und getan und auch erlitten hat: das entspricht ihm, das sieht ihm ähnlich. Und quälend ist dies Rätsel für ihn, weil er ja nicht aufgehört hat, Jude zu sein, als ihm der Auferstandene vor Damaskus begegnete und ihn dazu berief, sein Botschafter unter den Völkern zu sein; er hat da auch nicht aufgehört, Pharisäer und Schriftgelehrter zu sein; und übrigens hat er, entgegen einem hartnäckigen, zum Sprichwort gewordenen Irrtum, auch nie seinen Namen gewechselt – er hatte einfach, wie andere Diasporajuden, zwei Namen, einen hebräischen und einen lateinischen.

IV. Weder rätselhaft noch geheimnisvoll: die eigene Klugheit

Für die meisten der Nichtjuden aber, die durch Paulus und andere zu Jesusjüngern geworden sind, ist das weder rätselhaft noch geheimnisvoll und schon gar nicht schmerzhaft. Sie haben sich selbst längst mit der eigenen Klugheit beholfen, und das haben die Christen aus den Völkern auch weiterhin getan, völlig unbeeindruckt und unbeeinflusst und ungestört vom Römerbrief, nämlich: die Juden sind eben verstockt, sind blind – entsprechend die Darstellungen der Synagoge als Frau mit verbundenen Augen, mit gebrochenem Stab neben der überlegen und triumphierend lächelnden Ecclesia; sie hatten einen politischen, einen nationalen Befreier erwartet, der die Römer verjagt, und können darum mit dem Heiland der Herzen und der Seelen nichts anfangen; denn es geht ihnen ja überhaupt um Äußeres und Äußerliches, sie haben keinen Sinn und Geschmack fürs Innere und Innerliche; es geht ihnen darum stets um Materielles, nicht um Geistiges, letztlich um Geld – von Judas bis Shylock, und natürlich George Soros; und so halten sie sich zwanghaft an die Buchstaben, während wir den Geist der Freiheit empfangen haben; sie seufzen noch immer unter dem Joch des Gesetzes, versuchen, durch die Erfüllung von zahlreichen Geboten sich bei Gott lieb Kind zumachen, während wir darauf trauen, durch Gnade zu Gottes geliebten Kinder geworden zu sein. Darum hat Gott nun Schluss gemacht, die Juden verworfen, verstoßen, enterbt; hat ein neues Gottesvolk erwählt: uns, die Kirche, Israel nach dem Geist, nicht nach dem Fleisch; das Volk aus aller Welt Zungen.

V. Israel spricht unsere Zweifel aus

Sehr klug ist das nicht, was die eigene Klugheit da hervorgebracht hat, es ist vor allem nicht logisch: menschliche Untreue kann doch Gottes Treue nicht aufheben, sagt Paulus dazu. Und zudem: sägen wir nicht an dem Ast, auf dem wir sitzen, auf dem die ganze Christenheit sitzt, wenn wir sagen, dass Blindheit, Irrtum, Versagen dazu führt, von Gott verstoßen zu werden? In der Tat haben nicht logische, sondern psychologische Gründe zu dieser Theorie geführt: es war und ist eine tiefe Kränkung, Irritation, Verunsicherung, dass ausgerechnet Israel Nein zum Evangelium sagt. Wenn irgendwelche Germanen auf ihren Bäumen oder auch Philosophen in ihrer Weisheit, die von Abraham und Mose, von David und Jesaja noch nie etwas gehört haben, Jesus nicht als ihren Herrn annehmen, ist das nicht so schlimm – die wissen ja gar nicht, was ein Christus ist; wenn aber die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs Nein sagen, die seit Jahrhunderten auf den Messias warten – welches Recht haben wir, welchen Sinn hat es dann, Jesus den Christus, den Messias Israels zu nennen? Und nun kommt eine noch tiefere Irritation hinzu: sprechen die Juden mit ihrem Nein nicht die Zweifel offen aus, die ganz, ganz heimlich auch an uns nagen? Was hat sich geändert, seit Jesus kam? Hat er eine neue Welt bewirkt voll Gerechtigkeit und Frieden? Wir sagen, er hat dem Tod die Macht genommen – aber hat er das? In dieser Klemme ist es seelisch erleichternd, den Spieß, nämlich das Nein, umzudrehen: dass Jesus der Messias ist, ist doch sonnenklar; das zeigt jeder Vers eurer, der jüdischen Bibel – ihr aber seid blind, seid verstockt und darum verstoßen.

VI. Geheimnis: Gottes Handeln in Israel – uns zugute

Für Paulus ist das selbstverständlich nicht des Rätsels Lösung: Gott bereut seine Gnadengaben und Berufungen nicht – und die hatte Paulus zuvor aufgezählt: die Sohnschaft – ganz Israel ist kollektiv Sohn Gottes; Glanz, Ehre, Herrlichkeit; die Bundesschlüsse; die Gabe der Tora; die Gottesdienste; die Verheißungen – nichts davon ist widerrufen. Doch gerade in dieser rasch wachsenden Fraktion unter den Jesusjüngern, den Nichtjuden, den Christen aus den Völkern, deutet sich für Paulus die Lösung jenes ihn quälenden Rätsels an, obwohl er deren schon damals deutliche Judenfeindschaft ganz entsetzlich findet und bekämpft. Was meint ihr denn, fragt er, wenn ihr „verstockt“ sagt? Einen Naturtatbestand? Einen Nationalcharakter? Aber er selbst, Paulus, die anderen Apostel, die Evangelisten, alle Autoren des Neuen Testaments sind doch Juden. Paulus, der Schriftgelehrte, setzt Bibelkenntnis auch bei seinen nichtjüdischen Lesern voraus: wie war das mit dem Pharao, dessen Herz immer wieder verhärtet wurde? Wir reden also von einem Handeln Gottes – der Gott Israels stärkt seinem Volk den Rücken, verschließt ihm die Ohren für die Sirenenklänge des Evangeliums. Das Nein Israels zu Jesus und dem Evangelium hat hohen Rang, einzigartige Würde, erfordert und verdient nicht nur unseren Respekt, sondern unsere Ehrfurcht. Es geschieht euch zugute, sagt uns Paulus. Ja, ein Teil Israels – es ist der weitaus größte Teil – hat sich verhärtet, nein: wurde hart gemacht gegenüber dem Evangelium. Gerade dadurch kam es zu euch. Und gerade dadurch wird die ganze Fülle der Völker hinzukommen, wird, zu Bundesgenossen Gottes und – geb´s Gott! – auch seines Volkes. Vielleicht wäre sonst die Jesusgeschichte eine innerjüdische Angelegenheit geblieben. So aber kommt, wie es immer schon Gottes Absicht war, der Segen Abrahams unter die Völker. Es ist für euch gut, dass ihr in eurem Ja zum Evangelium nicht unangefochten seid; es ist für euch gut, dass Gott sein Volk neben euch und gegen euch aufrechterhält, es nicht aufgegangen ist in der Kirche. Das Fortbestehen des jüdischen Volkes ist für euch ein sichtbares Zeichen der Treue Gottes, der auch ihr traut.

VII. Unsere „Mission“ gegenüber Juden

Das ist für Paulus des Rätsels Lösung, und es ist deutlich: sie nimmt nichts weg von dem Geheimnis, das wir nicht ignorieren sollen: dass in, mit und unter dem menschlichen Tun der Juden Gott handelt. Deutlich ist auch: es ist nicht die Aufgabe von Christen zu versuchen, Juden zu Christen zu machen und so am Ende Israels, an der Abschaffung des jüdischen Volkes zu arbeiten. Das heißt aber nicht, dass wir Christen gegenüber Juden keine Mission, keine Sendung haben. Es ist unsere Aufgabe zu widersprechen und widerstehen, wenn dieses Volk verraten, verleumdet oder sein Ruf verdorben wird; wir sollen es entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren. Jesusjünger sollen dafür sorgen, dass Israel, befreit von seinen Feinden und aus der Hand aller seiner Hasser, ohne Angst Gott dient. Ob Jesus für sein Volk eine befreiende und so erfreuliche Wirklichkeit wird oder eine bedrohliche bleibt, das hängt von uns ab. Paulus zieht da einen merkwürdigen, einen auffälligen Vergleich: Wie ihr einst Gott ungehorsam wart, sagt er uns, jetzt aber durch ihren, durch der Juden Ungehorsam Erbarmen fandet, so sind auch sie, die Juden, jetzt ungehorsam, hören nicht auf das Evangelium von Gottes Erbarmen für die Völker, damit auch sie – man würde erwarten: künftig Erbarmen finden, aber Paulus schreibt: damit auch sie jetzt Erbarmen finden. Das ist die Aufgabe von Jüngerinnen und Jüngern Jesu, um wahrzumachen was Paulus weiter hinten im Römerbrief schreibt: der Christus ist, wie es vom Messias Israels zu erwarten ist, zum Diener der Juden geworden – der Herr als Knecht; der Herr als Judenknecht. Es ist in unseren Tagen erschreckend klar geworden, wie viel wir da zu tun haben: die leibliche und seelische Bedrohung der Juden unter uns, die Weltverschwörungsphantasien, die ahnungslosen und abenteuerlichen Kommentare zur Lage im Nahen Osten.

VIII. Das Geheimnis Israels ist nicht hoch, sondern niedrig

Haltet euch nicht selbst für klug – Paulus sagt das noch einmal im nächsten Kapitel und umschreibt es so: habt nicht Hohes im Sinn, sondern lasst euch von den Niedrigen einnehmen. Beides gehört für ihn zusammen: das Geheimnis Israel und das Streben nach unten statt nach oben – geistig und gesellschaftlich. Die Israelgeschichte und die Jesusgeschichte zeigen, dass Gott selbst es so hält, das Niedrige erwählt. Paulus bestaunt und preist im Geheimnis Israels ein Meisterstück der Weisheit Gottes: unausforschbar seine Entscheidungen! unaufspürbar seine Wege! Ihm sei Ehre auf ewig!

Amen.

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Dr. Matthias Loerbroks

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Einer Gemeinde, die beunruhigt ist über wachsenden Antisemitismus, über die christlichen Wurzeln auch des nicht mehr christlichen Judenhasses aber wenig weiß, selbst aber auch nicht frei ist von antijüdischen Ressentiments und Klischees, überdies irritiert von der Absage an die Judenmission – welchen Sinn hat es dann, dass wir Jesus den Christus, den Messias nennen? – möchte ich deutlich machen: es ist nicht kränkend, sondern eine frohe Botschaft, dass der Gott Israels sein Volk neben der Kirche und gegen sie aufrechterhält; und dem entspricht dann doch auch eine kirchliche Sendung, eine Aufgabe gegenüber Juden.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich fand es hilfreich, dem Geheimnis, das Israel ist, nachzugehen und der Beziehung zwischen mysterion und Sakrament, auch unabhängig vom Nein Israels zum Evangelium von Jesus Christus.

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Aufforderung zu Beginn des Predigttexts, sich nicht auf die eigene Klugheit zu verlassen, taucht ein Kapitel später in etwas anderem Zusammenhang wieder auf. Diese Wiederholung zeigt einen Zusammenhang zwischen dem christlich-jüdischen Verhältnis und der Frage, ob die Kirche geistig und gesellschaftlich nach oben strebt oder sich ans Niedrige hält und damit auch an die Niedrigen, die Erniedrigten.

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich verdanke meinem Coach die Einsicht, dass Predigten keine Schlusszusammenfassung brauchen.

 

Perikope
16.08.2020
11,25-32