Ein bleicher Frühlingstag Anfang März. In den Mauern der Stadtkirche sitzt sicher noch die Winterkälte. Von außen sieht sie ganz unverändert aus, aber im Inneren ist sie fast nicht mehr wiederzuerkennen. Die Altäre sind abgeräumt und die Heiligenbilder weggeschafft. Wo sie gehangen haben, heben sich helle Umrisse an den Wänden ab. In den Ecken und auf dem Bo-den liegt noch das Holz der Rahmen und auch Stücke der bemalten Holztafeln. Eine große Heiligenfigur, nun ohne Kopf und ohne Hände, wartet in der Nähe der Eingangstür darauf, weggebracht zu werden.
Nur zögernd betritt er die Kirche und sieht sich um. Unwillkürlich streicht er sich mit der Hand über den Bart. Eigentlich wollte er ihn sich noch vor der Abreise abnehmen lassen, aber dazu blieb keine Zeit mehr. Es musste schnell gehen, die Nachrichten aus Wittenberg waren zu beunruhigend. Er hat sich sehr beeilt, hierher zu kommen.
Und vielleicht ist es ganz gut, dass ihn noch nicht jeder gleich erkennt. Er selbst erkennt ja hier nicht alles wieder. Seine Stadt, seine Kirche, die Menschen, mit denen er zu tun hat – all das ist ihm fremd geworden. Sicher, er wusste Bescheid, er hat die Briefe gelesen, die auf der Burg ankamen, mit den Nachrichten über die Ereignisse in der Stadt. Aber dass es so sein wird, hat er sich nicht vorstellen können. Und das hat er nicht gewollt. Was er sieht, tut ihm weh. Die leere, kalte Kirche, die kahlen Wände, die Menschen, die gar nicht mehr wagen, hierher zu kommen, weil alles neu und fremd und unverständlich für sie ist. Statt der neuen Freiheit hat sich neue Angst und neuer Zwang ausgebreitet in dieser Stadt.
Als Martin Luther im März 1522 von der Wartburg zurück nach Wittenberg kommt, stellt er fest, dass sich seine neue Lehre zweifellos verbreitet hat. Und er muss auch feststellen, dass ein und dieselbe Einsicht ganz unterschiedliche Folgen haben kann. Er selbst hatte in seiner Schrift „Von den guten Werken“ gegen die Bilder in den Kirchen gesprochen. Aber es ging ihm nicht um die Bilder an sich. Es ging ihm um den Irrtum, durch ein gutes Werk, wie die Stiftung eines Bildes, sei das Seelenheil zu erlangen.
Das Heil lässt sich durch nichts erwerben, es wird uns geschenkt. Das ist seine These, hinter allen Thesen, allen Sermonen, allen Predigten. Die Bilder können ruhig hängen bleiben. Es werden aber wohl keine neuen mehr dazu kommen. Denn niemand braucht mehr solche sicht-baren Zeichen seiner guten Taten.
Sein Freund Andreas Bodenstein von Karlstadt hatte diese Gedanken aufgenommen. Wenn man gute Werke tun möchte, dann nicht, indem man Bilder stiftet, sondern indem man das Geld den Armen und den Schwachen zu Gute kommen lässt. Eine große schwere Holztruhe stand ab da in der Stadtkirche. In diesen „Gemeinen Kasten“ flossen alle Erlöse aus dem Ver-kauf der Kirchen- und Klostergüter, auch aus dem Verkauf der Bilder und kostbaren Gegen-stände in den Kirchen.
Sie wollten den Worten Taten folgen lassen in Wittenberg. Aber dabei sind sie zu weit gegan-gen. Diese Taten haben sie zu Tätern gemacht. Das sieht man, wenn man sich in der Kirche umsieht. Das spürt man auf Schritt und Tritt, wenn man durch die Stadt geht.
Es wird ihm nun nichts anderes übrig bleiben, als morgen diesen Taten wieder Worte folgen zu lassen. Er kann jetzt nichts tun. Aber er wird predigen, morgen am Sonntag natürlich und wenn es nötig ist, noch öfter. Und er wird darüber sprechen, wie das zusammengehört: dass man nichts tun kann vor Gott und dass man trotzdem etwas tun muss, weil der Glaube immer Folgen für das Handeln hat. „Gott will nicht Zuhörer oder Nachredner haben, sondern Nach-folger und Täter, und das in dem Glauben durch die Liebe.1“
Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet; denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, die Gott verheißen hat denen, die ihn lieb haben.
Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde. Denn Gott kann nicht versucht werden zum Bösen, und er selbst versucht niemand.
Sondern ein jeder, der versucht wird, wird von seinen eigenen Begierden gereizt und gelockt. Danach, wenn die Begierde empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod.
Irrt euch nicht, meine lieben Brüder. Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei dem keine Veränderung ist noch Wechsel des Lichts und der Finsternis. Er hat uns geboren nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, damit wir Erstlinge seiner Geschöpfe seien. (Jak 1,12-18)
Das war nicht sein Text am Sonntag Invokavit, am 9. März 1522 in Wittenberg. Das war überhaupt nicht sein Text. Mit dem Jakobusbrief hat Martin Luther nicht viel anfangen kön-nen, das hat er oft und unmissverständlich gesagt. Die Rede von der „strohernen Epistel“ ist bekannt und im Gegensatz zu vielen anderen Aussprüchen Luthers auch gut bezeugt. In einer Art Trotzreaktion hat er diesen Brief an das Ende der Bibelausgaben verbannt, für die er ver-antwortlich war. Doch für das Problem, mit dem er zu tun hatte, in diesem kalten Frühjahr in Wittenberg, wäre es gar nicht schlecht für ihn gewesen, diesen Brief zu lesen.
Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet; denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, die Gott verheißen hat denen, die ihn lieb haben. (Jak 1,12)
Das kann er erst einmal für sich selbst lesen, denn die Anfechtung und den Zweifel, die spürt er gerade am eigenen Leibe. War es richtig, was ich gesagt und getan habe? Wie kann es sein, dass die anderen zu so ganz anderen Einsichten kommen als ich?
Selig die Zweifler. Selig, die sich nicht ganz sicher sind, dass sie das Richtige tun. Wo der Zweifel unterdrückt wird, wo das Handeln nicht mehr hinterfragt wird, geschehen schlimme Dinge. Da wird herausgerissen und zerstört, was man vielleicht bewahren müsste.
Andreas Bodenstein von Karlstadt hatte sich von seinen Zweifeln verabschiedet. Er glaubte ganz sicher zu wissen, was richtig und was falsch war. Da gab es nur noch schwarz oder weiß, Bilder oder keine Bilder und nichts mehr dazwischen.
Die Anfechtung erdulden und die Zweifel bewahren, das ist schwer. Es gibt keine einfachen Lösungen. Aber es ist ja viel leichter, Menschen für einfache Lösungen zu begeistern als für mühsame Mittelwege. Es ist verführerisch leicht. Wo das endet, das kann man in Wittenberg sehen, in dem kalten Frühjahr 1522. Man sieht es aber auch an allen anderen Orten, wo es keine Zweifel mehr gibt und einfache Lösungen ausgerufen werden.
Menschen, die glauben, sind besonders anfällig dafür, weil der Glaube doch Sicherheit geben soll und Eindeutigkeit. Aber so funktioniert es nicht. Und das wird auch Martin Luther am Sonntag in der Predigt sagen: „Denn wer den Glauben hat, Gott vertrauet und seinem Nächs-ten die Liebe erzeigt, der kann ja nicht ohne Verfolgungen sein. So nimmt der Glaube durch viele Anfechtung und Anstöße immer zu und wird von Tag zu Tag gestärkt.2“
Du brauchst Geduld. Du musst dich bewähren. Erst ganz am Ende wirst du wissen, was falsch und was richtig war. Und das fühlt sich an, als trügest du eine Krone auf dem Kopf. So gerade stehst du da und aufrecht und frei.
Die Anfechtung und der Zweifel gehören zum Glauben dazu. Ob man Gott die Schuld daran geben sollte? Oder sind es die Menschen und ihr Handeln, die uns zweifeln lassen? „Hierin müssen wir einen klaren starken Spruch haben, der dieses bezeuget“ hat Martin Luther in seiner Predigt gesagt. Er findet diesen Spruch bei Paulus: Wir sind alle Kinder des Zorns. (Eph 2,3)
Aber dieser klare starke Spruch steht auch im Jakobusbrief: Gott versucht niemanden. Jeder, der versucht wird, wird von seinen eigenen Begierden gereizt und gelockt. (Jak 1,13b-14)
Wer sich auf seine eigenen Begierden einlässt, wird erleben, dass diese Affäre nicht ohne Folgen bleiben kann. Andreas Bodenstein von Karlstadt ist ein gutes Beispiel dafür. Ihn hat die Aussicht gelockt, in Abwesenheit Luthers zum Anführer der Wittenberger Bewegung zu werden. Nicht länger einer unter vielen, sondern die Spitze der Bewegung. Also weg mit den Zweifeln und her mit den Parolen. Es fühlte sich nicht richtig an, als sie die Bilder von den Wänden der Stadtkirche rissen. Aber es fühlte sich gut an.
Doch schon bald wird sichtbar, was aus dieser Begierde eines einzelnen noch alles entsteht. Jede Affäre kann sichtbare Folgen haben - ein Kind kommt in die Welt. Auch in Wittenberg ist aus der Begierde des Andreas Bodenstein von Karlstadt etwas entstanden. Die Wittenber-ger Bewegung ist sehr lebendig und selbstständig geworden. Aber das war kein Grund zur Freude. Sie waren nicht länger zu kontrollieren. Wie die Kinder der Zorns sind sie durch die Stadt gezogen.
Vieles von dem, was wir sehen und erleben in unserer Welt, lässt uns zweifeln an Gottes Güte und Fürsorge für seine Menschen. Und vieles davon ist eine Frucht der Affären mit unseren eigenen Begierden. Irrt euch nicht, meine lieben Brüder. (Jak 1,16)
Gott versucht niemanden. Von ihm kommt Gutes und von ihm kommt Licht. In dem kalten Frühjahr 1522 in Wittenberg sind die Tage noch kurz und die Nächte kalt. Sie sehnen sich nach Licht und nach Wärme. Wie gut wäre es für sie, zu lesen: Gott ist der Vater des Lichts. Und er ist der Vater, der zugleich eine Mutter ist. Er hat uns geboren, nach seinem Willen. (Jak 1,17f)
Aber so, als hätte er doch diesen Text gelesen und predigen wollen, hat er dann seine Witten-berger angesprochen am Sonntag Invokavit. Er hat sie erinnert an das, was Gott von sich sagt: „Ich habe dich getragen und aufgezogen, wie eine Mutter ihrem Kinde tut.“
Und dann hat er gefragt: „Was tut die Mutter ihrem Kinde? Zum ersten gibt sie ihm Milch, danach einen Brei, danach Eier und weiche Speise: wo sie es umgekehrt anfinge und harte Speise gäbe, würde aus dem Kind nichts Gutes. So sollen wir auch unserem Bruder tun, Geduld mit ihm haben und seine Schwachheit dulden und tragen helfe, ihm auch Milchspeise geben, wie es uns geschehen ist, bis er auch stark werde, und nicht allein gen Himmel fahren, sondern unsere Brüder, die jetzt nicht unsere Freunde sind, mitbringen.“3
Von Gott kommt Licht. In seiner Nähe ist es warm. Von Gott kommt liebevolle Zuwendung für die Schwachen. Wer, wenn nicht die Väter und Mütter auf dieser Welt, wüssten um die Geduld und Zuwendung, die es braucht, bis aus kleinen Kindern starke Menschen werden? Vom ersten Löffel Brei über die ersten Schritte bis zu den eigenen Wegen braucht es nichts als Liebe und unendliche Geduld.
Diese Liebe und Geduld bringt Gott für uns auf. Und diese Liebe und Geduld sind wir einan-der schuldig. Damit die Kirche und die Stadt und die Welt nicht kalt und leer sind, sondern es Orte voller Licht und Wärme gibt.
Am 9. März 1522 in Wittenberg war die Kirche leer und kalt. Das ist nicht so geblieben. Heu-te leuchten wieder Bilder in ihr. Lucas Cranach hat sie gemalt, damit der neue Glaube sichtbar wird für alle. „Gott will nicht Zuhörer oder Nachredner haben, sondern Nachfolger und Täter, und das in dem Glauben durch die Liebe.“
Amen.
Gott, du bist nicht glücklich mit uns,
wenn wir einander unglücklich machen;
unerträglich ist es dir, wenn wir einander umbringen und töten.
Wir bitten dich,
zerbrich den Kreislauf des Bösen,
in dem wir gefangen sind,
und lass die Sünde in uns aussterben,
wie in Jesus, deinem Sohn,
die Sünde der Welt ausgestorben,
der Tod getötet worden ist-
er lebt für uns heute und für alle Tage.
Du erträgst es nicht,
dass einer deiner Menschen verloren gehen sollte.
Du suchst uns auf,
wenn wir uns entfernt haben von dir,
viel mehr, als wir dich suchen,
bist du auf der Suche nach uns.
Wir halten uns fest
an der Sicherheit,
an der Verheißung
und deiner erfinderischen Liebe
vertrauen wir uns an.
Nicht um zu richten, bist du gekommen, Gott,
sondern um zu suchen,
was verloren ist,
und zu befreien, was in Schuld und Angst gefangenliegt,
um uns zu retten,
wenn uns unser Herz anklagt.
Nimm uns, so wie wir hier zugegen sind,
mit aller sündigen Vergangenheit der Welt.
Du bist doch größer als unser Herz,
größer als alle Schuld,
du bist der Schöpfer
einer neuen Zukunft,
ein Gott der Liebe bis in Ewigkeit.
(Huub Oosterhuis, Gegen den Menschen,
leicht gekürzt aus: Das Huub Oosterhuis Gottesdienstbuch, Herder Verlag 2013.)
Psalmvorschlag: Psalm 91
Evangelium: Mt 4,1-11
Lesung aus dem Alten Testament: 1. Mose 3,1-19
Liedvorschläge:
EG 96 (Du schöner Lebensbaum des Paradieses)
EG 347 (Ach bleib mit deiner Gnade)
EG 358, 1-3 und 6 (Es kennt der Herr die seinen)
EG 362, 1-4 (Ein feste Burg ist unser Gott) (Wochenlied)
EG 450, 1-3 (Morgenglanz der Ewigkeit)
1 Martin Luther, Acht Sermone gepredigt zu Wittenberg in der Fastenzeit. Am Sonntag Invocavit, 9. März 1522, in: Kurt Aland, (Hg.): Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd. IV: Der Kampf um die neue Lehre, Göttingen 41990, 62.
2 ebd.
3 A.a.O., 63.