Heile du mich, HERR! - Predigt zu Jak 5,13-16 von Winfried Klotz
Liebe Gemeinde!
Mit einem Zuspruch an die, Die Schweres zu ertragen haben, beginnt unser Wort aus dem Jakobusbrief, der eine Sammlung von Ratschlägen und Mahnungen für ein Leben als Christ/in ist. Während im Abschnitt vorher zum geduldigen Durchstehen notvoller Lebensphasen gemahnt wird, ist hier der Blick aufs Gebet gerichtet. „Wer von euch Schweres zu ertragen hat, soll beten.“ Das klingt kurz angebunden, findet aber in den folgenden Versen nähere Erläuterung. „Wer von euch Schweres zu ertragen hat, soll beten. Wer von euch glücklich ist, soll Loblieder singen.“ Das sind eigentlich Selbstverständlichkeiten für Menschen, die ihr Leben vor Gott im Vertrauen auf Jesus leben. Aber wir brauchen immer wieder einen Anstoß, damit wir nicht vergesslich nur um uns kreisen. Sein Leben vor Gott führen heißt ihn einbeziehen. Das braucht Gott nicht, der alles kennt und weiß, aber wir brauchen es. Es kann sein, dass wir uns in der Not im Stich gelassen fühlen und in der Freude nur uns selbst feiern. Aber da ist doch noch einer, unfassbar und doch persönliches Gegenüber, dem unser Schweres nicht gleichgültig ist und den unsere Freude erfreut. ER ist doch an uns interessiert, jede und jeder sind IHM wichtig. ER hört auf uns, Tränen der Trauer und Tränen der Freude rühren IHN. ER ist nicht taub und blind. „Er, der den Menschen Ohren gab, sollte selbst nicht hören? Er, der ihnen Augen schuf, sollte selbst nicht sehen?“ sagt Psalm 94,9. Gewiss hört und sieht Gott; unser Beten und Singen, Klagen und Loben lässt uns aufatmen und erhebt uns zu IHM.
Christsein ist nicht nur leben vor Gott, sondern auch leben in der Gemeinde. Unser Wort aus dem Jakobusbrief fährt fort: „Wer von euch krank ist, soll die Ältesten der Gemeinde rufen, damit sie für ihn beten und ihn im Namen des Herrn mit Öl salben.“ Christen leben vor Gott und in der Gemeinde Jesu. Bist Du ein christlicher Einzelgänger, lass Dich korrigieren. Wir brauchen die Schwestern und Brüder, auch wenn sie nicht immer leicht zu ertragen sind. Wir brauchen ihren Rat und ihre Fürbitte. Der Jakobusbrief stellt uns hier eine besondere Fürbittsituation vor Augen: Wer krank ist, braucht nicht nur einen Arzt, sondern auch eine fürbittende Gemeinschaft! Älteste meint damals die Gemeindeleitung; wir sollten das nicht pressen, der Heilige Geist akzeptiert auch junge Menschen, die im Vertrauen auf Jesus über einem Kranken beten.
Jedenfalls habe ich es so erfahren. Vor vielen Jahren ging es einem Ehepaar aus dem Kreis junger Erwachsener schlecht; sie war schwer erkrankt. Auf ihnen lag deshalb eine große Bitterkeit. Wir – mehrere Personen aus dem Kreis – kamen zusammen, lasen den Abschnitt aus Jakobus 5, tauschten uns darüber aus. Not und Bitterkeit kamen zur Sprache. Dann das gemeinsame Gebet, auch auf das Salben mit Öl haben wir nicht verzichtet. Das Ehepaar hat – auch durch Ärzte – Hilfe erfahren. Ich weiß bis heute, dass ich am nächsten Tag noch mit einer großen Freude erfüllt war, obwohl noch ganz offen war, wie es weitergehen wird.
Was ich hier geschildert habe, ist kein Rezept für Krankenheilung, aber eine Weisung zum Umgang mit schweren persönlichen Nöten. „Ihr vertrauensvolles Gebet wird den Kranken retten,“ sagt unser Wort. Das ist richtig übersetzt; da steht nicht heilen, sondern retten. Als Jesus in Gethsemane gebetet hat, hat ihn das nicht vor dem Tod am Kreuz bewahrt. Aber er empfing im Gebet Kraft. Sein Gebet soll uns Vorbild sein: „Abba, Vater, sagte er, alles ist dir möglich! Erspare es mir, diesen Kelch trinken zu müssen! Aber es soll geschehen, was du willst, nicht was ich will.“ „Alles ist dir möglich“, Jesus zweifelt nicht an der Macht des Vaters im Himmel, zugleich stellt er sich unter Gottes Willen. Können wir so beten, oder meinen wir, Gott müsse unbedingt tun, was wir erbitten? Auch das habe ich schon erlebt, dass eine Gemeinde um Heilung betete, sich aber nicht unter den Willen Gottes stellte. Halten wir das etwa für Zweifeln, wenn wir wie Jesus sagen: ‚Aber nicht mein, sondern dein Wille geschehe‘?
Noch einmal: „Das vertrauensvolle Gebet wird den Kranken retten!“ Das umfasst alles: Leib und Seele, den ganzen Menschen. Ich verstehe den Fortgang des Satzes als Auslegung des Wortes ‚retten‘: „Der Herr wird die betreffende Person wieder aufrichten und wird ihr vergeben, wenn sie Schuld auf sich geladen hat.“ Das brauchen wir doch, wenn wir schwer krank sind, dass wir aufgerichtet werden und ein belastetes Gewissen bei Jesus Befreiung erfährt. Aufgerichtet aus Niedergeschlagenheit, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit durch Geschwister im Glauben, die uns anhören, Vergebung zusprechen und für uns beten. Aber dürfen wir die rettende Hilfe beschränken auf den inneren Menschen, so als beziehe sich Gottes rettendes Handeln nur auf die Seele? Gewiss nicht! Jesus hatte den ganzen Menschen im Blick. Als vier Männer einen Gelähmtem zu Jesus brachten (Mk. 2, 1-17), – weil das Haus voller Menschen war, ließen sie ihn durch das flache Dach zu Jesus hinab –, hat Jesus ihm Vergebung zugesprochen, dann aber auch seinen Körper geheilt. Und noch ein zweites, anders gelagertes Beispiel: Als zu den Jüngern ein Kind gebracht wurde, das unter Anfällen litt, konnten sie es nicht heilen. Jesus, vom Berg der Verklärung kommend, äußerte sich über die Maßen kritisch über das Versagen der Jünger: „Was ist das für eine Generation, die Gott nichts zutraut! Wie lang soll ich noch bei euch aushalten und euch ertragen?“ (Mk. 9, 19) Müssen wir uns das heute auch sagen lassen, dass wir – wie die Jünger Jesu – Gott wenig zutrauen? Auf die zweifelnde Bitte des Vaters um Hilfe für sein Kind sagt Jesus: „Wer Gott vertraut, dem ist alles möglich.“ Was sollen wir ‚Kleingläubige‘ dazu sagen? Es bleibt uns nur mit dem Vater des Kindes zu rufen: „Ich vertraue ihm ja – und kann es doch nicht! Hilf mir vertrauen!“ Auf die Frage der Jünger, warum sie gescheitert sind, verweist Jesus nach der Markusüberlieferung auf den Weg des Gebetes. Es geht um geduldiges Beten, um ein Warten auf Gottes Stunde, in der nicht wir etwas tun, sondern ER handelt.
Aber ich muss auch die skeptische, nur der eigenen Ratio- (Grundbedeutung: Rechnung, meint das, was berechenbar ist und überprüft werden kann) vertrauende Gegenseite betrachten: Es gibt in unserer säkularen Gesellschaft Menschen, die grundsätzlich bezweifeln, dass Gott einen Kranken heilt, weil für ihn gebetet wurde. Im Internet fand ich eine Predigt unter dem Titel: „Gott ist kein Wunderheiler und kein Regenmacher“ von Gudrun Kuhn. (https://www.reformiert-info.de/Gott_ist_kein_Wunderheiler_und_kein_Regenmacher-9498-0-0-1.html, abgerufen 30.9.2023) Da schreibt eine Predigerin: „Ach, wie soll ich das glauben? Gott – der Wundermann. Schön zu wissen, dass Gott alles kann. Und? Wenn er es kann, warum tut er es nicht?“ Am Maßstab ihrer Erfahrung dekonstruiert die Predigerin das Bibelwort aus dem Jakobusbrief, um es anschließend neu aufzubauen – scheinbar in Anlehnung an Martin Luther, der die Hl. Schrift las unter der Überschrift „was Christum treibet“. Sie stellt fest, dass Jesus als Heiler auftrat, findet es aber viel aufregender, dass er Sünden vergab. Schlussfolgerung: „Die Heilungsgeschichten im Neuen Testament sind äußere Zeichen für das, was im Innern der Menschen, die auf Jesus trafen, geschehen ist: eine Befreiung, ein Neuanfang. Und das wollte der Jakobusbrief, wie ich ihn jetzt lese, weitergeben. Es heißt ja: der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden.“
Die Verfasserin verweist später auf den historischen Abstand zu Jesus: „Jesu historische Gegenwart lässt sich nicht wiederholen und nicht imitieren. Dafür gibt es keine Stellvertretung. Und – wie ich meine – darf man um solche Heilungen auch nicht beten. Als könne man Gott erpressen und herausfordern, sich dann wunderwirkend zu zeigen, wenn wir es wollen.“
Historischer Abstand – gewiss, aber behaupten wir nicht, Jesus, der Herr, sei unter uns gegenwärtig, wenn wir in seinem Namen versammelt sind? Heißt es Gott erpressen, wenn wir auf Grund der Weisung Jesu beten und bitten? (Mt. 7, 7f) Kinder erbitten manchmal Unmögliches von ihren Eltern; Kinder des Vaters im Himmel dürfen von dem Einen, bei dem nichts unmöglich ist, alles erbitten im Wissen, dass ER ihnen Gutes gibt – seinen Geist schenkt. (Mt. 7, 11- Lk. 11, 13)
Ich kehre zurück zum Predigtwort; im 16. Vers heißt es: „Überhaupt sollt ihr einander eure Verfehlungen bekennen und füreinander beten, damit ihr geheilt werdet. Das inständige Gebet eines Menschen, der so lebt, wie Gott es verlangt, kann viel bewirken.“ Wir sind jetzt, bildlich gesprochen, nicht mehr im Krankenzimmer, um für jemand zu beten, der schwer krank ist. Wir sind vielleicht in einem Hauskreis zusammen oder einem Gremium der Kirchengemeinde, z. B. einer Gemeindeversammlung. Unterschiedliche Meinungen, unterschiedliche Sichtweisen eines Ereignisses prallen aufeinander; es werden Schuldige gesucht, weil etwas schief gelaufen ist. Bei solchen Gesprächen geht es leider immer wieder nicht nur um die Sache, sondern auch um verletzte Ehre, um das eigene Ansehen, den persönlichen Stolz. Das verleiht einem solchen Gespräch eine besondere Dynamik, die Sache wird diskutiert, ist aber eigentlich Nebensache, weil persönliche Befindlichkeit unausgesprochen die Hauptsache sind. Wie befreiend könnte es da sein, wenn jemand ehrlich seine Sicht schildert, eingeschlossen sein Versagen, verbunden mit der Bitte um Vergebung. Wenn also jemand den Mut hätte, Helm und Panzer abzulegen, das Schwert aus der Hand zu legen, und im Vertrauen auf Jesus zu sich zu stehen. Die Masken werden abgelegt, das Versteckspiel beendet, offen und verletzlich wenden wir uns einander zu und gewinnen Gemeinschaft. Es kann sein, dass, wer so handelt, der Dumme ist; das macht nichts, bei deinem Herrn bist du angesehen. Wo aber neue Gemeinschaft entsteht im Bekennen von Schuld und Vergeben von Schuld, da öffnet sich der Himmel, da wird voller Vertrauen gebetet, da geschieht Gesundung an Leib und Seele. Möge unser Herr Jesus uns dazu befreien. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ergibt sich aus der Predigt.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
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3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass Gott unbegreiflich ist, zugleich aber mit IHM zu rechnen ist. ER kann helfen, es kommt darauf an, dass wir auf Jesus schauen!
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
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15.10.23 - 19. So. n. Trinitatis
Wie lange noch? - Predigt zu Jakobus 5,7-11 von Christian Stasch
Liebe Gemeinde!
Ich höre diese Bibelworte aus dem Brief des Jakobus: „Seid nun geduldig.“ Und ich blättere etwas in meinem inneren Familienalbum. Drei Bilder:
Meine Großmutter. Sie hat ihren Mann 1944 zum letzten Mal gesehen. Da war sie 39 Jahre alt. Das nächste, was sie über ihn hörte: Vermisst. In Rumänien. Weitere Informationen gab es nicht. Nur: Vermisst. Mein Bruder und ich haben sie später oft gefragt: „Du bist so allein. Willst du nicht nochmal wen heiraten?“ Und sie sagte, bis ins hohe Alter, immer das gleiche: „Nein, vielleicht kommt er ja eines Tages wieder.“
Mein Vater. Da ging Zeit drauf, wenn ich mit einem Zettel aus der Schule kam und mein Vater musste am Abend nur den Satz unterschreiben: „Die Einladung zum Elternabend der Klasse 6 b habe ich zur Kenntnis genommen“, und er das dann, wie ich fand, unnötig in die Länge zog. Er nahm mir das Blatt mit den Worten, „Immer schön langsam“ aus der Hand, studierte es lange und mehrmals. Ich wurde ungeduldig. Erst am nächsten Morgen hatte ich dann die Unterschrift.
Mein Sohn: Als Kind hat er eine Redewendung kreiert. Er hatte sich irgendwann angewöhnt, auf alle möglichen Bitten sofort zu antworten: „Ja, warte kurz“. Große Bitten , kleine Bitten, egal. Kannst du mir helfen, das Sofa zu verrücken - Ja, warte kurz. Gibst du mir mal bitte die Erdbeermarmelade rüber - Ja, warte kurz. Oft hatte der Satz gar keine aufschiebende Wirkung mehr, er wurde eher automatisch und beiläufig gemurmelt, und zwar in zunehmendem Tempo. Aus „Warte kurz“ wurde im Laufe der Zeit „Wadde kurz“ – und alle Geschwister machten mit.
Vielleicht kommt er ja wieder. Immer schön langsam. Wadde kurz. Einige alte und frische Prägungen meines Lebens. Insgesamt bin ich nicht besonders (!) geduldig und auch nicht besonders (!) ungeduldig. Mal so, mal so. Weder Fels in der Brandung noch nervöser Pinsel. Irgendwas dazwischen. Das geht Ihnen vielleicht ähnlich.
Nun leben wir aber seit neun Monaten in einer Dauergeduldsprobe: Corona hat dazu geführt, dass sich alles verlangsamt, verschoben wird, ausfällt, umgeplant werden muss. Aus „Wadde kurz“, was ja noch ginge, wird ein schier endloses Warten, die Geduld wird auf eine harte Probe gestellt. Warten auf den Impfstoff. Vielleicht kommt er ja wirklich bald. Aber ist das Warten auf Normalität dann schon zu Ende?
Frank Walter Steinmeier sprach Ende Oktober davon, dass der erneute Teil-Lockdown Belastung und neues Verzichten mit sich bringe. Aber, so sagte er dann: "Trotzdem rate ich uns allen dazu, nicht zu resignieren und vor allen Dingen nicht die Geduld zu verlieren." Hier klingt der evangelisch-reformierte Bundespräsident ganz ähnlich wie Jakobus.
Kopf hoch, nicht aufgeben, lasst euch nicht unterkriegen. So seid nun geduldig.
Ich schaue mit Ihnen auf die damalige Geduldsprobe zur Zeit des Jakobus. Und danach auf unsere heutige.
Jakobus, der Briefschreiber, wird sich ausgekannt haben über Geduld und Ungeduld in der Bibel. Er kannte die Geschichten von der Wüstenwanderung Israels. Dass es 40 Jahre werden würde, wusste keiner. Aber zwischendurch riss dem Volk der Geduldsfaden: „Wie lange soll das noch dauern? Wären wir mal lieber in Ägypten geblieben.“
Jakobus kannte die Propheten und den Hiob, allesamt Menschen, die einen langen Atem hatten, Widerstandskräfte, Geduld. „Der Herr hat´s gegeben, der Herr hat´s genommen.“
Und natürlich weiß Jakobus auch über Jesus gut Bescheid. Dass Jesus schon einmal gekommen war, geboren, aufgewachsen, und dass er Menschen gesucht und besucht hatte, auch die, die sonst wenig Besuch bekamen. Hat sich ihnen geduldig zugewandt; in Gleichnissen von Gott gesprochen, Menschen gesund gemacht; aber auch seine Meinung vertreten; nicht nur Ja und Amen gesagt. Mit den Händlern im Tempel z.B. hatte Jesus gar keine Geduld. Er hat Menschen beigebracht, wie man beten kann, ruhig auch mal hartnäckig und ungeduldig. Viele fanden ihn faszinierend, manche änderten ihr Leben, einige wenige folgten ihm nach. Doch er wurde verhaftet, verurteilt, getötet. Jakobus weiß auch, dass es Ostern gab, den Osterglauben: „Christ ist erstanden“. Nicht tot zu kriegen. Und Jakobus glaubt fest daran, dass Jesus nach seiner Himmelfahrt nicht auf ewig im Himmel bleibt sondern wiederkommt. „Seid nun geduldig, liebe Brüder und Schwestern, bis zum Kommen des Herrn.“
Das „Kommen“ des Herrn (Jesus) ist der Hauptinhalt der Adventssonntage.
Aber: Wie lange dauert das denn noch?
Darüber bestand schon zur Zeit des Jakobus Uneinigkeit. Eigentlich dachte man, das geht ganz schnell. Aber nun zog es sich schon über Jahrzehnte hin. „Wo bleibst du, Trost, der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt?“ Jakobus appelliert an die Geduld. Jesus wird wieder kommen, er ist ganz nah, steht quasi schon vor der Tür.
Wann kommt Jesus wieder? Ich habe dazu im Internet die Andacht eines jungen, frommen Mannes gefunden. Er sagt, in der Zeit kurz nach Jesus sei das schon hart gewesen, denn damals hätten die Leute auf Jesu Wiederkunft gewartet und gewartet und nichts sei passiert. Heute aber hätten wir es viel besser, denn Jesus komme nun wirklich bald. Und es würde jetzt nicht mehr lange dauern. Die Menschen damals waren also von Jesu Wiederkommen sehr weit entfernt, wir nicht. Das Meiste an Wartezeit ist inzwischen geschafft.
Ich zerbreche mir den Kopf darüber nicht. Kommt er wieder? Oder nicht? Und wann? Und wie? Denn für mich ist Jesus eh nicht „weg“, sondern er ist „da“. Hier und heute. Mitten unter uns – denn wir sind ja in seinem Namen versammelt. Und bei uns, „bis ans Ende der Welt“.
Soviel zu Jakobus, der zur Geduld aufruft. Geduld, das Megathema unserer Tage. Wie lange dauert es noch? Wann können wir wieder alle Plätze in der Kirche besetzen. Wann können wir wieder singen? Wie lange dauert es noch? Wann können sich Großeltern und Enkel wieder unbeschwert besuchen, wann junge Leute wieder feiern gehen? Wann können wir einander wieder die Hand geben, uns umarmen? Ins Konzert gehen, ins Museum, ins Restaurant. Wie lange noch auf all das verzichten?
Manche fordern deshalb: „Schluss damit. Schluss mit den Einschränkungen. Mit den Verboten. Mit den Eingriffen in die persönliche Freiheit.“ Das sind die, die gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße gehen. Sie könnten wütend auf das Virus sein, aber ihre Wut richtet sich gegen die Politik und die Viren-Experten. Ich teile die Ansicht der Demonstrierenden nicht. Ich bin froh, dass wir Wissenschaftlerinnen und Politiker haben, die sich jeden Tag dafür einsetzen, unser Land durch diese Krise zu steuern. Und dass es in der Regierung keine „Corona-Leugner“ gibt.
Was ich aber nachvollziehen kann: Dass einem die Geduld mit der Zeit abhandenkommt.
Kann Geduld gestärkt werden?
Es gibt Verkehrsampeln, da ist eine Sekundenanzeige drunter montiert. Ich weiß dann genau, in 18, 17, 16 Sekunden (Countdown) springt die Ampel wieder auf grün und mein Warten hat ein Ende. Der Adventskalender mit seinen 24 Türchen hat eine ähnlich Funktion: den Zeitraum klar markieren, das Warten bis zum Weihnachtsfest erleichtern und versüßen. Leider geht das bei Corona nicht. Weil es ein unbefristetes Warten ist. Und jeder, der sagt: „Spätestens im Februar sind wir über den Berg“, verbreitet damit falsche Hoffnungen. Wir wissen nicht, wie lange wir noch geduldig sein müssen.
Was mir hilft in dieser Krise: mich mit anderen auszutauschen, reden, telefonieren, schreiben. Wie läuft es bei dir? Kann ich dir helfen? Trotz Kontaktbeschränkung wird mir klar: Ich bin nicht allein. Wir stärken und ermutigen uns gegenseitig. Tun, was wir können.
Nicht von Kontaktbeschränkung betroffen ist der Kontakt zu Gott. Das Beten, Klagen, Flehen, nicht weiter wissen, das Herz ausschütten, ehrlich sein, sich die eigene Ungeduld bewusst machen. „Gott, das Warten fällt so schwer!“ Und ich weiß: Viele beten so. Wir sind nicht allein.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Gottesdienst mit coronabedingt reduzierter Teilnahmerzahl. Kleine niedersächsische Dorf-gemeinde. Ich habe Gemeindeglieder vor Augen, die mir nach Predigten oft kurze Rückmeldun-gen zu lebensnahen (nie exegetisch-dogmatischen) Aussagen der Predigt geben.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Stichwort „geduldig“ im Predigttext war der Schlüssel, der alles andere eröffnet und befördert hat.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Mir ist aufgegangen, dass im Predigttext zwar eindeutig zu Geduld aufgerufen wird, die Lage aber gesamtbiblisch schillernder ist: auch Ungeduld kann ihren berechtigten Platz haben. Das kommt meinem eigenen Seelenleben nahe: Die Geduld und die Un-geduld sind zwei Stimmen des inneren Teams.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich habe nichts überarbeitet. Das soll nicht abschätzig oder tollkühn wirken. Ein Todes-fall in der Familie sorgte für andere Schwerpunktsetzungen. Die Rückmeldungen des Predigtcoaches waren dennoch in hohem Maße einfühlend, klug und hilfreich, auch sprachwitzig. Großes Dankeschön dafür! Das Nicht-Überarbeiten war mit ihm abgespro-chen.
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20.10.2019 - 18. So. nach Trinitatis
Eine Epistel zum Thema: Das Ansehen der Person in der christlichen Gemeinde - Predigt zu Jakobus 2, 1-13 von Markus Nietzke
[I. Das Lektionar]
Das große, in steif-goldenes Papier eingehüllte Buch liegt vorne in der Kirche auf dem Lesepult. Wenn Du dieses Lektionar aufschlägst und darin blätterst, kannst Du das Papier beim Umblättern rascheln hören.
[II. Der Vorleser]
Gerade ist es so leise in der Kirche, dass man selbst Schritte hören kann. Dort! Da geht er, nicht zu schnell, damit keine Unruhe entsteht, aber auch nicht so langsam, dass es aufgesetzt wirkt. Dort geht der Diakon dieser Gemeinde! Er hat ein weißes Gewand an. Quer über die Schulter liegt eine grüngefärbte Stola. Sie macht deutlich: Hier hat jemand eine ganz bestimmte Aufgabe im Gottesdienst; eine ganz bestimmte. Nein, nicht alle Aufgaben. Er wirkt heute im Gottesdienst mit. Als Lektor. Er liest Worte aus der Heiligen Schrift der versammelten Gemeinde vor. Wenn er zu Ende gelesen hat, wird die Gemeinde ein Lied singen. Zur Ehre Gottes. Später im Verlauf des Gottesdienstes, nach der Predigt durch die Pastorin, bei der Austeilung des Abendmahls, wird man zwar auf der Zunge das Stückchen Brot kaum schmecken, aber den würzigen Wein aus dem Kelch riechen. Dann aber wird der Diakon wie jede und jeder andere im Gottesdienst am Altar stehen. Dann gibt es keinen Unterschied mehr zu den anderen Menschen in der Kirche. Dann sind alle, ob Groß oder Klein, Kinder, Erwachsene, junge Menschen oder Hochbetagte und selbst die Frau im Rollstuhl Gäste am Tisch des Herrn Jesus Christus. Da schenkt er sich selbst, Jesus, der Herr der Herrlichkeit, in, mit und unter dem Brot und Wein.
[III. Die Überschrift]
Noch aber ist es nicht soweit. Der Diakon erreicht das Lesepult, blättert im Lektionar und findet die Bibelstelle. Er liest laut, langsam und deutlich hörbar: „Meine Brüder und Schwestern, haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person“ (Jakobus 2,1). Dann hält er den Atem kurz an, atmet tief aus und wieder ein, ehe er weitere Zeilen vorliest.
[IV. Zwischenbemerkung I]
Liebe Gemeinde, mit dem Lesen, insbesondere dem lauten Vorlesen in der Kirche, ist das ja so eine Sache. Alles muss einfach klappen: Die Lautstärke. Die Übertragung per Mikrofon in der Kirche. Damit Menschen, die nur noch schwer hören können, hören können, was vorgetragen wird. Ruhig muss es auch sein; damit das Vorgelesene zur Wirkung kommen kann. Das laute Lesen, das Vorlesen, es will geübt und gekonnt sein.
[V. Zwischenbemerkung II]
Wer im Gottesdienst laut vorliest, macht sich meistens schon im Vorfeld Gedanken darüber, was er oder sie lesen wird. Weil er oder sie damit die Worte Gottes aus der Heiligen Schrift in den Mund nehmen. Heilige Worte mit Bedeutung. Worte, die vom Hören zum Glauben und vom Glauben zum Handeln führen können, vielmehr noch, wollen! Das weiß der Diakon.
[VI. Hintergrund-Info: An wendet sich der Predigt-Abschnitt?]
Die Worte stammen aus dem Neuen Testament. Aus einem Schreiben eines Mannes der sich so vorstellt: „Jakobus, Gottes und des Herrn Jesu Knecht" Wer, bitte? Jakobus! Ein Diener Gottes. Jemand, der Jesus Christus nachfolgt. Jakobus schreibt an die „Zwölf Stämme in der Zerstreuung“ (Jakobus 1,1). Menschen, die sich in sehr kleinen, überschaubaren, christlichen Gemeinden – in der Sinai-Halbwüste, im oberen Ägypten und am Nil – versammeln. Dort singen sie, beten, hören Worte aus den Heiligen Schriften des Ersten Testaments. Es sind Menschen, die sich für den neu aufkommenden christlichen Glauben interessiert haben, getauft wurden und nun fragen: Wie führt man sein Leben in Beziehung zu Jesus Christus? Gibt es da bestimmte Regeln?
[VII. Epistel – ein altes Wort mit Bedeutung]
Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, was Jakobus schreibt, ist gar kein richtiger Brief. Vielmehr ist es eine Epistel. Aus dieser Epistel aus dem Schreiben des Jakobus wird der Diakon im Gottesdienst vorlesen. Einen Abschnitt aus einem Schriftstück. Mit gehobenen Anspruch an die Leser oder Hörer.
[VIII. Worum geht es in der Jakobus-Epistel?]
Die Epistel des Jakobus ist in fünf Kapitel gegliedert. Darin geht es um zwölf ganz unterschiedliche Themen:
1. Wie man mit Zweifeln im Glauben umgehen kann.
2. Was es mit Gottes Güte auf sich hat.
3. Wie ein Christ sein Leben gestaltet.
4.Wie das Verhältnis zwischen armen und reichen Menschen in einer christlichen Gemeinde anzusehen ist.
5. Christlicher Glaube und entsprechendes Verhalten.
6. Welche Probleme gedankenloses Gerede mit sich bringt.
7. Was Weisheit ist.
8. Wie Neid und Streit, schließlich zu Hass und Krieg führen können.
9. Wunschdenken und ein Realitätscheck in Sachen Zukunft.
10. Der richtige Umgang mit Geld.
11. Gottes Gerechtigkeit setzt sich am Ende aller Tage durch.
12. Welch eine wichtige Rolle dem Gebet, insbesondere bei kranken Menschen, zukommt.
[IX. Prepare-Enrich]
Der Diakon denkt: Fürs Zuhören im Gottesdienst wäre das viel zu viel. Er wird sich auf einige wenige Verse beschränken. Beschränken müssen. Beschränken wollen. So wählt er nur einen einzigen Abschnitt aus: Wie das Verhältnis zwischen armen und reichen Menschen in einer christlichen Gemeinde anzusehen ist. Darum soll es gehen. Wie sich Sprache und Sozialverhalten aufeinander beziehen. Ihm kommen dabei Tumulte in den Sinn, wo es Proteste gab, weil sich durch einen Krieg anderswo Menschen auch bei ihm im Ort angesiedelt haben. Sprache und Sozialverhalten als Thema. Als schwieriges Thema im Miteinander, wenn Meinungen aufeinander prallen. Das alles will er bei seinem Vortrag bedenken. Er liest schließlich nicht einfach nur irgendeinen Text ab. Er bereitet sich darauf vor. Gliedert den Abschnitt. Er will durch sein Lesen deutlich machen, was die Überschrift ist und welche Gedankengänge Jakobus in seiner Epistel zu diesen einem Thema bewegt haben.
[X. Die Lesung aus dem Jakobusbrief, Kapitel 2,1-13 – mit Zwischenbemerkungen]
So hat er als erstes eine Überschrift ausgemacht. Sie lautet: „Meine Brüder und Schwestern, haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person.“ Allein schon dieser Satz lohnt es, ausgelegt zu werden. Während es in der Gesellschaft um ein bestimmtes Ansehen einer Person gehen mag, soll dieses Sozialverhalten unter den Christen keine besondere Rolle spielen! Der Diakon denkt: Das ist leichter gesagt als getan! Der Diakon kratzt sich am Kopf. Die Epistel will eher ausgelegt als vorgelesen werden, ins Gespräch führen, in den Austausch darüber, worum es im Verhalten der Christen geht. Jakobus nimmt in seiner Epistel auf folgende Begebenheit Bezug: „2 wenn in eure Versammlung ein Mann kommt mit einem goldenen Ring und in herrlicher Kleidung, es kommt aber auch ein Armer in unsauberer Kleidung, 3 und ihr seht auf den, der herrlich gekleidet ist, und sprecht zu ihm: Setz du dich hierher auf den guten Platz!, und sprecht zu dem Armen: Stell du dich dorthin!, oder: Setz dich unten zu meinen Füßen!, 4 macht ihr dann nicht Unterschiede unter euch und urteilt mit bösen Gedanken?" Der Diakon setzt hier ein Pausenzeichen fürs Lesen. Mit seiner Frage macht Jakobus ja deutlich, dass in der Gemeinde sehr wohl zwischen Höflichkeit und ungleichmäßige Behandlung zu unterscheiden ist. Die besondere Betonung oder Zuwendung an eine sehr begüterte Person bedeutet für die Armen in der Gemeinde eine Zurücksetzung. Eine Kränkung. Eine Beschämung! Mahnend greift Jakobus bei solchen konkreten Begebenheiten unter den Christen ein. „5 Hört zu, meine Lieben!" schreibt er. „Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn lieb haben?" Jakobus mag da vielleicht an Weihnachten gedacht haben, wie den ärmlichen Hirten auf den Feldern die frohe Botschaft von dem Kommen des Heilands in die Welt dann gesagt wurde. Die Hirten waren nicht unbedingt angesehene Leute; trotzdem wurden sie gewürdigt, Gottes frohe Botschaft zu hören. Man könnte weitere Beispiele nennen. Wieder setzt der Diakon ein Pausenzeichen. Jakobus wird in seiner Erläuterung etwas schärfer im Ton: „6 Ihr aber habt dem Armen Unehre angetan. Sind es nicht die Reichen, die Gewalt gegen euch üben und euch vor Gericht ziehen? 7 Verlästern sie nicht den guten Namen, der über euch genannt ist?" Menschen mit viel Geld haben viele Möglichkeiten, ihre Sicht des Rechts in der Gesellschaft durchzusetzen! Aber darum geht es nicht in einer christlichen Gemeinde. Es geht darum was Jesus Christus gepredigt und selbst vorgelebt hat. Daran erinnert Jakobus. Er schreibt: „8 Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift (3.Mose 19,18): »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, so tut ihr recht; 9 wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Übertreter." Jakobus schreibt seinen Brief an Christen, die sich gut im Ersten Testament, den heiligen Schriften der Juden, auskennen. In den fünf Büchern Mose sind die Weisungen Gottes überliefert. Weisungen, die einerseits mit Gott zu tun haben, andererseits mit dem Verhältnis zu den Mitmenschen. Mit diesem Regelwerk kennen sich auch Christen aus. Manche nennen sie: „Die zehn Gebote". Jakobus teilt die Überzeugung jüdischer Schriftgelehrter und Rabbiner, die sich mit folgendem Satz umschreiben lässt: „[10 Denn] wenn jemand das ganze Gesetz hält und sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig." Das begründet Jakobus mit folgenden Worten: „11 Denn der gesagt hat (2.Mose 20,13-14): »Du sollst nicht ehebrechen«, der hat auch gesagt: »Du sollst nicht töten.« Wenn du nun nicht die Ehe brichst, tötest aber, bist du ein Übertreter des Gesetzes." so soll es nicht sein unter den Christen. Nein, ganz anders! Mit heiligem Ernst mahnt Jakobus in seiner Epistel: „12 Redet so und handelt so als Leute, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen. 13 Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht." Der Diakon hat nun den Abschnitt gelesen und bemerkt: Das klingt beim Vorlesen widersprüchlich: Gesetz und Freiheit. Er liest die Zeilen noch einmal. „Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht“ (Jakobus 2,13). Der Diakon reibt sich verwundert die Augen: Kann ich diese Fülle an Aussagen wirklich mit meinem Vorlesen im Gottesdienst deutlich machen? Er wird es versuchen! Eins ist klar; die Überschrift wird es sein, die besonders zur Geltung gebracht werden muss: „Meine Brüder und Schwestern, haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person.“
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07.10.2018 - 19. So. nach Trinitatis
30.09.2018 - 18. So. nach Trinitatis
Ein kalter Frühling - Predigt zu Jakobus 1,12-18 von Kathrin Oxen
Ein bleicher Frühlingstag Anfang März. In den Mauern der Stadtkirche sitzt sicher noch die Winterkälte. Von außen sieht sie ganz unverändert aus, aber im Inneren ist sie fast nicht mehr wiederzuerkennen. Die Altäre sind abgeräumt und die Heiligenbilder weggeschafft. Wo sie gehangen haben, heben sich helle Umrisse an den Wänden ab. In den Ecken und auf dem Bo-den liegt noch das Holz der Rahmen und auch Stücke der bemalten Holztafeln. Eine große Heiligenfigur, nun ohne Kopf und ohne Hände, wartet in der Nähe der Eingangstür darauf, weggebracht zu werden.
Nur zögernd betritt er die Kirche und sieht sich um. Unwillkürlich streicht er sich mit der Hand über den Bart. Eigentlich wollte er ihn sich noch vor der Abreise abnehmen lassen, aber dazu blieb keine Zeit mehr. Es musste schnell gehen, die Nachrichten aus Wittenberg waren zu beunruhigend. Er hat sich sehr beeilt, hierher zu kommen.
Und vielleicht ist es ganz gut, dass ihn noch nicht jeder gleich erkennt. Er selbst erkennt ja hier nicht alles wieder. Seine Stadt, seine Kirche, die Menschen, mit denen er zu tun hat – all das ist ihm fremd geworden. Sicher, er wusste Bescheid, er hat die Briefe gelesen, die auf der Burg ankamen, mit den Nachrichten über die Ereignisse in der Stadt. Aber dass es so sein wird, hat er sich nicht vorstellen können. Und das hat er nicht gewollt. Was er sieht, tut ihm weh. Die leere, kalte Kirche, die kahlen Wände, die Menschen, die gar nicht mehr wagen, hierher zu kommen, weil alles neu und fremd und unverständlich für sie ist. Statt der neuen Freiheit hat sich neue Angst und neuer Zwang ausgebreitet in dieser Stadt.
Als Martin Luther im März 1522 von der Wartburg zurück nach Wittenberg kommt, stellt er fest, dass sich seine neue Lehre zweifellos verbreitet hat. Und er muss auch feststellen, dass ein und dieselbe Einsicht ganz unterschiedliche Folgen haben kann. Er selbst hatte in seiner Schrift „Von den guten Werken“ gegen die Bilder in den Kirchen gesprochen. Aber es ging ihm nicht um die Bilder an sich. Es ging ihm um den Irrtum, durch ein gutes Werk, wie die Stiftung eines Bildes, sei das Seelenheil zu erlangen.
Das Heil lässt sich durch nichts erwerben, es wird uns geschenkt. Das ist seine These, hinter allen Thesen, allen Sermonen, allen Predigten. Die Bilder können ruhig hängen bleiben. Es werden aber wohl keine neuen mehr dazu kommen. Denn niemand braucht mehr solche sicht-baren Zeichen seiner guten Taten.
Sein Freund Andreas Bodenstein von Karlstadt hatte diese Gedanken aufgenommen. Wenn man gute Werke tun möchte, dann nicht, indem man Bilder stiftet, sondern indem man das Geld den Armen und den Schwachen zu Gute kommen lässt. Eine große schwere Holztruhe stand ab da in der Stadtkirche. In diesen „Gemeinen Kasten“ flossen alle Erlöse aus dem Ver-kauf der Kirchen- und Klostergüter, auch aus dem Verkauf der Bilder und kostbaren Gegen-stände in den Kirchen.
Sie wollten den Worten Taten folgen lassen in Wittenberg. Aber dabei sind sie zu weit gegan-gen. Diese Taten haben sie zu Tätern gemacht. Das sieht man, wenn man sich in der Kirche umsieht. Das spürt man auf Schritt und Tritt, wenn man durch die Stadt geht.
Es wird ihm nun nichts anderes übrig bleiben, als morgen diesen Taten wieder Worte folgen zu lassen. Er kann jetzt nichts tun. Aber er wird predigen, morgen am Sonntag natürlich und wenn es nötig ist, noch öfter. Und er wird darüber sprechen, wie das zusammengehört: dass man nichts tun kann vor Gott und dass man trotzdem etwas tun muss, weil der Glaube immer Folgen für das Handeln hat. „Gott will nicht Zuhörer oder Nachredner haben, sondern Nach-folger und Täter, und das in dem Glauben durch die Liebe.1“
Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet; denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, die Gott verheißen hat denen, die ihn lieb haben.
Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde. Denn Gott kann nicht versucht werden zum Bösen, und er selbst versucht niemand.
Sondern ein jeder, der versucht wird, wird von seinen eigenen Begierden gereizt und gelockt. Danach, wenn die Begierde empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod.
Irrt euch nicht, meine lieben Brüder. Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei dem keine Veränderung ist noch Wechsel des Lichts und der Finsternis. Er hat uns geboren nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, damit wir Erstlinge seiner Geschöpfe seien. (Jak 1,12-18)
Das war nicht sein Text am Sonntag Invokavit, am 9. März 1522 in Wittenberg. Das war überhaupt nicht sein Text. Mit dem Jakobusbrief hat Martin Luther nicht viel anfangen kön-nen, das hat er oft und unmissverständlich gesagt. Die Rede von der „strohernen Epistel“ ist bekannt und im Gegensatz zu vielen anderen Aussprüchen Luthers auch gut bezeugt. In einer Art Trotzreaktion hat er diesen Brief an das Ende der Bibelausgaben verbannt, für die er ver-antwortlich war. Doch für das Problem, mit dem er zu tun hatte, in diesem kalten Frühjahr in Wittenberg, wäre es gar nicht schlecht für ihn gewesen, diesen Brief zu lesen.
Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet; denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, die Gott verheißen hat denen, die ihn lieb haben. (Jak 1,12)
Das kann er erst einmal für sich selbst lesen, denn die Anfechtung und den Zweifel, die spürt er gerade am eigenen Leibe. War es richtig, was ich gesagt und getan habe? Wie kann es sein, dass die anderen zu so ganz anderen Einsichten kommen als ich?
Selig die Zweifler. Selig, die sich nicht ganz sicher sind, dass sie das Richtige tun. Wo der Zweifel unterdrückt wird, wo das Handeln nicht mehr hinterfragt wird, geschehen schlimme Dinge. Da wird herausgerissen und zerstört, was man vielleicht bewahren müsste.
Andreas Bodenstein von Karlstadt hatte sich von seinen Zweifeln verabschiedet. Er glaubte ganz sicher zu wissen, was richtig und was falsch war. Da gab es nur noch schwarz oder weiß, Bilder oder keine Bilder und nichts mehr dazwischen.
Die Anfechtung erdulden und die Zweifel bewahren, das ist schwer. Es gibt keine einfachen Lösungen. Aber es ist ja viel leichter, Menschen für einfache Lösungen zu begeistern als für mühsame Mittelwege. Es ist verführerisch leicht. Wo das endet, das kann man in Wittenberg sehen, in dem kalten Frühjahr 1522. Man sieht es aber auch an allen anderen Orten, wo es keine Zweifel mehr gibt und einfache Lösungen ausgerufen werden.
Menschen, die glauben, sind besonders anfällig dafür, weil der Glaube doch Sicherheit geben soll und Eindeutigkeit. Aber so funktioniert es nicht. Und das wird auch Martin Luther am Sonntag in der Predigt sagen: „Denn wer den Glauben hat, Gott vertrauet und seinem Nächs-ten die Liebe erzeigt, der kann ja nicht ohne Verfolgungen sein. So nimmt der Glaube durch viele Anfechtung und Anstöße immer zu und wird von Tag zu Tag gestärkt.2“
Du brauchst Geduld. Du musst dich bewähren. Erst ganz am Ende wirst du wissen, was falsch und was richtig war. Und das fühlt sich an, als trügest du eine Krone auf dem Kopf. So gerade stehst du da und aufrecht und frei.
Die Anfechtung und der Zweifel gehören zum Glauben dazu. Ob man Gott die Schuld daran geben sollte? Oder sind es die Menschen und ihr Handeln, die uns zweifeln lassen? „Hierin müssen wir einen klaren starken Spruch haben, der dieses bezeuget“ hat Martin Luther in seiner Predigt gesagt. Er findet diesen Spruch bei Paulus: Wir sind alle Kinder des Zorns. (Eph 2,3)
Aber dieser klare starke Spruch steht auch im Jakobusbrief: Gott versucht niemanden. Jeder, der versucht wird, wird von seinen eigenen Begierden gereizt und gelockt. (Jak 1,13b-14)
Wer sich auf seine eigenen Begierden einlässt, wird erleben, dass diese Affäre nicht ohne Folgen bleiben kann. Andreas Bodenstein von Karlstadt ist ein gutes Beispiel dafür. Ihn hat die Aussicht gelockt, in Abwesenheit Luthers zum Anführer der Wittenberger Bewegung zu werden. Nicht länger einer unter vielen, sondern die Spitze der Bewegung. Also weg mit den Zweifeln und her mit den Parolen. Es fühlte sich nicht richtig an, als sie die Bilder von den Wänden der Stadtkirche rissen. Aber es fühlte sich gut an.
Doch schon bald wird sichtbar, was aus dieser Begierde eines einzelnen noch alles entsteht. Jede Affäre kann sichtbare Folgen haben - ein Kind kommt in die Welt. Auch in Wittenberg ist aus der Begierde des Andreas Bodenstein von Karlstadt etwas entstanden. Die Wittenber-ger Bewegung ist sehr lebendig und selbstständig geworden. Aber das war kein Grund zur Freude. Sie waren nicht länger zu kontrollieren. Wie die Kinder der Zorns sind sie durch die Stadt gezogen.
Vieles von dem, was wir sehen und erleben in unserer Welt, lässt uns zweifeln an Gottes Güte und Fürsorge für seine Menschen. Und vieles davon ist eine Frucht der Affären mit unseren eigenen Begierden. Irrt euch nicht, meine lieben Brüder. (Jak 1,16)
Gott versucht niemanden. Von ihm kommt Gutes und von ihm kommt Licht. In dem kalten Frühjahr 1522 in Wittenberg sind die Tage noch kurz und die Nächte kalt. Sie sehnen sich nach Licht und nach Wärme. Wie gut wäre es für sie, zu lesen: Gott ist der Vater des Lichts. Und er ist der Vater, der zugleich eine Mutter ist. Er hat uns geboren, nach seinem Willen. (Jak 1,17f)
Aber so, als hätte er doch diesen Text gelesen und predigen wollen, hat er dann seine Witten-berger angesprochen am Sonntag Invokavit. Er hat sie erinnert an das, was Gott von sich sagt: „Ich habe dich getragen und aufgezogen, wie eine Mutter ihrem Kinde tut.“
Und dann hat er gefragt: „Was tut die Mutter ihrem Kinde? Zum ersten gibt sie ihm Milch, danach einen Brei, danach Eier und weiche Speise: wo sie es umgekehrt anfinge und harte Speise gäbe, würde aus dem Kind nichts Gutes. So sollen wir auch unserem Bruder tun, Geduld mit ihm haben und seine Schwachheit dulden und tragen helfe, ihm auch Milchspeise geben, wie es uns geschehen ist, bis er auch stark werde, und nicht allein gen Himmel fahren, sondern unsere Brüder, die jetzt nicht unsere Freunde sind, mitbringen.“3
Von Gott kommt Licht. In seiner Nähe ist es warm. Von Gott kommt liebevolle Zuwendung für die Schwachen. Wer, wenn nicht die Väter und Mütter auf dieser Welt, wüssten um die Geduld und Zuwendung, die es braucht, bis aus kleinen Kindern starke Menschen werden? Vom ersten Löffel Brei über die ersten Schritte bis zu den eigenen Wegen braucht es nichts als Liebe und unendliche Geduld.
Diese Liebe und Geduld bringt Gott für uns auf. Und diese Liebe und Geduld sind wir einan-der schuldig. Damit die Kirche und die Stadt und die Welt nicht kalt und leer sind, sondern es Orte voller Licht und Wärme gibt.
Am 9. März 1522 in Wittenberg war die Kirche leer und kalt. Das ist nicht so geblieben. Heu-te leuchten wieder Bilder in ihr. Lucas Cranach hat sie gemalt, damit der neue Glaube sichtbar wird für alle. „Gott will nicht Zuhörer oder Nachredner haben, sondern Nachfolger und Täter, und das in dem Glauben durch die Liebe.“
Amen.
Gott, du bist nicht glücklich mit uns,
wenn wir einander unglücklich machen;
unerträglich ist es dir, wenn wir einander umbringen und töten.
Wir bitten dich,
zerbrich den Kreislauf des Bösen,
in dem wir gefangen sind,
und lass die Sünde in uns aussterben,
wie in Jesus, deinem Sohn,
die Sünde der Welt ausgestorben,
der Tod getötet worden ist-
er lebt für uns heute und für alle Tage.
Du erträgst es nicht,
dass einer deiner Menschen verloren gehen sollte.
Du suchst uns auf,
wenn wir uns entfernt haben von dir,
viel mehr, als wir dich suchen,
bist du auf der Suche nach uns.
Wir halten uns fest
an der Sicherheit,
an der Verheißung
und deiner erfinderischen Liebe
vertrauen wir uns an.
Nicht um zu richten, bist du gekommen, Gott,
sondern um zu suchen,
was verloren ist,
und zu befreien, was in Schuld und Angst gefangenliegt,
um uns zu retten,
wenn uns unser Herz anklagt.
Nimm uns, so wie wir hier zugegen sind,
mit aller sündigen Vergangenheit der Welt.
Du bist doch größer als unser Herz,
größer als alle Schuld,
du bist der Schöpfer
einer neuen Zukunft,
ein Gott der Liebe bis in Ewigkeit.
(Huub Oosterhuis, Gegen den Menschen,
leicht gekürzt aus: Das Huub Oosterhuis Gottesdienstbuch, Herder Verlag 2013.)
Psalmvorschlag: Psalm 91
Evangelium: Mt 4,1-11
Lesung aus dem Alten Testament: 1. Mose 3,1-19
Liedvorschläge:
EG 96 (Du schöner Lebensbaum des Paradieses)
EG 347 (Ach bleib mit deiner Gnade)
EG 358, 1-3 und 6 (Es kennt der Herr die seinen)
EG 362, 1-4 (Ein feste Burg ist unser Gott) (Wochenlied)
EG 450, 1-3 (Morgenglanz der Ewigkeit)
1 Martin Luther, Acht Sermone gepredigt zu Wittenberg in der Fastenzeit. Am Sonntag Invocavit, 9. März 1522, in: Kurt Aland, (Hg.): Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd. IV: Der Kampf um die neue Lehre, Göttingen 41990, 62.
2 ebd.
3 A.a.O., 63.