"Ein kleiner Mann" - Predigt über Lukas 19, 1-10 von Wolfgang Gerts
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"Ein kleiner Mann" - Predigt über Lukas 19, 1-10 von Wolfgang Gerts

Hinweis: Es handelt sich um den Gottesdienst zur Verabschiedung des Predigers in den Ruhestand. 
  
  Ein kleiner Mann
  
  Liebe Gemeinde,
  
  eine biblische Szene steht nie allein da. Es gibt die Geschichte, die sie erzählt; es gibt die Geschichte, die ihren Ursprung beschreibt, den Sitz im Leben, so nannten wir das früher. Und es gibt auch ihre Wirkungsgeschichte, und ausnahmsweise fange ich heute mit der mal an – von hinten her sozusagen.
  
  War ich fünf? Im evangelischen Kindergarten haben wir uns mit Zachäus befasst, und wir haben ein schönes Lied gelernt:
             
  Zachäus war ein kleiner Mann,
  ein sehr kleiner Mann war er,
  er stieg auf einen Maulbeerbaum,
  denn der Heiland kam daher…
  
  Das war noch in der Generation, wo Erwachsene einen fremden Jungen ansprachen mit den Worten: „Na, kleiner Mann…?“ – Und so fand ich es toll, dass Zachäus auch so ein kleiner Mann war und Jesus ihn fand und wichtig nahm. So ein Jesus war auch einer für mich! Mit dem konnte ich was anfangen, ich kleiner Mann.
  
  Den letzten Baustein einer “Wirkungsgeschichte“ hatten wir vor 2 Jahren hier in einer wunderschönen Beatmesse, in sieben Tagen erarbeitet von Konfirmandinnen und Konfirmanden. Der Titel war ganz unkonform: „Komm mal wieder runter, Zachäus“. Ich erinnere mich an den Sing- und Sprechchor:  „Zachäus, du mieser mieser mieser mieser Mann. Klein und gemein, wie könnt es anders sein? Klein und gemein, wie könnt es anders sein!“ – „Jesus lädt sich ein beim Gauner, darf das sein?“ – „Und bei Kerzenschein sitzen sie mit Brot und Wein. Zachäus, du mieser…“* und so weiter.
  
  Wir hatten einen Zachäus gefunden, der wundervoll in diese Rolle passte. Tagelang hatte er sich mit der tollen Bläserin und Sängerin Melanie auf seinen Solopart vorbereitet. Ein russischstämmiger Konfirmand, dem man seine Herkunft an der Sprache anmerkte, ein liebenswürdiges Schlitzohr, mit einem Schalk im Nacken. Und doch musste er in der vollen Kirche dann seinen ganzen Mut zusammennehmen, als er sein gewaltiges Solo begann:
  
  „Meint ihr, ich wollte, dass mich keiner mag? Mir blieb ja keine Wahl. Die Beamten des Herodes haben mir mein ganzes Land weggenommen, meinen schönen Bauernhof. Allein mein Leben ließen sie mir, allein mein Leben, und ich konnte sehn, wo ich bleibe. Ich war froh, dass ich überhaupt eine Arbeit fand. Schließlich muss ich eine ganze Familie ernährn. Meine Kinder brauchen was zu essen. Ich habe hart gearbeitet, und endlich geht’s mir gut – doch jetzt, wo ich mir alle Wünsche erfüllen kann, habe ich keine Freunde. Ich habe keine, keine, keine Freunde mehr. – Ja es war schon immer so mit den Zöllnern, die werden auch ganz schön ausgenommen von denen da oben. Was meint ihr, was los ist, wenn wir nicht zahlen können… Und das bisschen, was wir für uns beiseitelegen, ab und zu ein kleines Trostpflästerchen… Immerhin muss irgendwer ja diese Arbeit machen. Ja, es muss wohl immer Leute geben, die verachtet sind, verachtet sind! Ich habe keine, keine, keine Freunde mehr.“*
  
  Liebe Gemeinde, in diesem Moment hätte man eine Stecknadel auf den Boden fallen hören können. Und Zachäus hatte in diesem Moment eigentlich nur Freunde und Freundinnen. Die Herzen aller hatte er sich erobert, und alle waren froh, dass Jesus so einen gefunden hatte. Auch wenn der heute Michael hieß.
  
  Aber ist das denn das legitim, so mit diesem Wort Jesu umzugehen? Öffnet das nicht Tor und Tür für jeden Versuch, sich einen Zachäus nach dem eigenen Geschmack zurechtzubasteln? – Wo bleibt die Botschaft, die uns heute berührt, aus der Geschichte heraus?
  
  Richten wir unseren zweiten Blick also auf die kleine Erzählung selber.  Als Oberzöllner ist er ein Mensch, der vielleicht geachtet und respektiert ist, von manchen gefürchtet.  Aber nicht geliebt.  Als er Jesus zu Gast gehabt hatte, lautete sein Fazit: umzukehren. Es wird überhaupt nicht gesagt, dass er zuvor alle betrogen hat. Nur: wo er das getan hatte, gab er alles zurück. Und dann noch die Hälfte seines gesamten Vermögens an die Armen. Bestenfalls an diesem Punkt hört Zachäus sicher auf, ein Vorbild für uns zu sein.  So genau wollen wir das doch nicht wissen. Auch ich habe schon manches Mal eine Zachäus-predigt überstanden, ohne anschließend freiwillig mein Vermögen zu halbieren. Das ist eher merkwürdig an ihm.
  
  Auch Jesus tritt hier sehr merkwürdig auf. Wir dürfen nicht vergessen, dass dies der Moment ist, in dem alle ihm zujubeln. Auch wenn Jesus hier sagt, dass er sucht, was verloren ist. Er läuft da niemandem hinterher, er kommt zwar nahe, aber die Leute kommen zu ihm. Auch Zachäus, der es riskiert, sich lächerlich zu machen, um Jesus sehen zu dürfen, ist von sich aus gekommen.
  
  Jesus wird es übel genommen, dass er sich ausgerechnet diesen Gauner aussucht, um auszuruhen, einen gedeckten Tisch zu finden, einen Menschen mit seiner Gegenwart zu ehren. Ausgerechnet den, und die ganze schöne Jubelszene, in der doch auch Gott in höchsten Tönen gepriesen wird, und Gottes Reich so nahe scheint, kriegt eine Wende, einen Stich mit. Jesus lässt Menschen, die nahe dran sind, an ihn zu glauben, die sich nichts sehnlicher wünschen, als ihm auch zu begegnen, schroff zurück. Und die stehn da rum und fragen: Was jetzt? Wie jetzt? Der zecht mit einem sündigen Vertreter der Besatzer herum? Was kann denn daraus werden?
  
  Es wird nicht berichtet, dass Zachäus außer diesem Moment seiner Umkehr noch irgendetwas Großes geleistet habe. Kein Sozialwerk, keine Glaubenskonkregation, nicht mal neue Statuten für ein soziales Handelswesen unter Berücksichtung der Bedürfnisse der Kundschaft. Nichts.
  
  Alles, was wir über ihn wissen, stammt aus diesem einzigen Moment einer Begegnung. Und es hat doch eine vielschichte Tiefe, die wir heute nicht ausschöpfen können.
  
  Darum werde ich Ihnen auch nicht viel mehr bieten können, als ein paar Gedanken, die ich für grundlegende Erkenntnisse aus der Begegnung zwischen Jesus und Zachäus halte oder der Begegnung von uns heute mit den beiden.
  
  Alles, was Zachäus vorzuweisen hat, bedeutet vor Jesus nicht viel. Im Grunde hat er gar nichts vorzuweisen als sich selbst und seine Person. Und die ist es auch, die Jesus sucht und findet.  Ich weiß, es geht auch um die missionarische Absicht, Menschen zu sagen: Um Jesus zu begegnen, musst du nichts vorweisen. Er nimmt dich so, wie du bist.
  
  Doch die andere Ebene gibt es auch: dass wir selbst uns bei allen Errungenschaften und Verdiensten, bei all dem Tollen, was wir zu leisten imstande sind, immer wieder daran erinnern lassen: auch das, was für dich zählt, ist reine Gnade. Und die ist ein Geschenk! Solange Du von Gottes Liebe und Gottes Gnade lebst, sollst Du wissen: du kannst dir selbst bei einem im Namen Jesu vollendeten Leben, sicher auch „Berufsleben“, nichts dazu verdienen!
  
  Damit meine ich nicht, dass wir unsere Begabungen nicht entfalten sollen. Auch die musikalischen. Im Gegenteil: gerade auf diesem Gebiet des Gemeindelebens und unseres Miteinanders, im Singen und Musizieren miteinander, finde ich bis heute die schönsten und erfüllendsten Momente, und eine große Ahnung von dem, was Gott uns alles geschenkt hat.
  
  Doch wird mir immer wieder angst und bange, wenn ich erleben muss, wie Ergebnisse unseres ehrenamtlichen oder dienstlichen Bemühens in der Kirche geschildert werden. Es ist alles großartig. Jede Aktion ist von beeindruckenden Zahlen und Sternstunden und höchstem Lob ummantelt, und immer noch gibt es Spielräume für weiteres Optimieren. Und ich werde bisweilen auch ängstlich, wenn wir mit unserem gewaltigen Angebot an hervorragenden Leistungen Szenen schaffen, wo die anderen Unbeteiligten uns nicht mehr ausweichen können, und an uns vorbei müssen, ob sie wollen oder nicht. Ich frage mich, wie großartig muss unsere Kirche denn noch werden, um ihre Berechtigung stärker zu spüren?
             
  Es ist total wichtig, dass wir als Gemeinde auch unsere Kirchenmauern verlassen. Es ist gut, wenn wir alle konfessionelle Enge überwinden, um Gemeinde nicht nur für zahlende Mitglieder zu sein, sondern auch Teil eines Sozialraums, zu dem wir uns bekennen. Es war gut, als in unserem letzten Kindermorgen vor ein paar Tagen die Kinder erfahren, dass Abraham Stammvater von Juden, Christen und Moslems sind, und dass Friede mit euch, schalom alechem und salem aleikum eine gemeinsame wertvolle Wurzel haben.
  
  Aber wir müssen niemandem Fallen stellen. Im Mittelpunkt steht für Jesus in der Begegnung das Finden des Verlorenen.  Und das bindet uns. Es bindet uns als Gläubige, als aktive oder auch passivere Gemeindemitglieder, den Verlorenen immer wieder neu nachzuspüren, vielleicht sogar nachzugehen. Nicht aber, sie zu überrennen.
  
  Es bindet uns an selbstkritische Reflexion, nicht ob wir methodisch alles richtig oder vieles falsch gemacht haben, sondern ob unser Herz noch von der Demut geleitet wird: Demut als der dankbaren Einstellung, dass ich aus Gnade bei meinem Gott schon ganz oben angekommen bin. Aus seiner Güte.
  
  Und wenn ich weiß, dass ich als ehrenamtlicher oder beruflicher Mitarbeiter von Gemeinde oder von Kirche oder auch nur als ein Gemeindeglied, dass sich dazu zählt, reich beschenkt bin, auch reich mit Gaben beschenkt bin, dann weiß ich, dass meine Gaben zum Mitteilen da sind. Anteil zu geben, aber auch Anteil zu nehmen. Da gibt es kein oben und kein unten. Da bin ich froh, dass mein Herr, Jesus Christus, mich nicht erst nach meiner Kunst oder meiner Leistung oder meiner Gerechtigkeit oder meiner Zuwendungsbereitschaft einschätzen muss.
  
  Mit all diesen Fragen hat sich auch Paulus auseinandergesetzt. Er hatte insofern eine Nähe zu Zachäus, als dass er auch erst einmal den römischen Besatzern diente, bis es zu einer Umkehr kam. Er schreibt:  „Denn es ist hier kein Unterschied: Sie sind allzumal Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Jesus Christus geschehen ist“.**  Ja. Wie Zachäus, der kleine Mann.
  
  Der Friede Gottes… Amen
  
  * Autoren der Liedtexte: Fritz Baltruweit und Katrin Pfeiffer
  **Römer 3,23
  
  
  Lieder:   Ich träume eine Kirche (Noten und Text können zugesandt werden)
  Wir haben Gottes Spuren festgestellt
  (viele unterschiedliche Quellen)
  
  
  Kyrie-Bitten
  
  Unser Gott, wir leben von Deiner Gnade, aber wir sind besorgt um unseren Rang und unsere Geltung. Wir bitten um Dein Erbarmen und singen:
  
  Wir fordern gerne Respekt. Doch hilf uns andere zu respektieren, die nicht sind, wie wir sind. Wir bitten um dein Erbarmen und singen.
  
  Wir möchten beachtet werden und stellen unsere Fähigkeiten gerne heraus. Lass uns trotzdem dankbar werden, dass Du uns liebst, wie wir sind. Wir bitten um dein Erbarmen und singen.
  
  
  Zum Gloria
  
  Danke, dass du uns nimmst, wie wir sind. Wir sind froh, dass wir uns nicht erst große Verdienste erwerben müssen, um von Dir anerkannt zu sein. Darum singen wir:
  
  
  Eingangsgebet
  
  Herr Jesus Christus,
  
  du siehst jedem von uns ins Herz – voller Liebe. Dir können wir uns öffnen, auch heute, wenn wir Worte des Evangeliums hören. Das ist gut so. Dafür wollen wir dir herzlich danken und dich bitten um einen Gedanken, ein Wort, das uns weiter führt.
  
  Amen