"Ein Loch im Dach der Worte " - Predigt über Jakobus 5, 13-16 von Jan-Dirk Döhling
5,13
I.„Guck mal Papa, das ist ein Wunschknochen.“ sagt die Fünfjährige als sie aus dem Kindergarten abgeholt wird und hält dem Vater einen mit Goldlack besprühten Hühnerknochen vor die Nase.
Der Vater ist irritiert. „Aha, ein Wunschknochen, wo hast Du denn den her?“ – „Ja der war in dem Piratenschatz, den wir heute gefunden haben.“
Was dann kommt ist eine absurde Geschichte von einer Flaschenpost, die die Erzieherin im Urlaub am Meer gefunden und gleich wieder abgeschickt hat, die dann aus dem Meer, gegen die Strömung bis in den kleinen Bach beim Kindergarten gespült und – wer hätte das gedacht – von genau dieser Erzieherin und ihrer Gruppe gefunden wurde.
„Ja und da war eine Schatzkarte drin und den Schatz haben wir auch gefunden und da waren Wunschknochen drin, einer für jedes Kind und da muss man dann sagen: ‚Tulilingang-Ga’ – sie wedelt den Knochen im Takt durch die Luft – und dann kann man sich was wünschen und dann passiert das dann auch.“
„Mmh,“  sagt der Vater, um Zeit zu gewinnen, er weiß nämlich nicht, was er sagen soll. Er fragt, „Und, was hast Du Dir gewünscht?“
„Dass meine Annabell wieder ganz ist, muss ich gleich mal gucken“. Annabell, ist ihre Puppe und die ist vorgestern beim Sturz aus dem Hochbett in der Mitte durchgebrochen, weil der Ring gerissen ist, der unter dem Kleidchen Ober- und Unterkörper zusammenhält. Das war ein Drama.  
Auf der Rückfahrt ist es still. Der Vater denkt nach und von hinten klingt es leise Tulilingang-GA. Der Vater ärgert sich. Er ärgert sich über eine liebevoll vorbereitete Aktion, die dem Kind mit der Überraschung auch gleich eine üble Enttäuschung bescheren wird. Er ärgert sich, dass seiner Tochter dieser PirateVodoo aufgetischt wird und dass die kindliche Lust am Glauben nicht mit anderen Inhalten versorgt wird.
Und er wundert sich. Diese Lust am Glauben, sie wundert und sie rührt ihn. Dieser schöne Glaube, dass die Welt nicht taub ist für unsere Wünsche, dieses schöne Vertrauen, dass ein Wort – und ein Hühnerknochen – kleines und großes Ungemach ungeschehen, einen zerissenen Körper wieder heil, eine ganze Welt anders machen könnte. Nein nicht könnte, kann. „Und dann passiert das dann auch.“, hatte sie gesagt.
Soll er ihr sagen, dass die Welt so nicht ist? Dass ein unwahrscheinliches Wort und ein schlichter Glaube die Welt nicht verändern? Will er das? Darf er das?
 
II. Der Predigttext für den 19. Sonntag nach Trinitatis steht im Brief des Apostels Jakobus im 5 Kapitel:
13Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen. 
14Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, daß sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. 
15Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden. 
16Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, daß ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.
 
III. Die Macht des Glaubens und die Macht der Worte ... Wenn es doch nur so leicht wäre.
Da ist die schnell beleidigte Vernunft, die halb streng, halb spöttisch abpfeift, wenn man dummdreist einen zusätzlichen und nicht einmal ordentlich gemeldeten Spieler wie das Gebet aufs Feld schmuggeln will.
Da ist der Stolz, der es verbieten will, – und sei es auch nur vor sich selbst –  sichtbar zu werden, mit dem was fehlt, was schmerzt, an eigenem und fremden Leiden.
Und ja, manchmal da sind es auch Texte, wie der des Jakobusbriefes, die mir das Beten schwer machen. Weil sie so selbstverständlich und so gottes- und selbstgewiss von Gebet und Heilung, von Gerechtigkeit und Sünde, von Bekennen und Vergeben zu reden wissen, dass ich im besten Falle neidisch werde. Oft aber fühle ich mich einfach nur ausgeschlossen von einer Hochleistungsreligion, die die Latte so hoch legt, dass ich nur darunter durchspringen kann. Das ärgert mich.
‚Ist Dir und Deinen Ältesten nie einer unter gefalteten Händen weggestorben, Jakobus? Hast Du nie eine Flasche bestes Öl, ein teures Medikament gekauft und es dann kaum angebrochen weggelegt, weil es nicht half – weil nichts half?
Es hätte gut getan Jakobus, wenn Du auch davon geschrieben hättest. Vorausgesetzt, Du würdest nicht behaupten, da hätte man eben nicht ernst genug gebetet, da hätte man eben nicht kräftig genug geglaubt.’
Wer Ungemach leidet, der bete ... und das Gebet des Glaubens wird retten ...
 
IV. Nein leicht ist es nicht; oft spricht viel und manchmal alles gegen das Gebet – Merkwürdig, dass doch immer weiter gebetet wird. Wohlgemerkt, immer weiter, nicht immer noch.
Rund jeder zweite in unserem Land, so der Gütersloher Religionsmonitor, betet, fast 30 % beten regelmäßig und davon viele täglich und, so eine andere Umfrage, die meisten vor allem für andere Freunde, Verwandte, für Eltern und Kinder und nicht zuletzt für Kranke.
Das werden nicht nur Christen und Christinnen sein, dazu zählen Angehöriger anderer Konfessionen und anderer Religionen, aber es wird gebetet.
Es wird gebetet an Krankenbetten, in Kindergärten und Sterbezimmern, in den Gebets- und Gästebüchern der großen Touristenkirchen, an Abendbrottischen, in Onlineforen und Universitätsgottesdiensten und noch vielen anderen Orten, von denen sich eine Kirche, die sich mitunter ganz gern vor dem Relevanzverlust des Glaubens in der Gegenwart gruselt, womöglich kaum etwas ahnt.
Es wird gebetet, trotz, und wohl immer auch mit den Hindernissen, die sich dagegen auftürmen. Es wird gebetet; übrigens Gott sei Dank auch quer zu den gängigen Kommunikations- und Hierarchie-Einbahnstraßen, die wir tagtäglich beschreiten und beschreiten müssen.
Ein Beutestück aus dem Fürbittenbuch vor der Kapelle eines deutschen Predigerseminars: „Für die Vikare und Vikarinnen die nächste Woche zweites Examens haben ...“ – Und darunter, andere Handschrift, anderer Stift 
„ ... und für die Prüfer auch.“
Ein Wahrnehmungsübung für die ersten Tage des Semesters: Jeder und jede zweite, der oder die mir begegnet betet, nicht jetzt vielleicht – aber wer weiß... Und die meisten von diesen Betern und Beterinnen, die da mit mir in der U-Bahn sitzen oder an der Kasse stehen betet regelmäßig für andere - noch bevor er für sich das Wort ergreift - und auch denen für die gebetet wird, begegne ich, sie mir und ich ihnen.
Es wird gebetet. Ein gutes Gerücht und ein imposantes soziales Netzwerk: Mag ich!
 
V. Nicht immer werden wohl bei diesen Gebeten Wunder erwartet – was immer man sich darunter vorstellt.
Ich weiß, dass es manchmal Spontanheilungen gibt, Gesundung jenseits des Erwartbaren gibt – aber ich will Gott nicht an den Rand der Wirklichkeit drängen bevor ich bereit bin, mit ihm zu reden. Und er soll auch nicht über das Stöckchen der Naturgesetze hüpfen müssen, bevor ich mich locken lasse mit ihm zu rechnen.
Auch würde sich, nehme ich an, kaum einer von denen die beten, zu den Gerechten zählen, deren Gebet Jakobus für vielversprechend hält. Und wohl nur wenige Bittgebete sind so selbst-, so gottes- und so rettungsgewiss, wie es Jakobus zu verlangen scheint. Aber ich würde mich gelegentlich mit Jakobus gern über ein Gebet aus der Jesustradition unterhalten, aus der auch er seine Impulse schöpft.
Es steht im Markusevangelium, es ist eigentlich ein Schrei, es ist das ehrlichste Gebet, das ich kenne und Markus erzählt, es habe geholfen. Es heißt: „Ich glaube – hilf meinem Unglauben.“ (Mk 9,24).
Viele von denen für die Tag für Tag gebetet wird, werden davon wohl gar nichts wissen. Und ich für meinen Teil fände es auch eher unangenehm, wenn meine Ungemach, meine Krankheit oder die meiner Lieben so öffentlich ins Gebet genommen würden, wie dies in einer frühchristlichen Gemeindewirklichkeit vielleicht möglich war.
Andererseits: Ich weiß auch, wie fremd es sich anfühlt, wenn im Fakultätsrat, zwischen all der Krisen- und Kompetenzkommunikation schweigend der Verstorbenen des Kollegiums oder anderer Fakultäten gedacht wird, wenn da zwischen exakten Zahlen, Berichten und Ordnungen eine Lücke öffentlich wird. Richtig fremd fühlt sich das an, fremd und richtig.
Und schließlich ahne ich, wie heilsam es ist, wenn es Gesten und Worte und Orte gibt, an denen Gesunde und Kranke, Ärzte und Angehörige aus dem stummen Slang der Diagnosen, der Dienst- und Therapiepläne herauskommen und Angehörige aus dem tauben Tapfersein.
 
VI. „Wenn man diese Betroffenheitsforen im Internet liest [...]“, so schreibt Christoph Schlingensief im Tagebuch seiner Krebserkrankung „wird einem ganz schlecht und man wird sofort noch schlimmer krank. [...] Man merkt, was für eine Hilflosigkeit in unserem Gesundheitssystem steckt [...]. Weil Menschen statisch gemacht werden in ihrer Verzweiflung“  (ders., So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!, Köln 2009, 87f. Auszüge).
Gewiss, das ist nicht die ganze Wahrheit über das ganze System, aber es ist wahr, dass Kranke sich und ihr Umfeld so erleben.
Schlingensief schreibt: „Man ist dem System ausgeliefert, weil niemand bereit ist, ernsthaft mit einem zu sprechen. Klar Diagnose, Prognose Therapie, es wird beinhart aufgeklärt, aber wirklich miteinander gesprochen wird nicht. Dabei könnte man allein dadurch helfen, dass man mit den Menschen spricht, zu Gedanken animiert oder nach Ängsten und Wünschen fragt. Dann wäre der Kranke wieder am Prozess beteiligt, dann wäre er aus der Statik befreit, die einem die Krankheit aufzuzwingen versucht“ (ebd.).
Was Schlingensief wohl nur zu genau weiß, wenn er von der Hilflosigkeit des Systems schreibt, ist dass Krankheit auch die Gesunden lähmt, dass zwischen all den Worten, die Menschen in Extremsituationen bemühen können und bemühen müssen, auch den anderen die Worte fehlen, Pflegern und Ärztinnen, Seelsorgerinnen und Angehörigen.
In immer mehr Kliniken und Kirchengemeinden werden von Gesunden und Kranken, Angehörigen, Ärzte und Pflegerinnen Gebets, Salbungs- und Segnungsgottesdienste gefeiert.
Manche Menschen berichten danach, dass es ihnen auch physisch besser, mitunter sogar wieder gut geht.
Andere erfahren, dass sie mit ihren Schmerzen, mit dem bleibend Unheilen anders leben, vielleicht sogar sterben können, dass sie sich an- und aufgenommen fühlen in den Worten, dem Schweigen, den Gesten und den Berührungen einer Gemeinschaft, dass sich ein Raum öffnet für Hoffnung und Trauer, für Klage und sogar Dankbarkeit, für gemeinsame Ohnmacht und gemeinsame Möglichkeiten.
Darf man das Heilung nennen? Wer könnte es verbieten? Und wer dürfte umgekehrt mit diesem Hinweis auf solche Erfahrungen Menschen die Liebe zum Leben und die Sehnsucht nach leiblicher Heilung ausreden wollen?
und das Gebet des Glaubens wird retten ...
Wer sich und andere ins Gebet nimmt, wer sich verstrickt in das Netz eigener und fremder Gebete, dem und der verschwimmen die klaren Zuordnungen, von Rettung und Nicht-Gerettet-Sein, von Psychologie und Metaphysik, Ursache und Wirkung, Erhörung und Enttäuschung, gesund und krank.
Vielleicht ist dies nicht das kleinste Geheimnis des Gebets: Die heilsame und heilende Erfahrung mit Worten, Gesten und oft auch mit Schweigen herauszufinden aus den Mauern der Alltagskommunikation.
Die Erfahrung, sich das Dach abzudecken und abdecken zu lassen (Mk 2,1-12) von dem Gehäuse dessen, was ich von der Welt weiß, von dem, was ich von mir zu sagen, zu verantworten und zu versprechen wage. – Ein Loch im Dach der Worte.
[Es gehört womöglich nicht hierher: Aber Annabell wurde übrigens durch einen handelsüblichen Kabelbinder geheilt, der den gerissenen Plastikring perfekt ersetzte. Da muss man erst Mal drauf kommen. Der Vater hatte nach vielen erfolglosen eigenen Versuchen zum Telefon gegriffen und im Bekanntenkreis um Hilfe gefragt; vom Patenonkel kam die rettende Idee. Doch wie gesagt, das steht vielleicht auf einem ganz anderen Blatt. Wer weiß? ]
 
VII. Am Schluss dieser Predigt soll [jedenfalls] keine große Erhörungsgeschichte stehen.  Was ich erzählen will, ist vielleicht eine kleine. Entscheiden sie selbst!
 „Guten Tag Herr Pfarrer, es ist wieder soweit.…“ – Über fast fünf Jahre habe ich diesen Satz fast täglich gehört. Eine Frau, die ich nie gesehen habe und von der ich fast nichts, weiß ruft an und bittet, dass ich für sie bete. 
Sie ist psychisch krank und mehr noch, so sagt sie, als an der Krankheit, da leidet sie an den Medikamenten und ihren Nebenwirkungen. Auch, sagt sie, helfen die Medikamente oft nicht, nicht sofort, oder jedenfalls nicht allein …
„Es ist wieder so weit, ich hab’ wieder die Krämpfe, können sie für mich beten?“ – Das tat ich dann, direkt am Telefon mit wenigen fast immer gleichen Worten. Sie bedankte sich, hängte manchmal eigene Worte an und wir verabschiedeten uns und legten auf.
Nicht immer, wenn sie zwischen sechs und acht anrief, war mir nach beten zumute. Manchmal bat ich sie, später anzurufen oder versprach, zu einem späteren Zeitpunkt für Sie zu beten. Meist aber nahm ich mir die Zeit. Man merkte wie wichtig es für sie war.
Anfangs, hatte ich einmal gefragt: „Ja, hilft Ihnen das denn, wenn ich für Sie bete?“ Immerhin, dachte ich, muss sie ja jeden Tag wieder anrufen.
„Das wird dann besser“, antwortete sie, „nicht sofort aber bald.“ Und es klang als hätte ich eine sehr dumme Frage gestellt. 
Einmal, es ist Samstagabend, ich sitze noch an der Predigt für Sonntag und habe einen ziemlichen Hänger, da ist sie wieder dran. Es geht ihr wohl besser als sonst, denn sie erzählte von sich, dies und das; und ich höre zu und starre dabei auf den blinkenden Cursor und auf den leeren Bildschirm.
Plötzlich fragt sie: ‚Und Sie Herr Pfarrer, wie geht es ihnen?’ – Pause – „Äh, es geht so, ehrlich gesagt,“ antwortet ich, „ich hab Sonntag Gottesdienst und komm mit der Predigt nicht weiter.“
– „Da kann ich ja für Sie beten“ antwortet sie. Und das klang sehr ernst und ganz selbstverständlich.. „Gleich wenn ich auflege, mache ich das, ich bete für Sie“. – Da hatte sie also den Spieß umgedreht. Das fühlte sich komisch an – und schön.
Als ich wieder an die Predigt ging, hatte ich übrigens nicht das Gefühl, es wäre irgendetwas anders geworden.
Doch dann wurde es besser. Nicht sofort, aber bald.  
„... deshalb betet füreinander, damit ihr geheilt werdet. Das Gebet des Gerechten vermag viel, wenn es ernst ist.“
Amen.
 
Perikope
14.10.2012
5,13