Ein neues Jahr - ein weißes Blatt - Predigt zu Lk 4,16-21 von Elke Markmann
4,16-21

Liebe Gemeinde,

ein neues Jahr hat begonnen. Ich finde, es hat etwas von einem leeren Blatt Papier. – ein leeres Blatt Papier hochhalten
Zwar weiß ich schon viele Termine für die kommenden Tage und Wochen. Aber vieles ist auch noch offen. Ob das, was im letzten Jahr schwierig war, nun leichter wird? Gestern habe ich zurück geblickt, habe das vergangene Jahr noch einmal bedacht. Dabei habe ich viel Schlimmes und viele schlechte Nachrichten gefunden: der Krieg in der Ukraine, die gestiegenen Preise für Energie und Lebensmittel, für Miete und überhaupt alles. Das Jahr hatte immer noch viele Einschränkungen durch Corona – und auch ich selbst hatte diese Krankheit schließlich. Bei eigentlich mildem Verlauf leide ich auch Monate später immer noch unter Nachwirkungen. Und so stehe ich nun hier und denke: Dieses neue Jahr bietet eine neue Chance! Nun wird es anders! Zumindest gebe ich dem neuen Jahr eine neue Chance. Ich will zuversichtlich nach vorn gucken. Ein neues Jahr schenkt neue Möglichkeiten!

Aber: Fängt mein Jahr denn wirklich mit einem leeren Blatt an? Meine Hoffnungen für das, was kommt, hängen an dem, was in der Vergangenheit war. Ich möchte weniger Krieg, weniger Krankheit, weniger Tod, weniger Einschränkung und mehr Freiheit, mehr Fröhlichkeit, mehr Leben. Mehr von dem, was gutes Leben ausmacht. Mehr gutes Leben für alle!
Um etwas zu verbessern, hilft es manchmal, sich zu erinnern. Der Blick zurück auf die Vergangenheit, auf Erkenntnisse und Voraussagen kann manchmal den Blick nach vorn schärfen.

Im Predigttext für den heutigen Gottesdienst im Lukasevangelium wird uns erzählt, wie Jesus zu wirken anfing. Er war im Jordan getauft worden. Der Teufel hatte ihn in Versuchung geführt, Jesus hatte ihm widerstanden. Und nun kam er nach Nazareth, ganz erfüllt von seiner Aufgabe. Es heißt von ihm: Jesus war erfüllt von der Kraft des Geistes. So kehrte er nach Galiläa zurück. Sein Ruf verbreitete sich in der ganzen Gegend. Er lehrte in den Synagogen und alle redeten mit Hochachtung von ihm. (Lk 4, 14-15, Basisbibel)

Predigttext: (Lk 4, 16-21 Bibel in gerechter Sprache)

16Als er nach Nazaret kam, wo er aufgewachsen war, ging er wie immer am Sabbat in die Synagoge und stand auf, um vorzulesen. 17Und es wurde ihm die Buchrolle des Propheten Jesaja gegeben, und als er sie auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben stand: 18»Die Geistkraft der Lebendigen ist auf mir, denn sie hat mich gesalbt, den Armen frohe Botschaft zu bringen. Sie hat mich gesandt, auszurufen: Freilassung den Gefangenen und den Blinden Augenlicht! Gesandt, um die Unterdrückten zu befreien, 19auszurufen ein Gnadenjahr der Lebendigen!« 20Als er die Buchrolle geschlossen hatte, gab er sie dem Diener und setzte sich. Die Augen aller Menschen in der Synagoge waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet. 21Und er begann zu ihnen zu reden: »Heute hat sich diese Schrift in euren Ohren erfüllt.«

Jesaja ist für Jesus aktuell: Das Gnadenjahr beginnt

Jesus beginnt zu lehren. Aber er fängt nicht bei Null an. Vielmehr liest er in der Synagoge in den alten Heiligen Schriften. Aufgeschlagen ist eine Textstelle aus dem Buch des Propheten Jesaja. Das, was der Prophet früher gesagt hatte, war für Jesus nun ganz aktuell: „Heute ist diese Stelle in der Heiligen Schrift in eurer Gegenwart in Erfüllung gegangen.“ Bedeutet das nicht, dass jetzt alles anders wird? Jetzt beginnt die neue Zeit. Eine Zeit der Gerechtigkeit. Eine Zeit ohne Leid und Elend. Die Gefangenen sollen frei werden, die Blinden sehend. Die Unterdrückten werden die frohe Botschaft hören.
Denn nun beginnt das Gnadenjahr Gottes, der Lebendigen. Gottes Gnade bedeutet, dass Gott sich uns zuwendet. Gott gibt das, was uns fehlt. Ein neuer Anfang beginnt jetzt. Das sah Jesus nun vor sich. Alles wird neu. Alles fängt neu an. Und das, was in den Heiligen Schriften steht, wird jetzt wahr: Alles, was lähmt, fällt von den Lahmen ab. Alles, was den Blick trübt oder das Erkennen verhindert, wird überwunden. Es wird möglich zu sehen und zu erkennen. Die Armen und Gefangenen werden eine gute Zukunft haben.
Spannend, dass Jesus dies gleich zu Beginn seines Wirkens so überzeugt weiß und verkündet. Im Lukasevangelium wird Jesus von Beginn an als Gottes Sohn, als von Gott bevollmächtigt vorgestellt. Jesus kennt seine Macht und seine Kraft. Er weiß, dass er selbst Gottes Sohn ist und welche Aufgabe er hat. Er weiß, dass mit ihm Gott selbst auf die Welt gekommen ist. Jesus weiß, dass Gott nun mitten in der menschlichen Gesellschaft wirkt. Nun beginnt Jesu öffentliches Auftreten. Jetzt beginnt eine neue Zeitrechnung. Jetzt ist Gott Mensch geworden. Jetzt kommt Gottes Gnade zu den Menschen.

„Heute hat sich diese Schrift in euren Ohren erfüllt!“
Ich ahne, was Jesus damit sagen möchte. Er spricht von Gottes Gnade. Er spricht von dem, was noch nicht ist. Er zitiert Jesaja: Freilassung den Gefangenen und den Blinden Augenlicht! Gesandt, um die Unterdrückten zu befreien, auszurufen ein Gnadenjahr der Lebendigen! Das ist genau genommen immer noch Traum. Das war auch zu Jesu Zeiten schon Traum. Deshalb streiten sich ja die Umstehenden darum, was es bedeutet. Gehen wir einmal davon aus, dass das keine frommen Wünsche sind, sondern Träume und Visionen, die Kraft geben.

Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer. Dieser Satz von Antoine St. Exupery schreibt von der Sehnsucht. Die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer lässt mich mit Leichtigkeit erkennen, wie ich ein Schiff bauen muss. Übertragen auf die alten Worte des Propheten Jesaja bedeutet das: Die Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit hilft den Unterdrückten aus der Unterdrückung heraus.
Konkret kann das heißen, dass Menschen in einem Unrechtssystem sich nicht mehr den Mund verbieten lassen, sondern sich öffentlich auf die Straßen stellen und ihre Meinung sagen. Sie sehnen sich nach Meinungsfreiheit.
Es kann heißen, dass Opfer von Gewalt sich gegen die Täter zur Wehr setzen. Die Sehnsucht nach einem Leben ohne Gewalt und Unterdrückung verleiht die Kraft zu entkommen.
In den letzten Monaten habe ich mich oft darüber gewundert, mit welcher Überzeugung und Ausdauer die Menschen in der Ukraine sich gegen den Angriff aus Russland wehren. Sie sind überzeugt: „Wir sind ein freies Land und lassen uns nicht unterdrücken!“ Die Sehnsucht nach einem freien demokratischen Leben schenkt Kraft.

Lasst uns auch heute hier für uns die Sehnsucht stärken:

Jetzt kann alles eine neue Chance bekommen. Jetzt kann ich Vergangenes und Belastendes vergessen und mich auf die gute Zukunft konzentrieren, auf das gute Leben für alle. Blicken wir optimistisch und zuversichtlich in die Zukunft! Dieses neue Jahr ist wie ein leeres Blatt. Es wartet darauf, dass schöne Geschichten darauf erzählt werden. Das weiße leere Blatt bietet Platz für so viel Gutes!
Ich freue mich auf schöne Geschichten auf unseren weißen Blättern.
Ich freue mich auf die Geschichten, die unsere ukrainischen Nachbarn erzählen werden, wenn sie in der Heimat sind: Sie werden davon erzählen, wie sie alles wieder aufbauen. Und sie werden uns einladen, dass wir sie zu Hause besuchen und sie uns Gastgeberinnen sind.
Ich freue mich auf die Geschichte, die die Frau erzählen wird, die ihren gewalttätigen Mann verlassen hat und nun mit ihren Kindern friedlich und fröhlich lebt. Sie wird ihre Freundinnen einladen und mit ihnen ein Frühlingsfest feiern.
Wer gestern das vergangene Jahr noch einmal in Gedanken betrachtete, kann heute ein leeres weißes Blatt nehmen. Es wird ein Jahr voller Gnade. Es wird ein Jahr mit vielen neuen Möglichkeiten. Es wird ein Jahr, in dem sich erfüllen wird, wonach wir uns sehnen. Wie das wird, wissen wir noch nicht. Darum ist das Blatt weiß. Wir füllen es nicht mit unseren Erwartungen, Plänen und Hoffnungen, sondern lassen Raum und Platz für Geschichten.

Wie uns die Alten sungen! Wie wir nicht erst von Jesus, sondern schon von Jesaja wissen: Gottes Gnade ist bei uns.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrerin Elke Markmann

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Am Neujahrstag ist dieser Gottesdienst der einzige, gemeinsame Gottesdienst für die vier Kirchengemeinden in der Stadt – ein zentraler Segensgottesdienst. Ich gehe davon aus, dass Menschen aus allen Gemeinden kommen, die sich bewusst auf den Weg machen. Der erste Gottesdienst im neuen Jahr ist in unserer Region als Segensgottesdienst seit Jahren bekannt und beliebt, um sich stärken zu lassen für das neue Jahr. Ich sehe konkrete Frauen aus allen Gemeinden, Menschen aus den Kerngemeinden und aus der Stadtgesellschaft.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Vorstellung eines Gnadenjahres der Lebendigen finde ich ein sehr starkes Bild. Ein Jahr voller Gnade, voller liebevoller Zuneigung und Zuwendung Gottes zu uns bzw. zu denen, die Gottes Gnade brauchen. Ein Gnadenjahr ist in meiner Vorstellung ein Jahr, in dem ich Gottes Nähe immer spüre und in dem für alle gutes Leben wirklich wird. Davon träume ich, das beflügelt mich.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Macht und Stärke von Sehnsuchtsbildern und inneren Überzeugungen ist nicht zu unterschätzen. Jesus beginnt im Lukasevangelium mit einer starken inneren Haltung und Überzeugung, dass mit ihm die alten prophetischen Schriften erfüllt werden. Da begegnet mir keine vornehme Zurückhaltung oder Bescheidenheit, sondern volle Überzeugung und tiefes Wissen darum, dass sich JETZT alles ändert.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Geschichte von St Exupery war zunächst nur ein einzelner Gedankensplitter – und wurde für mich zum zentralen Bild neben dem leeren weißen Blatt: die Fragen nach Sehnsuchts-Geschichten auf dem weißen Blatt für das neue Jahr.

 

Perikope
01.01.2023
4,16-21