"Ein offenes Geheimnis", Predigt zu Kolosser 1, 24-27 von Martin Schewe
1,24
Ein offenes Geheimnis
(1)Wer ein Geheimnis erfährt, liebe Gemeinde, erhält zugleich einen Auftrag, was er mit dem Geheimnis anfangen soll. „Sag es aber niemandem weiter“, fügt derjenige, von dem wir das Geheimnis erfahren, etwa hinzu. Das kommt ziemlich oft vor. Das Geheimnis soll geheim bleiben. Wir erfahren es nur unter der Voraussetzung, dass wir es für uns behalten. Ein solches Geheimnis zu verraten, wäre ein Verrat an dem, der es uns anvertraut. Wenn wir nicht vorhaben, uns an seinen Auftrag zu halten, lassen wir uns das Geheimnis besser gar nicht erst erzählen. Es weiterzuerzählen, gehört sich auch dann nicht, wenn uns die anderen, die das Geheimnis nicht kennen und es auch gern hören würden, dazu drängen. Selbst wenn wir dadurch in Schwierigkeiten geraten, dürfen wir unser Wissen nicht preisgeben.
Es gibt jedoch auch Geheimnisse, für die genau das Gegenteil gilt, Geheimnisse, die gerade nicht geheim bleiben sollen und die wir nicht für uns behalten dürfen. „Bitte sag es weiter“, lautet der Auftrag dann – weil die Sache, die bisher geheim war, so wichtig ist, dass alle sie erfahren müssen. Das Geheimnis wartet darauf, dass wir es bekannt machen – womöglich wieder auf die Gefahr hin, dass wir uns in Schwierigkeiten bringen. Womöglich wollen die anderen das Geheimnis diesmal gar nicht wissen, oder sie glauben es uns nicht. Geheimnisse können zu einer Last werden. Wir tun gut daran, sie nicht auf die leichte Schulter nehmen.
In was für Konflikte ein Geheimnis uns im schlimmsten Fall stürzt, wollen wir uns anhand einer Erzählung klar machen, die einige von euch Konfirmandinnen und Konfirmanden wahrscheinlich kennen. Vielleicht habt ihr auch den Film gesehen, der vor ein paar Wochen in die Kinos kam. Es geht um eine Episode aus dem Roman „Tom Sawyers Abenteuer“, den der amerikanische Schriftsteller Mark Twain vor knapp hundertfünfzig Jahren geschrieben hat. „Tom Sawyer“ ist ein Buch, das ich nicht nur euch Jugendlichen empfehlen möchte. Wie jedes wirklich gute Jugendbuch übt es seinen Zauber genauso auf uns ältere Leserinnen und Leser aus. Heute also im Gottesdienst.
(2)Tom und sein Freund Huckleberry Finn schleichen sich nachts auf den Friedhof. Huck Finn ist ein verwahrloster Junge, der von den anderen darum beneidet wird, dass sich kein Erwachsener um ihn kümmert und dass ihm die aufregendsten Unternehmungen einfallen, die natürlich streng verboten sind. Huck weiß zum Beispiel, wie man mit Hilfe einer toten Katze seine Warzen wegbekommt. Damit sie verschwinden, muss man die Katze nachts auf den Friedhof bringen und einen Zauberspruch aufsagen. Tom kommt mit.
Auf dem Friedhof werden die Jungen zu Zeugen eines Verbrechens. Von einem Versteck aus beobachten sie drei Männer, die im Schein einer Laterne ein frisches Grab öffnen. Einer der Männer ist Arzt. Vermutlich hat er vor, den Leichnam für anatomische Studien zu verwenden. Die anderen beiden helfen ihm, ihn auszugraben. Leichenraub ist auch schon ein Verbrechen, aber es kommt noch schlimmer. Die Männer geraten in Streit, und Tom und Huck erleben mit, wie der eine, Injun Joe, der Indianer-Joe, den Arzt Dr. Robinson ersticht. Dann schiebt er die Schuld auf den dritten im Bunde. Muff Potter ist wie immer so betrunken, dass er sich an nichts erinnert und selber glaubt, er habe die Bluttat begangen. Entsetzt fliehen die beiden Jungen vom Friedhof und verbergen sich in der alten Gerberei. Aus Angst vor dem skrupellosen Indianer-Joe schwören sie einander feierlich, niemandem etwas zu erzählen. Wenn sie ihren Schwur brechen, wollen sie tot umfallen.
Am nächsten Tag wird Muff Potter verhaftet, aufgrund der Aussage des Indianer-Joe als Mörder angeklagt und bis zum Beginn des Prozesses ins Gefängnis gesperrt. Jeder im Ort ist davon überzeugt, dass Muff Potter hängen muss. Tom Sawyer und Huckleberry Finn beraten sich noch einmal. „Huck, hast du je ’nem Menschen davon erzählt?“ – „Von was denn?“ – „Na, du weißt doch.“ – „Ach so. Natürlich nicht!“ – „Nicht ein Wort?“ – „Nicht ein Sterbenswörtchen, so wahr ich hier stehe. Weshalb fragst du denn?“ – „Na, ich hab Angst gehabt.“ – „Aber, Tom Sawyer, wir würden doch keine zwei Tage mehr am Leben bleiben, wenn sie das rauskriegen würden. Das weißt du doch ganz genau.“
Tom fühlt sich etwas erleichtert. Aber nicht sehr. Sicherheitshalber schwören die Jungen einander noch einmal, nichts zu erzählen. Stattdessen besuchen sie Muff Potter hinter dem Gefängnisgitter und bringen ihm Tabak und Streichhölzer. Muff hält sich nach wie vor selbst für den Mörder und ist voll der Reue. Seine Dankbarkeit über ihren kleinen Geschenke zerreißt Tom und Huck das Herz.
(3)Unterbrechen wir die Erzählung an dieser Stelle, liebe Gemeinde, und beginnen wir noch einmal von vorn. Wer ein Geheimnis erfährt, haben wir uns überlegt, erhält zugleich einen Auftrag, was er mit dem Geheimnis anfangen soll – es für sich behalten oder gerade nicht. Wenn der Auftrag lautet: „Sag es niemandem weiter“, müssen wir uns daran halten, selbst wenn wir dadurch in Schwierigkeiten geraten. Schweigen müssen wir genauso, wenn derjenige, der uns das Geheimnis verrät, nicht ausdrücklich dazusagt, was er damit bezweckt. Solange wir nicht sicher sein können, was er von uns erwartet, bleibt das Geheimnis seine Sache. Tom Sawyer und Huckleberry Finn sind ebenfalls entschlossen dichtzuhalten. Ganz wohl scheint ihnen dabei allerdings nicht zu sein.
Um ein Geheimnis, das um keinen Preis geheim bleiben darf, geht es im Kolosserbrief aus dem Neuen Testament. Ich schlage vor, wir sehen uns auch dieses Geheimnis genauer an. Es wird uns helfen, die Zwickmühle besser zu verstehen, in der die Jungen in Mark Twains Roman stecken. Umgekehrt hilft uns der Roman dabei, die Bibelstelle zu verstehen. Die beiden Geheimnisse beleuchten einander gegenseitig.
„Jetzt freue ich mich, wenn ich für euch leiden muss“, schreibt der Verfasser des Briefs an die Gemeinde in Kolossä, „denn damit bringe ich stellvertretend an meinem Fleisch zur Vollendung, was der Bedrängnis Christi noch fehlt – seinem Leib zugute: der Kirche. Ihr Diener bin ich geworden aufgrund des Verwalteramtes, das Gott mir übergeben hat, um an euch das Wort Gottes zu erfüllen, das Geheimnis, das seit Urzeiten und Menschengedenken verborgen war – jetzt aber ist es seinen Heiligen offenbart worden, denen Gott kundtun wollte, wie reich unter den Völkern die Herrlichkeit dieses Geheimnisses ist: Christus in euch, die Hoffnung auf die Herrlichkeit.“
(4)Der Briefschreiber aus dem Neuen Testament kennt ein Geheimnis und schreibt darüber, was das Geheimnis für ihn selbst und für die Leserinnen und Leser seines Briefs bedeutet. Er leidet, teilt er ihnen mit, und freut sich darüber sogar, denn er ist davon überzeugt, dass seine Leiden einen Sinn haben. Das ist das Erste, was wir von seinem Geheimnis erfahren und von dem Auftrag, der damit verbunden ist: Das Geheimnis verlangt von dem Briefschreiber, dass er die Schwierigkeiten auf sich nimmt, in die ihn sein Geheimnis bringt, und der Briefschreiber gehorcht, weil er findet, dass das Geheimnis die Schwierigkeiten wert ist.
Als Zweites erfahren wir, von wem das Geheimnis stammt und was für einen Auftrag der Briefschreiber so ernst nimmt, dass er dafür zu leiden bereit ist. Der Auftraggeber ist Gott, und Gottes Auftrag besteht darin, sein Wort unter die Leute zu bringen. Der Briefschreiber soll ihnen weitererzählen, was Gott mit ihnen vorhat – mit den Christinnen und Christen in Kolossä, an die der Brief gerichtet ist, und anderswo, wo sie ihn ebenfalls lesen, aber auch mit denen, die Gott bisher nicht kennen. Der Verfasser des Kolosserbriefs ist offenbar als Heidenmissionar in Kleinasien unterwegs und muss die Erfahrung machen, dass seine Missionsbotschaft nicht überall auf offene Ohren trifft. Deswegen sagt er von sich, er leide stellvertretend für die Gemeinde Christi.
Drittens schließlich das Geheimnis selbst, das Gott ihm anvertraut hat und das der Briefschreiber um keinen Preis für sich behalten will, koste es ihn, was es wolle. Das Geheimnis selbst ist die Hauptsache. Der Briefschreiber kleidet sie in die Worte: „Christus in euch, die Hoffnung auf die Herrlichkeit.“ Bevor wir weiter überlegen, wie das gemeint ist und was daran geheim sein soll und gleichzeitig so wichtig, dass es nicht geheim bleiben darf, kehren wir noch einmal zu Tom Sawyer zurück.
(5)Zum Mordprozess gegen Muff Potter strömt die ganze Stadt ins Gerichtsgebäude. Der Indianer-Joe wiederholt seine Beschuldigung. Andere Zeugen bestätigen, dass die Tatwaffe dem Angeklagten gehöre und dass er am Morgen nach der Tat schuldbewusst gewirkt habe. Der Staatsanwalt beantragt, Muff Potter zu verurteilen. Schließlich ruft der Verteidiger einen Zeugen auf.
„Thomas Sawyer, wo warst du am siebzehnten Juni um Mitternacht?“ – Tom wirft einen Blick auf das eisenharte Gesicht des Indianer-Joe, und die Zunge versagt ihm. Dann fasst er sich und antwortet: „Auf dem Friedhof!“ – „Ein bisschen lauter, bitte“, verlangt der Verteidiger. „Du warst ...“ – „Auf dem Friedhof.“ Ein verächtliches Lächeln gleitet über das Gesicht des Indianer-Joe. – „Warst du in der Nähe von Ross Williams’ Grab?“ – Tom bestätigt, dass er in der Nähe des Grabes versteckt war. Der Indianer-Joe fährt kaum merklich zusammen. –  „Hattest du irgend etwas mit dorthin genommen?“ – „Nur eine – eine – tote Katze.“ Die Leute lachen, aber nach und nach wird Tom die ganze Geschichte los: „Und nachdem der Doktor das Brett runtersausen ließ und Muff Potter hinfiel, sprang der Indianer-Joe mit dem Messer los und ...“ – Hier wird Tom unterbrochen. Der Indianer-Joe stürzt auf ein Fenster zu und flüchtet aus dem Gerichtssaal.
Geheimnisse können zu einer Last werden, haben wir gesagt. Für Tom Sawyer wird die Last so groß, dass er sich dem Anwalt Muff Potters anvertraut und trotz seiner Angst vor dem Indianer-Joe einwilligt, als Entlastungszeuge auszusagen. Wir sind damit soweit, dass wir die beiden Geheimnisse, Toms und das aus dem Kolosserbrief im Neuen Testament, miteinander vergleichen können. Zur besseren Erinnerung lese ich den Abschnitt aus dem Brief noch einmal vor.
„Jetzt freue ich mich“, schreibt der Verfasser, „wenn ich für euch leiden muss, denn damit bringe ich stellvertretend an meinem Fleisch zur Vollendung, was der Bedrängnis Christi noch fehlt – seinem Leib zugute: der Kirche. Ihr Diener bin ich geworden aufgrund des Verwalteramtes, das Gott mir übergeben hat, um an euch das Wort Gottes zu erfüllen, das Geheimnis, das seit Urzeiten und Menschengedenken verborgen war – jetzt aber ist es seinen Heiligen offenbart worden, denen Gott kundtun wollte, wie reich unter den Völkern die Herrlichkeit dieses Geheimnisses ist: Christus in euch, die Hoffnung auf die Herrlichkeit.“
(6)Wer ein Geheimnis erfährt, erhält zugleich einen Auftrag und muss dafür zur Not Schwierigkeiten auf sich nehmen. Das ist die erste Gemeinsamkeit zwischen Tom Sawyer, dem Helden aus Mark Twains Roman, und dem Briefschreiber aus der Bibel. Beide erhalten den Auftrag, ihr Geheimnis bekannt zu machen, und der Briefschreiber freut sich sogar, dass er deswegen leidet. Tom Sawyer freut sich zwar nicht gerade darüber, vor Gericht auftreten zu müssen. Aber ich nehme nicht an, liebe Gemeinde, dass jemand unter uns seine Entscheidung missbilligt. Immerhin rettet sie Muff Potter das Leben. Natürlich fragen wir jugendlichen und erwachsenen Leserinnen und Leser des Romans uns genauso beklommen wie Tom selbst, was nun passiert, nachdem der Indianer-Joe entkommen konnte und womöglich auf Rache sinnt. Tom hat es dennoch richtig gemacht, finden wir.
Das Zweite, was wir über das Geheimnis im Kolosserbrief und den Auftrag, der dazugehört, herausgefunden haben, war der Auftraggeber. Gott selbst hatte den Briefschreiber als Missionar nach Kleinasien geschickt. Tom Sawyer hat einen anderen Auftraggeber, dem er nicht widerstehen kann. Bei ihm ist es sein Gewissen, das ihm verbietet, Muff Potter im Stich zu lassen. Toms Gewissen schlägt besonders laut, wenn er mit Huck zum Gefängnis geht und Muff den beiden Jungen für ihre kleinen Geschenke dankt. Auch hier gibt es daher etwas, was das Geheimnis aus dem Roman mit dem aus der Bibel verbindet: die Erleichterung, wenn das Geheimnis endlich heraus ist. Ich stelle mir beide, Tom und den Briefschreiber, gleich entlastet und befreit vor, weil sie getan haben, wovon sie überzeugt sind.
Drittens schließlich das Geheimnis selbst. An dieser Stelle trennt sich Tom Sawyers Weg von dem des Briefschreibers. Das eine Geheimnis ist dunkel – der Mord auf dem nächtlichen Friedhof –, das andere hell. Wie es mit Tom und Huck und dem bedrohlichen Indianer-Joe weitergeht, lest ihr Konfirmandinnen und Konfirmanden am besten nach. Ich verspreche euch, es lohnt sich. Auch Mark Twains Buch über Huckleberry Finn möchte ich euch und euren Eltern dringend empfehlen. Was es mit dem Geheimnis aus dem Kolosserbrief auf sich hat, hören wir uns gemeinsam an.
(7)Wer der christliche Missionar in Kleinasien ist, der vor fast zweitausend Jahren den Kolosserbrief schreibt, und was er seinem Missionsauftrag zuliebe auszustehen hat, wissen wir nicht. Er stellt sich unter dem Namen Paulus vor und deutet an, dass er seines Glaubens wegen im Gefängnis sitzt und wie Muff Potter um sein Leben fürchten muss. Es spricht zwar einiges dafür, dass der Brief nicht vom Apostel Paulus selber stammt, sondern von einem seiner Schüler. Als der Brief entstand, war der wirkliche Paulus wohl schon tot. Bei der Hauptsache bleibt es trotzdem. Der Verfasser kleidet sie in die Worte: „Christus in euch, die Hoffnung auf die Herrlichkeit.“
Ein Geheimnis nennt der Briefschreiber seine Botschaft, weil sie früher unbekannt war, „seit Urzeiten und Menschengedenken verborgen“. Niemand konnte ahnen, dass Gott selbst in Jesus Christus Mensch werden, sterben und wieder auferstehen wollte. Ein Geheimnis auch, weil noch längst nicht alle, die es angeht, Bescheid wissen. „Seinen Heiligen“ hat Gott das Geheimnis offenbart, sagt der Briefschreiber. Mit den „Heiligen“ sind einstweilen die Christinnen und Christen in Kolossä und anderswo gemeint. Gott meint aber auch die, die ihn bisher nicht kennen. Auch sie sollen erfahren, was er mit ihnen vorhat. Ein Geheimnis schließlich, weil das Beste noch kommt. Deshalb spricht der Kolosserbrief von der „Herrlichkeit“, auf die die Völker hoffen dürfen. Wir werden uns wundern, liebe Gemeinde, wie viel wir von dem menschgewordenen Gott zu erwarten haben.
Mindestens so viel verstehen wir vielleicht jetzt schon: warum das Geheimnis aus dem Kolosserbrief zu denen gehört, die nicht geheim bleiben dürfen, koste es, was es wolle. Tom Sawyer hat uns vorgemacht, wie befreiend es ist, wenn ein solches Geheimnis bekannt wird – befreiend für Tom und sein Gewissen, befreiend für den unschuldig angeklagten Muff Potter. Genauso Gottes Geheimnis. Über die Freiheit, die es uns verspricht, können wir uns jetzt schon freuen und alle anderen mit uns.
Hinweis:
Den Kolosserbrief zitiere ich nach der Zürcher Bibel 2007, „Tom Sawyer“ in der deutschen Übersetzung von Lore Krüger (Mark Twain: Tom Sawyers Abenteuer. Huckleberry Finns Abenteuer; Herausgegeben von Klaus-Jürgen Popp, 3. Auflage München 1981).  
Perikope
06.01.2012
1,24