Ein Paket für das neue Jahr - Predigt zu Philipper 4,10-13 von Stephanie Höhner
4,10-13

Vorsichtig zieht Paulus die Schnüre auf. Der Duft von Orange und Datteln strömt ihm entgegen. Er faltet das Tuch auseinander und erblickt die Köstlichkeiten: Datteln, Trauben und Walnüsse und das duftende Früchtebrot. Dazu ein Brief von seinen Freunden. Ein Lächelns huscht über sein Gesicht. Auch wenn das Früchtebrot verführerisch duftet, liest er zuerst den Brief. Erst dann gönnt er sich ein kleines Stück und ein paar Weintrauben. Später, als er endlich das Papyrus bekommen hat, fängt Paulus an zu schreiben:
Ich bin aber hocherfreut in dem Herrn, dass ihr wieder eifrig geworden seid, für mich zu sorgen; ihr wart zwar immer darauf bedacht, aber die Zeit hat‘s nicht zugelassen. Ich sage das nicht, weil ich Mangel leide; denn ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie‘ s mir auch geht. Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, Überfluss haben und Mangel leiden; ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.
Doch ihr habt wohl daran getan, dass ihr meine Bedrängnis geteilt habt. Denn ihr Philipper wisst auch, dass am Anfang meiner Predigt des Evangeliums, als ich auszog aus Makedonien, keine Gemeinde mit mir Gemeinschaft gehabt hat im Geben und Nehmen als ihr allein. Denn auch nach Thessalonich habt ihr etwas gesandt für meinen Bedarf, einmal und danach noch einmal. Nicht, dass ich das Geschenk suche, sondern ich suche die Frucht, damit sie euch reichlich angerechnet wird. Ich habe aber alles erhalten und habe Überfluss. Ich habe in Fülle, nachdem ich durch Epaphroditus empfangen habe, was von euch gekommen ist: ein lieblicher Geruch, ein angenehmes Opfer, Gott gefällig. Mein Gott aber wird all eurem Mangel abhelfen nach seinem Reichtum in Herrlichkeit in Christus Jesus. Gott aber, unserem Vater, sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

Es wird Paulus letzter Brief sein. Vielleicht ahnt er es schon, als er in das Früchtebrot beißt. Es ist ein Liebesbrief an seine Freunde in Philippi. Er schaut zurück und erinnert sich daran, was sie alles miteinander erlebt haben, was sie durchgestanden haben.
Mit dem letzten Päckchen, dem Früchtebrot und dem Brief, sagen die Philipper: Wir denken an dich! Wir haben dich nicht vergessen!

Ein Paket ist mehr als die Summe seiner Teile, mehr als Schokolade und Früchtebrot.
Ich habe zu Weihnachten noch so ein Päckchen bekommen. Unverhofft und darum doppelt so schön. Und ich habe selbst so ein Paket verschickt, gepackt mit selbstgebackenen Plätzchen, dem persönlichen Geschenk und unserer Lieblingsteemischung, mit der wir schon so manchen Nachmittag früher verbracht haben. Ich hoffe, dass das Paket länger in der Seele wirkt als die Plätzchen in der Tüte reichen werden.
Ein Paket ist ein Versprechen: Ich habe etwas für dich. Jemand hat an dich gedacht. Das tut mir in dieser Zeit besonders gut. Weil ich meine Familie und Freunde nicht persönlich treffen kann, ist das Paket umso schöner als Beweis: ich denke an dich.
Heute hat das neue Jahr begonnen. Vor einem Jahr hat noch niemand geahnt: wir sitzen uns heute mit Masken gegenüber und Silvesterparty und Feuerwerk sind ausgefallen.
Heute stehen wir wieder vor 365 neuen Tagen und wissen nicht, was sie bringen werden. Es macht mir Angst, ob es so weiter geht oder noch schlimmer wird. Andererseits fühlt es sich das gut an, weil ich hoffe, dass es besser wird. Und ich bin dankbar für vieles, was schön war im letzten Jahr und was hoffentlich so weiter gehen wird.
Ein neues Jahr bringt Ungewissheit, dieses Jahr noch etwas mehr als sonst.
Darum sehne ich mich nach einem Stück Gewissheit, nach einem Versprechen: Ich bin für dich da, egal, was kommt. Ich sehne mich nach einem Paket voll Gewissheit, dass ich in diesem neuen Jahr nicht vergessen bin.

Ich lese den alten Brief von Paulus, den er im Gefängnis an seine Freunde in Philippi schreibt. Vorsichtig packe ich jeden Satz aus und öffne die Schnüre.
Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie‘ s mir auch geht.
Ich denke an Grethe. Sie wurde 87 Jahre alt. Mit elf Jahren vertrieben aus der Heimat in Schlesien, in Niedersachsen in Baracken untergebracht und jeden Tag fast eine Stunde Fußmarsch zur Schule. Grethe beißt sich durch und macht in der Abendschule ihre mittlere Reife nach. Als sie eine Lehre zur Reisekauffrau anfängt, wird sie schwanger und muss zu Hause bleiben – ihr Mann möchte das so. Sie kann sich keine weiten Reisen leisten und verreist darum in Büchern um die halbe Welt. Im Supermarkt blättert sie durch Modezeitschriften und merkt sich die Schnittmuster, die sie dann zu Hause nachschneidert – zu jeder Saison ein neues Kleid.
In den letzten Jahren sind ihre Beine müde geworden, die Schritte wurden schwer und sie blieb am liebsten zu Hause, war gerne allein. Doch es war gut so. Am Ende ihres Lebens hat sie gesagt: Ich hatte ein gutes Leben. Ich kann jetzt gehen. Sie hatte genug und es war gut so. Im letzten Jahr habe ich Grethe beerdigt.

Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, Überfluss haben und Mangel leiden.
Ich denke an Mohammad. Über ihn lese ich im letzten Jahr eine Reportage. Er ist in Afghanistan geboren, hat Pharmazie studiert und hatte eine kleine Apotheke. Das Geld reichte für eine schöne Wohnung und Schmuck für seine Frau. Als die Taliban seinen Bruder ermorden, verkauft er alles, was er hat und flieht mit Frau und Sohn. Viele Monate hat er in Moria gelebt, in einem 12 qm großen Zelt. Seine Tage verbringt er mit Warten und Anstehen: für Essen, für Klopapier, für sauberes Wasser. Er ist am Tiefpunkt, sagt er. Als Corona auch das Camp erreicht, wird er Mitglied im Corona Awareness Team und erklärt den Bewohner*innen, wie sie richtig Hände waschen und warum sie Masken tragen sollen. Auf einmal hat er wieder eine Aufgabe, kann seine Fähigkeiten als Apotheker einbringen.
Doch dann brennt das Lager, auch Mohammads Zelt und das bisschen Hab und Gut verbrennt. Viele Tage schlafen sie unter freiem Himmel, bis sie endlich einen Platz im neuen Lager bekommen. Bestimmt wird Mohammad sich auch hier für freiwillige Arbeit melden – wenn sie ihn lassen. Mohammads Leben ist ein  Auf und Ab, Hoch sein und niedrig sein. Ich bewundere ihn, wie er das aushält: die Rückschläge, das Niedrigsein. Und ich bewundere seine Kraft, immer wieder aufzustehen, weiter zu machen, um wieder oben zu sein. Als ich von Mohammad lese, spüre ich eine Kraft, die ich auch bei Paulus Briefen spüre. Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.

Doch ihr habt wohl daran getan, dass ihr meine Bedrängnis geteilt habt.
Als ihr mir ein neues Taschentuch gereicht habt, weil meines nassgeweint war.
Als ihr mir die Straßenzeitung abgekauft habt.
Als ihr in Hanau, in Nizza, in Wien und Trier für mich geschwiegen habt, weil ich gestorben bin.
Als ihr für mich den Einkauf gemacht habt, damit ich mich in Geschäften nicht anstecke.
Als ihr auf das Meer rausgefahren seid, um mich im gekenterten Boot zu retten – mich und die vielen hundert anderen Menschen.
Als ihr zu Hause geblieben seid, damit ich gesund bleibe.
Als ihr Masken genäht habt und den Erlös für das Theater gespendet habt.
Als ihr angerufen habt, weil ich niemanden zum Reden habe.

Ich habe aber alles erhalten und habe Überfluss.
Winterjacke und Pullover gesucht, schreibe ich in das Portal von nebenan.de und setze dazu: für unsere beiden Gäste im Kirchenasyl. Keine Stunde später und ich habe drei „Dankeschön“ und sieben Smileys und vier Angebote für Jacken und drei für Pullover. Die Nachbarschaftshilfe ist hier einwandfrei. Ich verabrede mich mit Thomas für den Nachmittag, um bei ihm eine Jacke abzuholen. Unsere Gäste im Kirchenasyl, zwei junge Männer, haben nur T-Shirts und dünne Baumwollpullis. Für die kalten Herbst- und Wintertage reicht das nicht, denn sie helfen uns beim Laub zusammen rechen und Schneefegen.
Thomas hat seine Daunenjacke angeboten. Als er mir die Tür öffnet, liegen neben ihm auch noch ein paar Pullover. Die kannst du auch gerne mitnehmen. Die Pullis und auch die Jacke sehen noch richtig gut aus, maximal vorletzte Saison. Thomas schenkt sie uns. Ich habe so viele Klamotten und trage doch immer nur ein paar Lieblingsteile. Ich bin froh, wenn sie noch gebraucht werden.

Ich bin aber hocherfreut in dem Herrn, dass ihr wieder eifrig geworden seid, für mich zu sorgen; ihr wart zwar immer darauf bedacht, aber die Zeit hat‘s nicht zugelassen.
Vorsichtig klappt Renée den Deckel hoch. Der Duft von Zitrone und Limette strömt ihm entgegen. Für einen kurzen Moment schließt er die Augen und riecht. Der Vollzugsbeamte zieht das Paket weg: Auspacken machen wir! Renée schaut dem Beamten dabei zu, wie er das weiße Poloshirt herausnimmt, die Zartbitterschokolade und die aktuelle Motorsport.
Auf dem Kaffeebecher erahnt Renée ein Foto seiner Liebsten. Als letztes ist da noch das kleine Fläschchen mit ihrem Parfum. Ein Hauch von Zitrone und Limette zieht an Renée vorbei. Das hier können Sie aber nicht mitnehmen, da ist ja Alkohol drin und außerdem leicht entflammbar. Das bleibt hier. Können Sie sich bei der Entlassung abholen. Mit diesen Worten legt der Vollzugsbeamter den Flakon in eine Plastikschale. Renée traut seinen Ohren kaum. Gerade das, was ihm am wichtigsten ist, darf er nicht mitnehmen. Er hätte auf alles verzichtet, auf die Geldscheine zwischen den Zeitschriftseiten und das neue T-Shirt. Aber nicht auf ihren Duft. Darf ich wenigstens mein T-Shirt damit einsprühen? Kopfschütteln gegenüber. Renée versucht, einen letzten Hauch einzuatmen, dann nimmt er seine Sachen und verlässt den Raum.
Renée sitzt seit 3 Jahren und 2 Monaten im Gefängnis. Es sind die glücklichsten Tage für ihn, wenn er ein Paket bekommt. Dreimal im Jahr, mehr lässt das Strafgesetzbuch nicht zu. Seine Freundin bleibt eifrig, für ihn zu sorgen, auch wenn sie damit die einzige geworden ist. Sie findet das, was Renée getan hat scheiße, wie sie sagt, aber sie verlässt ihn nicht. Er hat eine zweite Chance verdient, meint sie. Und so packt sie auch in diesem Jahr wieder ein Päckchen zu Weihnachten. Neben Schokolade und Parfum ist es voll vom Duft: Ich vergesse dich nicht.

Vor uns liegt ein neues Jahr. 365 Tage Ungewissheit. Ich halte das Paket in den Händen, den Brief von Paulus, der sich in einem ganz sicher war: ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.
Das schreibt Paulus, nachdem er in tiefste Tiefen geblickt hat in seinem Leben und himmelhochjauzend sein neues Leben und seine Mission gefeiert hat. Er hat in Tiefen geschaut, die kaum auszuhalten sind. Doch Paulus spürt eine Kraft in sich: Gottes Geist. Der lässt ihn immer wieder nach oben blicken. Und Paulus spürt, dass er nicht allein ist in der Tiefe, in der Verlassenheit der Gefängnismauern. Seine Freunde denken an ihn, schreiben Briefe und schicken Pakete. Für Paulus ist gesorgt durch den, der ihn mächtig macht, all das auszuhalten.

Ich weiß nicht, wieviel ich in diesem neuen Jahr noch aushalten muss. Ich hoffe, dass ich ein Stück Vertrauen von Paulus bekomme für die Tiefen, in die ich blicken werde. Ich halte sein Paket in Händen und die Geschichten von Grethe und Mohammad, von Renée und Thomas. Ich nehme sie mit ins neue Jahr, werde die ein oder andere Geschichte hervorholen, um den Duft zu riechen: ich vergesse dich nicht.
Ich rieche die Gewissheit, wenn wir gleich die vertrauten Zeilen singen: Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Dieser Text stand auch in einem Brief.
Paulus fühlte diese Geborgenheit, als er das Paket der Philipper öffnet. Es war das Versprechen seiner Freunde und das von Gott: Ich sorge für dich. Ich vergesse dich nicht.
Paulus schreibt darauf: Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.
Ich wünsche uns für das neue Jahr, dass wir den Duft dieser Zeilen immer wieder riechen werden.
Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrerin Stephanie Höhner

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Hinter uns liegt ein Jahr, das das Leben hier und und weltweit verändert hat. Die steigenden Infektionszahlen machen Angst, die gerade gestarteten Impfungen machen Hoffnung. Und über allem schwebt der Wunsch, dass das neue Jahr besser wird.
Die Menschen im Gottesdienst mussten auf ihre Silvesterfeiern verzichten und das neue Jahr kam leiser als sonst. Eine Nachdenklichkeit liegt auf diesem Tag.

 2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Göttinger Predigtmeditation, die Kathrin Oxen dazu für das Jahr geschrieben hat und die Zuversicht, die der Predigttext selbst mitbringt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Briefe sind mehr als ein beschriebenes Blatt Papier.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mehr Struktur und Mut, Dinge wegzulassen.
 

Perikope
01.01.2021
4,10-13