Ein Prophet als Aktionskünstler, Predigt zu Jesaja 5,1-7 von Christoph Dinkel
5,1
1.
Jerusalem gegen Ende des 8. Jahrhunderts vor Christus. Es ist die Stadt der Könige Saul und David und Salomo. Inzwischen regieren andere Könige hier, deren Namen man sich nicht merken muss. Einen Namen allerdings sollte man kennen: Jesaja. Jesaja tritt seit dem Jahr 740 vor Christus in Jerusalem als Prophet auf. Unter seinem Namen finden wir in der Bibel ein ganzes Buch. Teile des Buches gehen auf Jesaja selbst zurück. Entweder er oder einer seiner Schüler hat sie aufgeschrieben. Jesaja hat gewusst, wie man den Menschen im Gedächtnis bleibt und wie sie auf einen aufmerksam werden. Im Auftrag Gottes geht er zum Schrecken der Leute drei Jahre lang nackt durch die Stadt (Jesaja 20,1ff). Seinen Kindern gibt er Zeichennamen, die seine Mitbürger aufrütteln sollen jedes Mal, wenn er sie ruft. Der Prophet Jesaja ist nach heutigen Maßstäben also so etwas wie ein Aktionskünstler. Für den Auftritt, um den es heute geht, hat sich Jesaja ebenfalls etwas Besonderes einfallen lassen. Er geht als Bänkelsänger und tritt auf den Markplatz. Welches Instrument er zur Begleitung nutzte, wissen wir nicht. Was er vorträgt, ist im Hebräischen Original ein Lied mit Versmaß, Wortspiel und Reim. Stellen wir uns also Jesaja vor wie den Sänger am Anfang von Brechts Dreigroschenoper, der die Moritat von Macky Messer singt:
 
Wohlan, ich will meinem lieben Freunde singen: Ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg. Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fruchtbaren Höhe. Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Wachturm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte.
 
Mit viele Liebe sorgt sich der Freund Jesajas um seinen Weinberg. Jeder, der einmal auch nur ein kleines Gartenbeet gejätet und gepflegt hat, ahnt wie viel Arbeit und Mühe das macht. Nach allen Regeln der Kunst kümmert sich der Freund um das Land, die Reben und die Kelter. Er spart nicht Kosten und Mühe. Doch das Ergebnis ist kümmerlich. Die edlen Reben bringen schlechte Trauben. So viel Mühe und kein Ertrag. Es ist klar, dass Jesajas Freund frustriert ist. Pech gehabt könnte man sagen. Aber Jesaja, so fragt man sich, warum erzählst du uns diese Geschichte? Es wird doch nicht wirklich um einen Weinberg gehen? – Doch worum es wirklich geht, bleibt zunächst offen. Nun zieht Jesaja die Umstehenden mit ein. Er eröffnet – und das ist ein wenig kurios – eine Gerichtsverhandlung gegen den Weinberg. Die anwesenden Zuhörer werden zu Richtern bestellt. Und außerdem: Der Prophet wechselt die Rolle. Im folgenden spricht er, als wäre er selbst der Freund, um dessen Weinberg es geht:
 
Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg! Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte?
 
Jesaja fordert die Zuhörer zum Urteil auf. Aber er wartet gar nicht ab, was sie sagen und wie das Urteil ausfällt. Die Wut über den Weinberg reißt den Sänger mit und er spricht selbst das Urteil. Der Bänkelsänger wird erst zum Ankläger und dann zum Richter, der mit göttlicher Autorität selbst den Wolken Befehle erteilen kann:
 
Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will! Sein Zaun soll weggenommen werden, dass er verwüstet werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde. Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen.
Des HERRN Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing.
Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.
 
2.
Liebe Gemeinde!
Gott ist zornig und der Prophet Jesaja tritt im Namen Gottes, seines Freundes, als Bänkelsänger auf. Die Menschen von Jerusalem werden im göttlichen Auftrag so richtig in den Senkel gestellt und der Prophet spart nicht damit, Angst und Schrecken zu verbreiten. Das sind wir nicht gewohnt. Das ist gar nicht sympathisch. Das ist kein freundlicher Gott.
 
Man fragt sich, um im Bild zu bleiben, ob es nicht genügt hätte, den Weinberg einfach brach liegen zu lassen. Sich nicht um ihn kümmern, das wäre doch auch eine Möglichkeit gewesen. Man muss doch aus Wut nicht gleich alles zerstören, was man vorher mühsam bestellt hatte. Und unwillkürlich fällt einem die Geschichte von der Arche Noah ein, in der Gott ja auch durch die große Flut alles Geschaffene vernichtete. Nur Noah und seine Familie und von jeder Tierart ein Paar kommen davon.
 
Finstere Gedanken kommen einem in den Sinn. Aber bevor es zu finster wird, brechen wir ab. Denn es kommt ja darauf an, worüber der Prophet im Namen Gottes eigentlich so zornig ist. Und da werden wir vielleicht ein wenig nachsichtiger mit dem Zornigen. Jesaja ärgert sich 1. darüber, dass in Jerusalem das Recht gebrochen wird. Die Richter lassen sich also kaufen. Es herrschen mafiotische Verhältnisse. Nicht wer Recht hat, bekommt recht, sondern wer am meisten zahlt oder die besseren Beziehungen hat. Und 2. ärgert sich Jesaja darüber, dass erhebliche soziale Ungerechtigkeit in der Stadt herrschen. Die einen können sich alles kaufen. Die feinen Damen vom Hof gehen mit teurem Schmuck behängt und von edlem Geschmeide umhüllt durch die Stadt, eitel und kokettierend. Jesaja beschreibt das in seinem Buch mit viel Spott und Häme. Und in derselben Stadt reicht es den anderen nicht einmal zum Leben. Damit sie nicht verhungern, müssen sie als Sklaven arbeiten, jeden Rechts und aller Würde beraubt. Besonders den verwitweten Frauen und den Waisenkindern geht es katastrophal. Und das speziell erregt den Ärger Jesajas und den Zorn Gottes und aus dieser Perspektive kommt einem die Wut des Freundes im Weinberglied plötzlich gar nicht mehr so abwegig vor.
 
Der Sprung in unsere Zeit ist dann auch gar nicht so weit: Die Unbestechlichkeit von Richtern und Politikern, die für Recht und Gemeinwohl sorgen sollen, wird heute so hoch geschätzt wie niemals zuvor. Da sind wir Jesaja ganz nahe. Und auch die Frage der sozialen Gerechtigkeit, die Frage nach der Verteilung des Wohlstands in einer Gesellschaft, ist ein Thema, das viele beschäftigt. Die in der Politik diskutierten politischen Konzepte will ich hier nicht erörtern. Das finden Sie jeden Tag in der Zeitung. Ich will nur darauf hinweisen, dass auch im globalen Maßstab die Frage nach sozialer Gerechtigkeit zu stellen ist. Auch zwischen den verschiedenen Nationen ist der Wohlstand sehr ungleich verteilt und die Folge davon sind in den armen Ländern Hunger und Not, in deren Folge wir Flüchtlingsbewegungen in die reichen Länder erleben. Und wie viele Menschen sterben auf der Flucht übers Mittelmeer, weil ihre Boote kentern und ihnen Hilfe verweigert wird. – Da kann man auch heute ganz schön zornig und wütend werden und plötzlich versteht man den Zorn Gottes und seines Propheten. Denn Gottes Zorn ist die Kehrseite seiner Liebe für jene, die sich nicht selbst aus der Not helfen können. Die Wut des Weinbergsbesitzers ist nicht blind, sie ist vielmehr sehend und rührt aus der Sicht auf Ungerechtigkeit und Unrecht. Ein Weinbergbesitzer, der den unfruchtbaren Weinberg einfach sich selber überließe, würde gerade die Armen, die Waisenkinder, die verwitweten Frauen, die Sklaven und die Hungernden im Stich lassen. Nichts wäre für die Menschen schlimmer als göttliche Gleichgültigkeit, gerade die Ärmsten der Armen würden dadurch bestraft. Der zornige Gott ist auch der gerechte Gott, der mit brennender Liebe für die Armen kämpft.
 
3.
Haben Unrecht und asoziales Verhalten Folgen? Welche Regeln gelten für das soziale Zusammenleben in einer Gesellschaft? Was ist also erlaubt und was geht nicht? Und was passiert, wenn ich gegen die Regeln verstoße? – Diese Fragen stecken hinter dem Weinberglied. Und diese Fragen stellen sich uns nicht anders als den Menschen damals. Wir Heutigen stellen uns Gott ja eher nicht so vor wie Jesaja als einen, der zornig dreinschlägt und alles vernichtet. Wir sprechen in der Kirche eher vom lieben Gott, der verzeiht und hilft und aufbaut. Eine gewisse Weichheit hat unser christliches Gottesbild überformt. Aber die Wirklichkeit, in der wir leben, ist nicht so weich. Die Wirklichkeit ist oft genug hart und unerbittlich. Und wer die Gesetze der Wirklichkeit missachtet, bekommt dafür zumeist auch die Rechnung präsentiert. Ungerechte Gesellschaften, in denen große soziale Spannungen herrschen, sind weniger leistungsfähig als solche mit moderaten sozialen Differenzen. Wer in der Schule nicht mitmacht und ständig stört, wird das am Ende im Zeugnis quittiert bekommen. Wer seinem Chef oder seinen Kollegen krumm kommt, braucht sich nicht wundern, wenn sie verärgert reagieren. Und umgekehrt wird ein ungerechter, launischer Chef für asoziales Verhalten einen Preis zahlen müssen.
 
Auch wenn nicht gleich der göttliche Blitz vom Himmel fällt, so wird ein Verhalten, das stark von den Geboten der Gerechtigkeit und Fairness abweicht, in der Regel Konsequenzen haben. Die Zeit des Heranwachsens ist für Jugendliche und ihre Eltern gerade deshalb so spannungsvoll, weil Jugendliche, wie Ihr Chorsänger es seid, erst einmal lernen und ausprobieren müssen, was an Verhaltensweisen geht und was nicht, womit man Erfolg hat und was einen scheitern lässt. Solches Lernen bezieht sich auf die Naturgesetze: Wenn ich zu schnell in die Kurve fahre, haut es mich vom Rad oder vom Kickboard. Solches Lernen bezieht sich aber genauso auf die sozialen Gesetze: Wenn ich klaue oder betrüge oder dauernd schlecht über andere rede, dann werden die anderen mich meiden und mir bei Problemen die Hilfe verweigern.
 
4.
Ich lese gerade die Biografie des Apple-Gründers Steve Jobs (Walter Isaacson, Steve Jobs. Die autorisierte Biografie des Apple-Gründers, 2. Aufl., München 2011). Meine Frau hat sie mir zu Weihnachten geschenkt. An Steve Jobs kann man gut sehen, welche Konsequenzen unfaires Verhalten haben kann. Als junger Mann war Steve Jobs in hohem Maße unausgeglichen. Er war einerseits enorm begabt. Wie kein anderer konnte er die Entwicklung eines Computers vorantreiben. Er konnte Menschen motivieren, fast wie ein Sektenführer. Er erkannte und entwickelte Benutzerkonzepte für Computer und Anwendungen, die heute Standard auf allen PCs sind. Doch gleichzeitig stand sich Jobs mit seinem rüden und egoistischen Verhalten unaufhörlich selbst im Weg. Als er ein bahnbrechendes Konzept für einen Computer einem möglichen Investor vorstellte, flog er hochkant aus dessen Büro. Er war barfuß gekommen, hatte seine Füße auf dessen Schreibtisch abgelegt und ein rotziges Verhalten an den Tag gelegt, obwohl er gleichzeitig um das Geld des Investors werben wollte. Noch dazu roch Jobs stark, weil er die fixe Idee hatte als Veganer, der sich nur von Äpfeln und Karotten ernährte, könne er keinen Körpergeruch haben und müsse sich nicht waschen. Irgendwie kam seine Firma dann doch an Geld. Sie konnten ihren Computer bauen und fuhren damit zunächst große Erfolge ein. Doch 1985 flog Steve Jobs dann aus seiner eigenen Firma heraus, weil er so viele der wichtigen Mitarbeiter betrogen, beleidigt und gemobbt hatte, dass kaum mehr jemand für ihn einstand. Auch sonst neigte Jobs zu schwierigem Verhalten. Seiner unehelichen Tochter verweigerte er jahrelang die Zahlung von Alimenten, obwohl er zigfacher Millionär war. Er stritt immer wieder die Vaterschaft ab, obwohl er zugleich einem von ihm entwickelten Computer ihren Namen gab: Lisa. Seine Tochter passte einfach nicht in sein Konzept von Wirklichkeit. Und was da nicht reinpasste, das verleugnete er konsequent. Sein Umfeld beschrieb diese Eigenart als „Reality Distortion Field“, als Realitätsverzerrungsfeld. Jobs konnte sich selbst und sein Umfeld so suggestiv beeinflussen, dass die Maßstäbe für das Mögliche und Unmögliche durcheinander gerieten. Das war in manchen Fällen enorm motivierend und führte zu bahnbrechenden Entwicklungen. Das führte aber auch zu katastrophalen Fehlentscheidungen, zum Burnout vieler Mitarbeiter und der Vernichtung von sehr viel Kapital. Erst nachdem er bei Apple rausgeflogen und nachdem er mit seinen anderen Firmen Next und Pixar fast Schiffbruch erlitten hatte, fand Jobs allmählich zu einem sozial so weit angepassten und fairen Verhalten, dass er seine enormen Begabungen wirklich ausspielen konnte. Geholfen haben ihm dabei einige Freundinnen und seine Frau Laurene Powell, die er 1989 kennengelernt hatte. Eine Freundin kommentierte es so: „Er kann von Glück sagen, dass er bei Laurene gelandet ist. Sie ist klug, kann ihn intellektuell fordern und seine Höhen und Tiefen und seine hemmungslose Persönlichkeit ertragen.“ (S. 319)
 
Die Firma Apple holte Jobs dann 1996 zurück und es begann der Aufstieg zu einer der erfolgreichsten Firmen der Welt überhaupt. Aus dem riechenden, rüpelhaften Genie wurde der Erfinder des iMacs, des iPods und des iPhones, das so mancher von Ihnen und Euch in der Tasche bei sich führt. Seine Vaterrolle nahm Steve Jobs später übrigens auch sehr ernst. Das mit der Realitätsverzerrung blieb aber ein Problem. Seine Krebserkrankung verleugnete er vor sich selbst so lange, bis sie unbehandelbar geworden war. Wäre er dem Rat seiner Frau gefolgt und nicht seiner verzerrten Realitätswahrnehmung, würde er wahrscheinlich heute noch leben.
 
5.
Die Realität ist hart. Und selbst wenn soziale Gesetze nicht ganz so hart sind wie Naturgesetze – wer die Regeln von Fairness und Gerechtigkeit ständig verletzt, wird mit ernsten Konsequenzen rechnen müssen. Der Zorn Gottes, den der Prophet mit seinem Weinberglied illustriert, ist nur die religiöse Beschreibung für diese Härte der Wirklichkeit. Und machen wir uns klar: Viel schlimmer als die Härte der Wirklichkeit wäre eine Wirklichkeit, der man nicht vertrauen kann und in der Regelverstöße beständig verpuffen. Eine weiche Wirklichkeit wäre das Chaos und das Ende jeder Lebensmöglichkeit. Deshalb ist es die erste Schöpfertat Gottes in der Bibel, dass er das Chaos bändigt und der Welt eine Struktur und Gesetze gibt, auf die wir uns verlassen können und die Leben ermöglichen: Licht und Finsternis, Tag und Nacht, flüssiges Wasser und festes Land.
 
Betrachten wir den Propheten Jesaja als einen Aktionskünstler. Mit seinem Weinberglied und seinem Auftreten als Bänkelsänger will er uns wachrütteln: Nehmt wahr, was ihr tut! Nehmt wahr, welche Konsequenzen euer Verhalten hat! Der Zorn des göttlichen Weinbergbesitzers steht für die Härte der Wirklichkeit. Nicht jedes Verhalten wird toleriert, schon gar nicht auf Dauer. Soll ein Land erblühen, so muss in ihm ein Grundmaß an sozialer Gerechtigkeit herrschen. Sollen einzelne Menschen ihre Begabungen und Fähigkeiten zur Geltung bringen können, so müssen sie die Regeln des sozialen Miteinanders lernen und einüben.
 
Ist diese Botschaft zu hart? Zu viel Gesetz, zu wenig Evangelium und frohe Botschaft? – Unser Aktionskünstler lehrt uns noch etwas anderes, was nicht weniger wichtig ist als der Zorn Gottes. Dem göttlichen Zorn voraus geht nämlich die Geduld Gottes, sein unendliches Mühen um den Weinberg, seine Ausdauer und Sorgfalt und die große Liebe, mit der er seiner Arbeit nachgeht. Der Zorn Gottes ist nur die Rückseite seiner Liebe. Und die ist das Entscheidende. Gott will, dass der Weinberg gute Trauben bringt und Leben wächst. Gott will, dass es in der Welt gerecht zugeht und die Menschen gut miteinander umgehen. Gott will, dass Menschen einander helfen und auf den rechten Weg bringen. Gott will, dass Ihr Jugendlichen Euch in der Welt zurecht findet und Ihr Eure Begabungen umsetzen könnt. Denn: Gott will das Leben. – Amen.
 
Prof. Dr. Christoph Dinkel
  Pfarrer
  Stuttgart
  dinkel@email.uni-kiel.de
Perikope
04.03.2012
5,1