Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt!
Liebe Gemeinde,
in der vergangenen Woche fand ich einen Umschlag im Briefkasten, der vier ungebrauchte Servietten enthielt. Eine Dame aus dem Seniorenkreis hatte sie aus Versehen im Gemeindehaus eingepackt – und das Gewissen plagte sie so sehr, dass sie sie zurückschickte. Die Servietten gehörten schließlich der Kirche! Ich musste an meinen Großvater denken, der peinlich genau darauf achtete, mit dem dienstlichen Bleistift nichts Privates aufzuschreiben.
Ein kleiner Rest dieses preußischen Ethos hat sich auch bei mir erhalten. Ja, ich gebe zu: Tief in meinem Herzen halte ich Unbestechlichkeit und Korrektheit sogar für etwas unverzichtbar Evangelisches. Andere mögen kungeln und klüngeln; wir Protestanten aber nehmen es genau und machen keine krummen Sachen.
Wenn Sie so ähnlich denken, dann wird unser heutiger Predigttext Ihnen Bauchschmerzen bereiten. Es ist eine von den vielen wenig bekannten Geschichten im Neuen Testament, die man erst entdeckt, wenn man ein Evangelium mal von vorne bis hinten liest. Dabei steht die Geschichte an prominenter Stelle: gleich nach dem Gleichnis vom verlorenen Sohn nämlich. Hören wir aus Lukas 16 die Verse 1-8 (Luther 2017):
Jesus sprach aber auch zu den Jüngern: Es war ein reicher Mann, der hatte einen Verwalter; der wurde bei ihm beschuldigt, er verschleudere ihm seinen Besitz. Und er ließ ihn rufen und sprach zu ihm: Was höre ich da von dir? Gib Rechenschaft über deine Verwaltung; denn du kannst hinfort nicht Verwalter sein. Da sprach der Verwalter bei sich selbst: Was soll ich tun? Mein Herr nimmt mir das Amt; graben kann ich nicht, auch schäme ich mich zu betteln. Ich weiß, was ich tun will, damit sie mich in ihre Häuser aufnehmen, wenn ich von dem Amt abgesetzt werde. Und er rief zu sich die Schuldner seines Herrn, einen jeden für sich, und sprach zu dem ersten: Wie viel bist du meinem Herrn schuldig? Der sprach: Hundert Fass Öl. Und er sprach zu ihm: Nimm deinen Schuldschein, setz dich hin und schreib flugs fünfzig. Danach sprach er zu dem zweiten: Du aber, wie viel bist du schuldig? Der sprach: Hundert Sack Weizen. Er sprach zu ihm: Nimm deinen Schuldschein und schreib achtzig. Und der Herr lobte den ungerechten Verwalter, weil er klug gehandelt hatte. Denn die Kinder dieser Welt sind unter ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts.
Eigentlich ist das eine Geschichte, die man zweimal lesen muss – um sie richtig zu verstehen, aber auch um sich zu vergewissern, dass man sich wirklich nicht verhört hat. Also: Da geht es um eine Art Geschäftsführer, der im Dienst eines reichen Mannes erhebliche Summen zu verwalten hat. Es kommt heraus, dass er das Vermögen seines Chefs nicht mehrt, sondern mindert. Vielleicht ist er faul, vielleicht fährt er riskante Anlagestrategien – wir erfahren es nicht. Jedenfalls muss er gehen. So lange die Kündigungsfrist läuft, überlegt der Noch-Geschäftsführer, wie er seine Noch-Kompetenzen am geschicktesten nutzt für das Leben danach – damit er nicht auf der Straße steht, wenn er auf der Straße steht. Schließlich bestellt er die größten Kreditnehmer seines Chefs zu sich: keine kleinen Fische, sondern offenbar selbst mittelständische Unternehmer – man sieht es an ihren erheblichen Schulden. Der Noch-Geschäftsführer unterschreibt ihnen hinter den verschlossenen Türen seines Büros stark reduzierte Schuldscheine. So gewinnt er ihr Wohlwollen; so verpflichtet er sich diese Leute für später.
Die Geschichte, die Jesus erzählt, ist keineswegs unrealistisch. Wir erleben Ähnliches zum Beispiel, wenn irgendwo ein Regierungswechsel ansteht. Da werden eben noch schnell ein paar Beamte befördert und in höhere Gehaltsstufen eingruppiert. Da sichert sich der ein oder andere Politiker das Wohlwollen von Wirtschaftsunternehmen, die ihn anschließend in den Aufsichtsrat berufen. In den letzten Tagen einer Regierung werden schnell noch einige Gesetze verabschiedet und Verträge unterschrieben. Gelegentlich sollen sogar Akten verschwinden. Das alles sollte niemanden wundern.
Wundern muss man sich allerdings, dass Jesus eine solche Geschichte erzählt, ja viel mehr noch: dass er das Verhalten jenes trickreichen Geschäftsführers offenbar gutheißt und weiterempfiehlt. Wie soll man das nur verstehen?
Frühere Bibelausleger haben das Gleichnis gedreht und gewendet, um doch noch zu zeigen, dass der Geschäftsführer moralisch vorbildlich handelt. Man hat zum Beispiel vermutet, dass die Schulden, die er erlässt, sein persönlicher Anteil am Kreditgeschäft seines Chefs gewesen seien. Aber das steht nirgendwo. Im Gegenteil: Das Gleichnis nennt den Mann ganz ohne Umschweife „ungerecht“. An der moralischen Fragwürdigkeit gibt es nichts zu rütteln. Doch der Geschäftsführer erhält noch ein zweites Adjektiv: klug. Wegen seiner Klugheit wird er gelobt. Durch seine Klugheit wird er zum Vorbild.
Jesus sagt: Klugsein im Angesicht einer ungewissen Zukunft bedeutet Risikobereitschaft und Weitsicht. Es bedeutet, die Zukunft nicht zu verleugnen oder zu verdrängen. Es bedeutet, nicht alles fatalistisch auf sich zukommen zu lassen und die Hände in den Schoß zu legen, sondern die Initiative zu ergreifen und etwas zu wagen. Genau das tut dieser Verwalter. Er sieht seine Lage in aller gebotenen Nüchternheit. Er wagt etwas. Dabei kommt es durchaus darauf an, dass er nicht einfach Geld für sich selbst beiseiteschafft, sondern dass er sich das Wohlwollen und die Treue anderer Menschen erwirbt. Geld ist bei ihm Mittel, nicht Zweck. Beziehungen sind ihm wichtiger als Besitz.
Liebe Gemeinde,
was bedeutet das alles für uns, die wir ganz bestimmt ehrlicher durchs Leben gehen wollen als dieser zwielichtige Verwalter?
In mehreren Geschichten warnt Jesus davor, die Beurteilung durch Gott einfach auszusitzen; sich vor Fehlern zu schützen, indem man einfach gar nichts tut. Wer handelt, macht Fehler. Und Jesus versucht den Menschen immer wieder klar zu machen – auch mit einem drastischen Beispiel wie diesem betrügerischen Verwalter –, dass Gott für solche Fehler mehr Verständnis aufbringen wird, als wir denken. Vor allem hat er mehr Verständnis dafür als für ein Leben, das nie wirklich gewagt wurde – aus Angst, es zu verfehlen.
Wer die Pfunde, die ihm anvertraut sind, vergräbt, der lässt sich zwar nichts zuschulden kommen, der handelt wohl korrekt. Aber klug ist das nicht. Klug ist etwas anderes: ein aktiver, ein weitsichtiger und phantasievoller Umgang mit dem Leben, das uns geschenkt ist. Schließlich ist unsere Lebenszeit begrenzt. Unsere Möglichkeiten und Gaben sind begrenzt. Keiner weiß, wann sie uns wieder ganz genommen werden.
Die Botschaft des Gleichnisses höre ich vor diesem Hintergrund so:
Spare nicht mit deinem eigenen Leben. Sei klug mit deiner Zeit und mit deiner Kraft. Nutze sie gut aus. Investiere sie: am besten in Menschen, in Freundschaften und Beziehungen. Halte die Liebe nicht zurück. Teile reichlich Vergebung aus, damit dir eines Tages vergeben wird. Verkriech dich nicht in falscher Bescheidenheit, auch nicht in Selbstmitleid oder Fatalismus, sondern gehe beherzt und mutig an, was vor dir liegt. Am Ende wird es nicht darauf ankommen, dass du makellos und rein vor deinem Herrn stehst – sein Erbarmen ist ohnehin größer als du denkst. Am Ende kommt es darauf an, dass du im Angesicht Gottes dein Leben gewagt hast!
Liebe Gemeinde,
wir hören das Gleichnis heute am Volkstrauertag. Am Tag also, an dem wir der vielen Millionen Opfer der letzten Kriege und des nationalsozialistischen Unrechts gedenken. Wie viele von diesen Opfern hätten wohl vermieden werden können, wenn es in jenen Tagen mehr von der Klugheit gegeben hätte, die unser Gleichnis empfiehlt! Wenn wir Deutschen nicht so preußisch: so korrekt, so gründlich und so gehorsam gewesen wären, sondern: ein gutes Stück eigenverantwortlicher, gewitzter und mutiger.
Jedenfalls muss ich bei dem zwielichtigen Verwalter des Gleichnisses an eine historische Figur denken, die erst durch einen amerikanischen Kino-Film der Vergessenheit entrissen wurde: Oskar Schindler, der deutsche Unternehmer aus Zwittau, der am Ende des Krieges rund 1200 Krakauer Juden vor dem Konzentrationslager rettete. Dieser Schindler war allem Anschein nach ein schmieriger, opportunistischer Typ, viel unsympathischer als der Hollywoodfilm „Schindlers Liste“ ihn zeigt. Lange Zeit arbeitete er eng mit den Nazis zusammen; er profitierte wirtschaftlich vom Krieg. Doch dann tat er zur rechten Zeit das Richtige: Um seine jüdischen Arbeiter vor der Deportation und dem sicheren Tod zu bewahren, zog Schindler alle Register des Betrugs; er fälschte Dokumente und zahlte Schmiergelder. Ein Repräsentant typisch deutscher Tugenden war er wahrlich nicht – und dennoch oder gerade deswegen wurde er zum Vorbild jenseits der Norm. Ein kluger Verwalter der eigenen Möglichkeiten.
Der Verwalter aus der Geschichte Jesu ist ein schwieriges Vorbild. Sein Verhalten kann beim besten Willen nicht zur Nachahmung empfohlen werden – auch nicht aus christlicher Sicht. Doch er dient als drastische Erinnerung daran, dass wir vor Gott nicht nach hehren Tugenden und edlen Prinzipien gefragt werden. Wir werden gefragt, wie entschlossen, wie mutig und wie einfallsreich wir unser Leben gelebt haben. Ein gewagtes Leben gibt es nicht ohne Scheitern und Blessuren. Wir werden uns wundern, wieviel Verständnis unser Herr dafür hat.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen