Ein schwarzes Schaf wird Leithammel - Predigt zu 1. Timotheus 1,12-17 von Michael Nitzke
1,12-17

Ein schwarzes Schaf wird Leithammel - Predigt zu 1. Timotheus 1,12-17 von Michael Nitzke

12 Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat und in das Amt eingesetzt,
13 mich, der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war; aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben.
14 Es ist aber desto reicher geworden die Gnade unseres Herrn samt dem Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus ist.
15 Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin.
16 Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren, dass Christus Jesus an mir als Erstem alle Geduld erweise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben.
17 Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen.

Liebe Gemeinde,
vielleicht sehen wir vor unserem inneren Auge noch ein kleines Schäfchen. Wer die Evangeliumslesung noch im Ohr hat, sieht, wie es auf dem Rücken des Hirten zurück zur Herde getragen wird. Sicher ist seine Wolle zerzaust von dem Gestrüpp, in dem es sich verfangen hat. Es ist froh, dass es wiedergefunden wurde. Dieses eine Schaf wird von seinem Herrn zurück getragen und die neunundneunzig anderen Schafe stehen da erwartungsvoll und voller Sorge zusammen. Keines hat die Gelegenheit genutzt, um selbst auszubüchsen, während der Hirte das Fehlende suchte.
Nun, da der Herr es von den Schultern nimmt und vorsichtig auf die noch zitternden Beine stellt, nehmen es die anderen freudig auf in ihre Mitte.
Ja, es wird Freude sein über das wiedergefundene Schaf. Es wird Freude sein unter den Nachbarn und Freunden des Hirten, wie es im Evangelium steht. Wird aber auch wirklich Freude sein unter den anderen Schafen? Werden sie es wieder integrieren in ihre Herde? Wenn mit den Schafen echte Tiere gemeint sind, dann ist das wirklich kein Problem. Aber wenn diese Herde eine menschliche Gemeinschaft ist, dann sieht das schon anders aus. Unwillkürlich drängt sich das Bild vor Augen, dass das verlorene Schaf auch ein schwarzes Schaf war. Und ein schwarzes Schaf wird in der Herde der 99 weißen Schafe zwar ertragen, aber oft nicht wirklich geliebt.

Gehen wir nun herunter von der Weide und begeben wir uns in die menschliche Sphäre. Verlassen wir die schöne Beispielgeschichte vom verlorenen Schaf und hören wir die erlebte Geschichte eines Mannes, ohne den wir wahrscheinlich kaum etwas vom christlichen Glauben wüssten. Der Apostel Paulus, hat wie kein anderer seine ganz Kraft darein gesetzt, den Glauben über die Grenzen des ursprünglichen Gottesvolkes hinaus zu verbreiten. Er hat Grenzen überschritten - nicht nur geographische. Er ist unermüdlich gereist, hat Menschen zum Glauben an Jesus Christus bewogen, die auch dabei geblieben sind. Er hat Gemeinden gegründet und sie immer wieder begleitet. Hat sie im Glauben bestärkt, hat mit ihnen Konflikte ausgehalten und neue Wege gesucht, ohne diejenigen, die lieber die alten Wege gegangen sind, zurück zu weisen.

Paulus, ein Wegbereiter des Glaubens, und dennoch könnte man ihn als schwarzes Schaf der christlichen Familie bezeichnen. Denn der neue Glaube war ihm nicht geheuer, und nicht nur das: Er hat die junge christliche Gemeinde verfolgt. Hat ihren Mitgliedern nach dem Leben getrachtet. Bis er selbst gespürt hat, was er da für Leid über die Menschen bringt. Auf seiner Reise nach Damaskus konnte er auf einmal nicht mehr die Hand vor Augen sehen. Aber mit seinem Ohr hörte er eine Stimme: »[...] warum verfolgst du mich?« Und er fragte: »Wer bist du, Herr?« Die Stimme sagte: »Ich bin Jesus, den du verfolgst! (aus Apg. 9,4f)
Paulus änderte sein Leben. Diese Begegnung führte ihn zum Glauben, und aus dem schrecklichsten Verfolger der Christen wurde der glühendste Missionar des neuen Glaubens.

Paulus hat seine Herkunft nie vergessen, und dann und wann spricht und schreibt er darüber. So in dem Text, den wir heute gehört haben. Er weiß, was er Schlimmes getan hat. Er beschönigt nichts. Er sagt, dass er Jesus Christus beschimpft, verfolgt und verhöhnt hat.
Aber er hat auch von ihm etwas erfahren. Und zwar Barmherzigkeit. Dass er mit Blindheit geschlagen wurde, das war ein Schuss vor den Bug, ein Warnzeichen. Und er hat das Zeichen richtig verstanden. Der Warnschuss hat ihm die Augen geöffnet. Und als er wieder sah, da sah er sich als Teil der Herde des guten Hirten, der auch sein Leben für die Schafe lässt.
Aber was denken diese Schafe, wenn Jesus auf diese Wiese das verlorene Schaf zurückbringt? Nehmen sie es auf oder betrachten sie es nicht doch mit Misstrauen und Vorbehalt?
Und fragen sie sich nicht noch viel mehr: „Kann denn das verlorene Schaf zum Leithammel werden?"
Hätte Paulus es einfacher gehabt, wenn er in der Herde als ein Schäfchen von vielen unerkannt mit gezogen wäre? Er hat nicht diesen leichten Weg genommen. Er hat seine Gaben und Fähigkeiten, die ihn zum glühendsten Verfolger werden ließen, nicht versteckt. Er hat sie so eingesetzt, dass er zum effektivsten Verkündiger des Glaubens wurde.
Paulus hat sein Licht nicht unter den Scheffel gesetzt. Er hat seine Kraft voll und ganz Gott gewidmet. Er hat von anderen viel verlangt. Und wenn diesen anderen das Tempo zu schnell war, oder wenn ihnen die Richtung nicht passte, dann hat er mit Kritik nicht hinter dem Berg gehalten. Dann hat er auch mal in einer flammenden Rede wie dieser gesagt, dass Gott ihm das Vertrauen gegeben hat. Er hat ihm Barmherzigkeit geschenkt.
Was ist das? Vielleicht Nachsicht, Vergebung, Mitgefühl. Es ist diese Barmherzigkeit, die ihm die Vergangenheit nicht zum Hindernis für die Zukunft werden ließ. Paulus ist dafür von Herzen dankbar. Er nimmt diese Barmherzigkeit nicht als Selbstverständlichkeit. Er ist demütig in der Dankbarkeit. Aber manche halten ihn für hochmütig in dem, was er von anderen verlangt. Denn er erwartet Vertrauen und Verlässlichkeit. Und er verlangt vollen Einsatz, Selbstüberwindung.
Und in der Tat braucht es viel Selbstüberwindung das verlorene Schaf als „Leithammel“ anzuerkennen. Sollte es nicht lieber ruhig und bescheiden bleiben als fordernd und anspruchsvoll.
Paulus hatte sich mit seiner fordernden Art nicht viele Freunde gemacht. Aber er war effektiv. Der Glaube hat Früchte gezeigt, bis heute. Man liest immer noch aus seinen Briefen, die oft nur geschrieben wurden, um Konflikte zu bereinigen. Und die nach seinen Worten handeln sollten, mussten selbst sehr viel Barmherzigkeit aufbringen, um ihm nicht seine alten Fehler vorzuhalten und zu sagen: „Wie kannst du mir Vorschriften machen, der du doch einst die Christen verfolgt hast?"

Paulus sagt:15 Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin.
Ja, er ist nicht bescheiden. Er ist der erste, in allen Bereichen. Erst ist er der, der den Christen am stärksten geschadet hat, und nun ist er der, der sie mit seiner ganzen Kraft zu einer Weltbewegung formen will. Ja, so ein Charakter ist für die Umstehenden nicht leicht zu ertragen.

Aber wie gehen wir heute mit Fehlern um? Können wir uns von jemandem leiten lassen, der alles, was uns vorher heilig war, in den Schmutz gezogen hat? Nehmen wir solch einem Menschen die innere Wandlung ab?
In unserer Gesellschaft kann man sich heute sehr vieles erlauben. Die moralische Geduld ist sehr groß geworden. Ein Mensch in leitender Position muss nicht immer ganz genau den Normen entsprechen, die früher selbstverständlich waren. Aber was man von ihm erwartet ist Ehrlichkeit. Wer in der Öffentlichkeit steht, ist unter genauer Beobachtung. Doch Fehler, die jemand entdeckt, werden verziehen, wenn jemand offen damit umgeht. Wer aber das Falsche für richtig erklärt, der darf kaum Barmherzigkeit erwarten. Wer seine Fehler verdecken und vertuschen will und nicht dazu steht, was er falsch gemacht hat, der wird spüren, wie unbarmherzig eine moderne Öffentlichkeit sein kann.
Wenn Christus so gehandelt hätte, dann hätte aus Paulus nichts Großes mehr werden können. Aber Christus hat Paulus nicht öffentlich demontiert und dann in der Versenkung verschwinden lassen. Nein, er hat ihn aufgebaut, damit er seine Kraft einsetzt für Dinge, die wirklich den Menschen gut tun.
Ein solches Handeln erfordert Geduld. Eine Geduld, die Jesus Christus selbst aufgebracht hat. Paulus selbst ist dankbar für diese Geduld. Aber dennoch scheint es dem Bibelleser so, als sei alles sehr schnell gegangen, vielleicht zu schnell. Doch bei manchem braucht man sicher noch viel mehr Geduld.
Wenn man keine Geduld aufbringt, dann kommt es zu Aussagen wie dieser, die man heute gerne locker daher sagt: „Keiner ist unnütz, er kann immer noch als schlechtes Beispiel dienen!"
Bringt man aber Geduld auf, dann wird ein Mensch, der Schuld auf sich geladen hat, nicht als schlechtes sondern als gutes Beispiel dienen.
Und dann sind wir wieder bei der Frage: „Kann denn das verlorene Schaf zum Leithammel werden?"

Ja, denn es kommt nicht darauf an, dass jemand keine Fehler macht in seinem Leben, es kommt darauf an, wie er mit diesen Fehlern in der Öffentlichkeit umgeht.1 Das gilt für Pfarrer, das gilt für Politiker, das gilt für Geschäftsleute, das gilt für Alte und Junge, Männer und Frauen.
Diese Lebenseinstellung braucht Geduld auf beiden Seiten.  unächst Geduld bei denen, die die Auswirkungen der Fehler zu spüren bekommen. Und dann bei denen, die diese Fehler gemacht haben. Es ist ein langer Weg, eine Fehlerkultur in einer Gemeinschaft zu etablieren. Da geht es nicht um meckern und ausgemeckert werden. Da geht es darum, gemeinsam den besten Weg zu suchen. Es ist eine Binsenweisheit, dass man aus Fehlern lernen soll. Aber man muss diese Weisheit auch verinnerlichen.
Ein falsches Wort ist schnell gesagt. Manchmal reicht aber nicht die einfach Floskel: „Entschuldigung!" Dann erfordert es Einfühlungsvermögen mit dem, den das falsche Wort getroffen hat, um das Vertrauen wieder herzustellen. Und man braucht auch Vertrauen zu sich selbst und seiner eigenen Fähigkeit zur Erneuerung. Denn es wäre ein noch falscheres Verhalten, sich nun zu denken: „Jetzt sage ich eben gar nichts mehr!" - Wer das Gespräch sucht, wird spüren, dass Menschen vergeben und verzeihen, weil sie selbst Fehler machen.
Anders sind Fehler, deren Folgen nicht so einfach wieder gut gemacht werden können. Wenn durch einen Fehler ein schwerer Unfall passiert, dann bringt der vielen Menschen unermessliches Leid. Auch da muss man versuchen,  wieder in Ordnung zu bringen, was in Ordnung gebracht werden kann.
Und am besten ist es, wenn man vorher versucht, gemeinsam Fehler zu verhindern. Dazu gehört auch, dass sich niemand für perfekt hält, oder dass sich jemand selbst die Kompetenz abspricht, die Fehler der anderen zu erkennen und zu benennen.
Dazu gehört Mut und Selbstvertrauen. Denn oft trauen wir uns nicht die Wahrheit zu sagen, weil wir irgendwelche Folgen fürchten.
Ja, ich mache Fehler, auch wenn ich viel längere Erfahrung habe. Sagen Sie es mir rechtzeitig, bevor es zu spät ist."2 Ja, selbst ein guter Pilot wird seinem Copiloten auf diese Weise Mut machen, ihn auf Fehler hinzuweisen, ohne dass dieser Angst um seine Karriere haben muss.
Geduld braucht es dazu auf allen Seiten.
Und Geduld gibt uns dazu Jesus Christus, der am Kreuz das Leiden erduldet hat, um uns zu zeigen, wie viel Geduld er mit uns hat. Auch wenn die Rede des Paulus manchem etwas zu viel nach Eigenlob stinkt, so ist das, was er sagt, doch ein Zeugnis seiner Seele: „Ja, mir ist Barmherzigkeit widerfahren. Ja, Jesus hat Geduld mit mir gehabt. Und das will ich euch zeigen und nicht verschweigen." Wer das von Herzen sagt, der ist nicht überheblich, sondern der bekennt sich zu seinen Fehlern, ist dankbar, dass Gott sie erträgt und vergibt.
Ja, auf diese Weise kann tatsächlich ein schwarzes Schaf zum Leithammel werden. So kann sich sogar ein Ackergaul in ein Zugpferd verwandeln. Und selbst wenn jemand den Bock zum Gärtner machen sollte, muss das Ergebnis nicht chaotisch sein. Es kommt auf die innere Einstellung an, die sich mit Gottes Hilfe verändern lässt. Es kommt auf die Geduld an, die ich mit mir selbst habe, und die Gott mir erweist. So kann ich mit Paulus sprechen: Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat.

Amen.

Liedvorschlag:
EG 355 Mir ist Erbarmung widerfahren

 

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1
So sinngemäß die Präses der Ev. Kirche von Westfalen, Annette Kurschus, bei ihrem Besuch im Pfarrkonvent Dortmund am 1.6.2016.
2So sinngemäß Lufthansa-Cpt. Robert Schneider bei seinem Vortrag am 30.5.2016 in Dortmund.


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Pfarrer Michael Nitzke
Ev. Philippus-Kirchengemeinde Dortmund