Ein Traum von Kirche: Gutes Leben für alle - Predigt zu Apostelgeschichte 2,41-47 von Olaf Waßmuth
2,41-47

Liebe Gemeinde,

der Urlaub regt die Phantasie an.* Meine jedenfalls. Da lässt man ein wenig die Gedanken baumeln: Wie könnte das Leben aussehen, wenn ich nicht mehr ständig zur Arbeit müsste? Wenn ich 24 Stunden zur freien Verfügung hätte, jeden Tag? Wenn ich täglich diesen wunderbaren Blick auf den See (/das Meer) oder auf die Berge hätte? Wenn – statt gelegentlich mal – meistens oder immer die Sonne schiene? Wäre das nicht herrlich? 

Vielleicht gehören Sie auch zu denen, die im Urlaub spinnige Ideen bekommen übers Auswandern oder wenigstens darüber, einen Camper oder eine Ferienwohnung zu kaufen. (Vielleicht gehören Sie sogar zu denen, die genau das längst getan haben und heute deshalb hier sind...)

Die Urlaub regt zur Phantasie an – über das gute Leben. Zum Träumen von einer Welt, in der es anders zugeht als in der, die wir täglich erleben. Von der Zeitung und Tagesschau berichten.

Der Traum vom guten Leben, von einer anderen Welt – er begegnet uns an diesem sommerlichen Sonntag im Predigttext.

Die Zeilen, die ich Ihnen gleich vorlese, stammen aus der Apostelgeschichte im Neuen Testament. Sie erzählen von den Anfängen der Kirche, von dem, was nach Pfingsten geschah, damals in Jerusalem, als Gottes Geist über die Jünger Jesu kam. Der Jünger Petrus spricht vom Geist erfüllt zu der Menge – und daraus entsteht eine unglaubliche Bewegung. (Apostelgeschichte 2,41-47:)

41Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen; und an diesem Tage wurden hinzugefügt etwa dreitausend Menschen.
42Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. 43Es kam aber Furcht über alle, und es geschahen viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. 44Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam.
45Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. 46Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen 47und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk.
Der Herr fügte aber täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.

Liebe Gemeinde,

über diesen Abschnitt aus der Apostelgeschichte kann man staunen: Wie wunderbar ist das! Massenweise treten Menschen in die Kirche ein ( – nicht aus…). Weil die Botschaft überzeugt. Aber auch – und vielleicht besonders –, weil das Miteinander überzeugt: Weil in der ersten Gemeinde keiner am Rand steht. Weil dort keiner zu wenig hat. Alles wird geteilt, die Gottes-Weisheit, Freude und Leid und sogar der materielle Besitz. Eine Gemeinschaft, die zusammenhält und zugleich nach außen wirkt. Kirche als Alternativmodell, als Stück heile Welt.

Über diesen biblischen Abschnitt kann man aber auch die Stirn runzeln. Sollte das wirklich so gewesen sein? Ist das nicht zu schön, um wahr zu sein? Und kennt man nicht die diversen Experimente in der Weltgeschichte, in denen ein solches Zusammenleben grausam misslungen ist? Man denke nur an liberté, fraternité und égalité in der Französischen Revolution, die in die Brutalität umkippte. Oder an den real existierenden Sozialismus, der in repressiven Diktaturen endete.

Kann denn Kirche perfekter sein als die Welt? Hier ließen sich, Gott sei es geklagt, auch ganz schnell Gegenbeispiele finden.

Und trotzdem ist das ein richtungsweisender Text.

Für mich hat er den Charakter einer Vision. So ähnlich wie die Wunder Jesu in den Evangelien beschreibt er eine neue Wirklichkeit, die sich nicht machen lässt, sondern Gegenstand der Hoffnung ist. Das Reich Gottes ist nahe gekommen, sagt Jesus, und wirkt Zeichen dafür, was das bedeutet: Krankheit, Ausgrenzung und Tod enden.

Das Reich Gottes ist nahe gekommen – diese Botschaft wird von den Jüngerinnen und Jüngern nach Ostern weitergetragen. Und dabei verwirklichen sie zeichenhaft, was damit gemeint ist: ein Miteinander, bei dem keiner zu kurz kommt; Gerechtigkeit und Respekt für alle. Das Zusammenleben der ersten Gemeinde ist ein Wunder.

Immer wieder hat es in der Kirchengeschichte Phasen gegeben, in denen Menschen von diesem Anfang auf die ein oder andere Weise inspiriert wurden, es einfach zu probieren: anders zu leben als die anderen. Anders mit Besitz umzugehen; Gemeinschaft intensiver und verbindlicher zu verwirklichen. In Klöstern. Oder auch in Familienkommunitäten. Für ein ganzes Leben. Und manchmal nur auf Zeit. Solche Gemeinschaften sind für mich Leuchttürme, die die Kirche braucht. Es sind Zeichen und Wunder, die Gottes Geist wirkt.

Wir alle, die meisten von uns zumindest, sind Teil einer zutiefst verbürgerlichten Kirche. Wir leben eigene, private Leben. Und wir können und wollen daran wahrscheinlich auch so schnell nichts ändern. Dafür gibt es tausend praktische Gründe.

Und doch stellt diese Geschichte vom Anfang der Kirche immer wieder unsere Phantasien von einem guten Leben in Frage.

Wenn ich vom guten Leben träume, dann denke ich meistens an mich selbst. Und nur an mich selbst. Ich denke darüber nach, wie ICH es noch ein Stück bequemer, entspannter, wärmer und sonniger haben könnte. Ich denke nach über weniger Arbeit, weniger Stress, mehr Freiheit und Ruhe. Es sind Träume vom Typ „Schlaraffenland“.

Damit bin ich nicht allein. Wenn unsere Gesellschaft sich in die Zukunft träumt, dann geht es fast immer um neue Techniken – für unsere Energiesicherheit, für Mobilität, für Wohlstand und Wachstum, weniger Krankheit, ein höheres Alter. Es werden gigantische Summen investiert, um Innovationen zu entwickeln, die für die Einzelnen ein längeres und bequemeres Leben ermöglichen. Und das ist ja auch richtig so.

Aber ist das schon „das gute Leben“?

Aus biblischer Sicht hat das gute Leben etwas mit dem gelungenen Miteinander von Menschen zu tun. Damit, wie sie kommunizieren. Wie sie sich respektieren und achten. Wie sie aufeinander hören. Wie sie teilen, was jeder braucht. Gutes Leben heißt immer auch Gerechtigkeit und Fairness. Das Reich Gottes ist kein Schlaraffenland.

Warum kommt das in meinen Phantasien vom guten Leben so wenig vor? Warum wird für diese Dimension von Zukunft eigentlich so wenig Geld ausgegeben, so wenig geforscht? Warum träumen so viele Menschen von selbstfahrenden Autos, von smarten Häusern und künstlicher Intelligenz? Warum träumen sie so selten von flachen Hierarchien, geringen Einkommensunterschieden, funktionierenden Netzwerken, vom Ende der Armut und der Ausgrenzung von Menschen?

Aus biblischer Sicht ist das das Zeichen einer fundamentalen Geistlosigkeit. Denn seit Pfingsten stiftet der Geist Gottes Menschen dazu an, ihr Miteinander zu erneuern. Dort erfinderisch und innovativ zu sein. Wo Gottes Geist wirkt, gibt es gutes Leben nur als gutes Leben für alle.

Zur Erinnerung daran brauche ich die Gemeinschaft der Kirche.

Nicht die Kirche als perfekte Gesellschaft. Die gibt es, wie man nüchtern zugeben muss, ebenso wenig wie die anderen perfekten Gesellschaften, die Menschen zu errichten versucht haben.

Nein, ich brauche die Kirche als Ort für ein exemplarisches, zeichenhaftes Miteinander. Als Raum, in dem man anders miteinander umgeht als sonst. Wo man andere aushält, die anders sind als man selbst. Wo man immer wieder teilt, was man hat, an Besitz und an Gaben. Wo man hört auf die alten Geschichten und Träume, auf die Worte der Apostel und Propheten. Wo man miteinander feiert und im Namen Jesu das Brot teilt. Wo die Beziehung zu Gott Gestalt gewinnt im Gebet.

Es sind diese elementaren Dinge, die die Kirche zur Kirche machen. Ohne die christlicher Glaube gar nicht vorstellbar ist.

Für Kritik an der real existierenden Kirche gibt es viele Gründe. Wer wüsste das besser als jemand, der schon ziemlich lange dort arbeitet. Diese Kirche hat Strukturen und Institutionen ausgebildet, auf die man verzichten kann und irgendwann vermutlich verzichten muss. Aber auf die Kirche als Gemeinschaft, in der das gute Leben gemeinsam erprobt wird, können wir nicht verzichten.

Die vielen klugen und freundlichen Menschen, die mir als Pfarrer erklären, dass sie für ihr Christsein die Kirche nicht brauchen, frage ich darum oft, wie sie damit umgehen, dass christlicher Glaube keine individuelle Weltanschauung ist. Sondern eine Vision von einem guten Leben für alle, von einem veränderten Miteinander. Wo kommt das in Deinem Glauben vor? (Und wenn Du Glaube als eine Art persönliche Lebenseinstellung definierst – wo kommt es vor, dass unsere Haltungen und Werte sich vor allem im Gegenüber zu anderen Menschen bilden – und nicht im stillen Kämmerlein?).

In einem Gottesdienst wie diesem wird das, was christliche Gemeinschaft ausmacht, zeichenhaft verwirklicht: das Miteinander von Menschen verschiedener Herkunft, das Hören auf die Botschaft der Bibel, das Brotbrechen und Feiern im Abendmahl, das Gebet in ganz verschiedenen Tonlagen und – wenigstens ansatzweise, in der Kollekte – auch das Teilen von Besitz.

Darum ist jeder Gottesdienst ein kleiner Anfang, ein Echo von diesem großen Anfang zu Pfingsten in Jerusalem, und vielleicht auch: ein kleines Wunder, das an dem großen Wunder der Kirche Anteil hat.

Mit diesem Gottesdienst wird der Traum von einem guten Leben für alle ein Teil Ihres Urlaubs – oder, falls Sie nicht im Urlaub sind, einfach ein Teil dieser neuen Woche. Nehmen Sie diesen Traum mit. Lassen Sie sich davon inspirieren, weiter zu denken: Was heißt gutes Leben für Sie? Und wo kommen die anderen Menschen vor, mit denen Sie Ihr Leben, Ihr Gemeinwesen und am Ende diesen Planeten teilen? Wie wird Ihr Traum vom guten Leben ein Traum vom guten Leben für alle?

Ich wünsche Ihnen einen traumhaften Urlaub/eine traumhafte Woche – und dass Sie das beständige Flüstern des Heiligen Geistes darin hören können!

Amen.

 

* Die vorliegende Predigt wird im Rahmen der deutschsprachigen Urlaubsseelsorge in einem Ferienort am Gardasee gehalten.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Dr. Olaf Waßmuth

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die vorliegende Predigt halte ich nicht „zu Hause“, sondern im Rahmen der deutschsprachigen Urlaubsseelsorge in einem Ferienort am Gardasee. Ich kenne die Gemeinde noch nicht (zumal sie ständig wechselt!), weiß aber, dass es dort Kurzzeit-Urlauber:innen und Teilresidente gibt.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
„Gutes Leben“ ist für mich das Stichwort, das die Urlaubssituation und das Anliegen des christlichen Glaubens verbindet. Das Leitwort sprang mir aus dem Predigttext durchaus entgegen – ich habe ihn darum nicht auf das Thema Abendmahl zugespitzt, das im Zentrum des Propriums steht. (Leider ist aus technischen Gründen an diesem Sonntag auch kein Abendmahl möglich).

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Frage, ob es so gewesen ist – ob der urchristliche Liebeskommunismus also historisch war – ist mir unwichtiger geworden. Im Text ist von den vielen Zeichen und Wundern der Apostel die Rede. Ich verstehe die radikale Gemeinschaft der ersten Christ:innen als ein (zeitlich beschränktes) Wunder, das wie die Wunder Jesu zeichenhaft auf Gottes Reich hinweist.

Perikope