Eine andere Gemeinschaft - Predigt zu Mk 10,35-45 von Elisabeth Rauh
10,35-45

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt.
Heute, am Sonntag Judika, hören wir als Predigttext Worte aus dem Markusevangelium:

35Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen zu ihm: Meister, wir wollen, dass du für uns tust, was wir dich bitten werden. 36Er sprach zu ihnen: Was wollt ihr, dass ich für euch tue? 37Sie sprachen zu ihm: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. 38Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? 39Sie sprachen zu ihm: Ja, das können wir. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; 40zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das zu geben steht mir nicht zu, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist. 41Und als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes. 42Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. 43Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; 44und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. 45Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.

 

Wir haben es uns doch verdient!

Liebe Gemeinde,

da gingen zu Jesus zwei gute Christenmenschen aus der evangelischen Kirche und sprachen zu ihm:
Bitte, Jesus. Das kannst du doch nicht ablehnen. Wir haben doch alles getan, sieh her: Wir sind auf die Antikriegsdemo gegangen. Wir haben Petitionen geschrieben. Wir haben Kleidung und Windeln gespendet. Wir haben uns auf die Liste eingetragen, um Flüchtlinge zu unterstützen.
Wir haben Energie gespart. Wir haben Bio-Lebensmittel eingekauft und überhaupt essen wir nur noch ganz wenig Fleisch. Wir haben uns ein Elektroauto gekauft. Wir sind beim Klimastreik mitgelaufen.
Wir haben der Nachbarin, die in Quarantäne war, Einkäufe gebracht. Wir haben unsere Masken immer getragen. Wir sind geduldig zuhause geblieben, haben Tests gemacht, haben uns impfen lassen, zeigen jedem das Zertifikat vor.
Wir sind gegen Sexismus am Arbeitsplatz. Wir verwenden inklusive Sprache. Wir gehen Diskussionen nicht aus dem Weg.
Wir haben hierarchische Strukturen in unserer Kirche beseitigt. Wir sind alle Brüder und Schwestern, wir haben Gremien, Quoten, Beschwerdestellen. Wir sind herrschaftskritisch, demütig und selbstreflektiert.
Also, bitte, Jesus: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. Wir haben es uns doch verdient. Das kannst du doch nicht ablehnen.

 

Jakobus und Johannes als gute Christenmenschen

Liebe Gemeinde, stellt euch Jakobus und Johannes als gute Christenmenschen vor.
Die beiden sind treue Nachfolger Jesu von Anfang an. „Die Donnersöhne“ hat Jesus die Brüder genannt. Die Gleichnisse, die Jesus erzählt, und die Wunder, die er vollbracht hat, haben sie begeistert. Mit großem Eifer haben sie alles zurückgelassen, was ihnen lieb war. Jesu Bewegung der Gerechtigkeit und Liebe hat sie in ihren Bann gezogen. Ihr Glaube an das Gute hat an Kraft gewonnen.
Schon einmal, vor gar nicht langer Zeit, haben die beiden erlebt, dass sie bei Jesus eine besondere Position hatten: Das eine Mal, als Jesus sie mit Petrus auf den Berg geführt hatte, als das Weiß ihre Augen blendete, Elija und Mose auftraten und eine Stimme von oben her sagte: „Dies ist mein geliebter Sohn! Hört auf ihn!“
Ihr Versprechen, niemandem von dem Erlebten zu erzählen, haben sie eingehalten; aber es beschäftigt sie sehr. Wie wird es sein, wenn das Reich Gottes kommt? Und es muss doch etwas bedeuten, dass Petrus und sie beide die einzigen waren, die das miterlebt haben?
Die Plätze rechts und links direkt neben Jesus, am Tisch in seiner Herrlichkeit, scheinen ihnen genau angemessen für die Treue, den Eifer und die Opferbereitschaft, die sie für Jesus aufbringen. Sie wollen ganz nah bei Jesus sein. Das kann er doch nicht ablehnen.

 

Auf der richtigen Seite stehen

Liebe Gemeinde, wann war es je so einfach wie heute, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen? Hier die Guten, dort die Bösen. Glasklar scheint es in dieser weltpolitischen Lage und bis auf wenige an den politischen Rändern sind sich alle einig: Putin, das ist so einer, der als Herrscher gilt, der sein Volk niederhält, ein Mächtiger, der ihnen Gewalt antut. Der in der Ukraine Krankenhäuser und Kindergärten bombardiert. Der keine freie Meinungsäußerung in seinem Land zulässt und Kinder ebenso wie Alte verhaften lässt, wenn sie das Selbstverständliche öffentlich äußern: Nein zum Krieg!
Und auf der anderen Seite der ukrainische Präsident Selenskyj: Er bringt nicht sich selbst in Sicherheit, sondern kämpft mitten unter den Ukrainer*innen um sein Land. Zu sehen ist er in seinen Videobotschaften nur noch in Armeekleidung, er strahlt dabei Entschlossenheit, Zuversicht und Tapferkeit aus.
So sieht keiner aus, der herrscht und tyrannisiert. Sondern eher einer, der seinen Leuten dient. Ein „Diener des Volkes“, wie in der Fernsehserie, durch die er berühmt wurde. Der sich selbst aufopfert für das Gute. Ein Held, der sein Leben aufs Spiel setzt.
Kaum je war es scheinbar so einfach, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Hier die Guten, dort die Bösen.

 

Ein Herzenstext

Es ist wirklich ein Herzenstext von mir, der heute zu predigen ist. Mich inspiriert es, wie Jesus die Jünger auffordert, eine andere Gemeinschaft zu leben. Herrschaftsverhältnisse sind nicht gottgegeben. So ist es unter euch nicht: Der Dienst an der Gemeinschaft ist das, was sie strukturieren soll.

Ich mag den Text. Das ist riskant. Denn wenn ich ihn zu leicht nehme, missbrauche ich ihn, um mich zu vergewissern, dass ich auf der richtigen Seite stehe. Ich ziehe ihn dann heran, um auf andere zeigen zu können.
Ich mag den Text. Wenn ich mich ihm stelle, dann weigert er sich, mich zu vergewissern. Sondern er mahnt: Zeigst du mit einem Finger auf andere, zeigen drei auf dich. Sei dir nicht zu sicher.

Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. So ist es unter euch nicht. Ich bin skeptisch gegenüber jedem Heldenkult. Selbst wenn es um den, wie ich ausdrücklich finde, tapferen Selenskyj geht. Die Realität ist keine Fernsehserie, kein Comic, kein Theaterstück. Die Akteure sind keine Idealtypen, die irgendwelche Charakterzüge verkörpern. Es sind echte Menschen, widersprüchlich, ambivalent, beeinflussbar, bestechlich. Selbst wenn sie Gutes wollen, schaffen sie auch Böses.

 

Eine andere Gemeinschaft

Jesus sagt: Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.

Wie sieht dann eine Gemeinschaft aus, die nach dem Wort Jesu lebt?
Es gibt in ihr keine Herrschaft, sondern alle sind gleichermaßen an Entscheidungen beteiligt. Es gibt kein Oben und kein Unten. Alle achten aufeinander und unterstützen sich gegenseitig. Die Glieder sorgen einträchtig füreinander. Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; und wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle Glieder mit. (1Kor 12,25f) So wird an anderer Stelle in der Bibel die ideale Gemeinschaft beschrieben.
Aber die Erfahrung sagt: Jede Gemeinschaft muss sich irgendwie organisieren. Das gilt für Städte und Dörfer, für Sportvereine oder für Kirchengemeinden. Selbst die kleinste Arbeitsgruppe, der kleinste Hauskreis braucht eine Struktur, wie Aufgaben und Verantwortlichkeiten verteilt sind. Leitung ist also eine Notwendigkeit. Leitung bedeutet aber auch Macht. Und weil Menschen widersprüchlich, ambivalent, beeinflussbar und bestechlich sind, kann Macht immer missbraucht werden.
Es hat keinen Sinn, so zu tun, als gäbe es in einer Gemeinschaft keine Macht. Vielmehr geschieht der schlimmste Machtmissbrauch häufig dort, wo die Mächtigen so tun, als seien sie Diener. Vorsicht vor dem Herrschen, welches sich als Dienen tarnt!
Die ideale, herrschaftsfreie Gemeinschaft ist ein Ideal, keine Realität. Aber sie sich vorzustellen, gibt die Richtung vor für das Gestalten und Kontrollieren von Macht: Leitung muss der Gemeinschaft dienen.

 

Checkt ihr’s nicht?

Liebe Gemeinde, das Markusevangelium ist voll von Szenen, in denen man den Jüngern, wenn Jesus es nicht schon selbst sagt, zurufen möchte: Checkt ihr’s nicht?
Anders als die Jünger, die Jesu Ankündigungen nicht glauben wollen, kennen wir Christ*innen den Ausgang der Geschichte: Jesus wird gekreuzigt. Und dieses Schicksal scheint an all diesen Stellen durch. Hier auch. Für den Evangelisten Markus ist die Kreuzigung der Schlüssel zum Verstehen der Jesusgeschichte.
Ostern wird es nicht ohne den Karfreitag. Und die Herrlichkeit des Christus gibt es nicht ohne das Kreuz. Die Worte Jesu im Markusevangelium deuten darauf immer wieder hin. Das ist für die Jünger Jesu nicht zu verstehen. Sie haben noch nicht gesehen, wie Jesus am Kreuz stirbt, und noch nicht die Auferstehungsbotschaft gehört.
Aber auch für uns ist es schwer zu begreifen. Gott durchkreuzt unsere Vorstellungen von Hoheit und Niedrigkeit, unsere Erwartungen von Frieden, Herrlichkeit, Erlösung.
Gottes Herrlichkeit ist dort zu entdecken, wo die Jünger, wo wir sie am wenigsten erwarten: In der Erniedrigung, in der Verfolgung, Folter und Hinrichtung Jesu. In seinem Leiden, stellvertretend für alles Leiden der Welt. Da zeigt Gott, wem seine Herrlichkeit verheißen ist.

 

Das gute Leben für alle

Gute Christenmenschen sein, das ist etwas Großartiges. Dazu sind wir berufen. Aber es ist nicht das Ticket in die Herrlichkeit Gottes. Der Gott, der sich ans Kreuz nageln lässt, folgt nicht dieser menschlichen Logik von Leistung und Belohnung.

Wenn ich trotzdem weiter zu Antikriegsdemos gehe, meine Maske trage, Menschen helfe, gegen Hierarchien anrenne, dann einfach deshalb, weil es richtig ist. Weil mein Glaube mir einen Kompass gibt, der heißt: das gute Leben für alle. Und das reicht als Begründung völlig aus. Es geht niemals darum, mir bei Gott etwas zu verdienen.
Ich glaube aber, dass Segen darauf liegt, nach diesem Kompass zu handeln. Im besten Fall wird ein Strahl von Gottes Herrlichkeit spürbar, wie ein erster warmer Frühlingssonnenstrahl.

Jesus Christus sagt: Der Menschensohn ist gekommen, dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele. Ich glaube fest daran: Am Tisch in Gottes Herrlichkeit wird am Ende rechts und links genug Platz für alle sein.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Elisabeth März

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ein Sonntagabendgottesdienst in der Evangelischen Studierendengemeinde. Die Gottesdienstgemeinde ist gemischt aus kritisch-protestantischen, skeptisch-distanzierten, engagierten und Gemeinschaft suchenden Studierenden und jungen Erwachsenen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt und zugleich gehemmt hat mich der unmittelbare Eindruck des Kriegsausbruchs in der Ukraine. Die Zuordnungen schienen allzu eindeutig.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Besonders beschäftigt hat mich das Gegenüber von Herrschen und Dienen. Gerade in der Kirche wird Herrschen zuweilen als Dienen verschleiert. Ich sehe mich aufgefordert, weiterhin wachsam und selbstkritisch auf (kirchliche) Strukturen zu schauen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Den Rauswurf eines zwar aufwändig erstellten, aber letztlich nur selbstdarstellerischen Abschnitts über Hegel.

Perikope
03.04.2022
10,35-45