Eine christliche Exodusgeschichte - Predigt über Apostelgeschichte 12, 1-12 von Matthias Wolfes
12,1
Eine christliche Exodusgeschichte
„Um diese Zeit legte der König Herodes die Hände an etliche von der Gemeinde, sie zu peinigen. Er tötete aber Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert. Und da er sah, daß es den Juden gefiel, fuhr er fort und fing Petrus auch. Es waren aber eben die Tage der süßen Brote. Da er ihn nun griff, legte er ihn ins Gefängnis und überantwortete ihn vier Rotten, je von vier Kriegsknechten, ihn zu bewahren, und gedachte, ihn nach Ostern dem Volk vorzustellen. Und Petrus ward zwar im Gefängnis gehalten; aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott. Und da ihn Herodes wollte vorstellen, in derselben Nacht schlief Petrus zwischen zwei Kriegsknechten, gebunden mit zwei Ketten, und die Hüter vor der Tür hüteten das Gefängnis.
Und siehe, der Engel des HERRN kam daher, und ein Licht schien in dem Gemach; und er schlug Petrus an die Seite und weckte ihn und sprach: Stehe behende auf! Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen. Und der Engel sprach zu ihm: Gürte dich und tu deine Schuhe an! Und er tat also. Und er sprach zu ihm: Wirf deinen Mantel um dich und folge mir nach!
Und er ging hinaus und folgte ihm und wußte nicht, daß ihm wahrhaftig solches geschähe durch den Engel; sondern es deuchte ihn, er sähe ein Gesicht. Sie gingen aber durch die erste und andere Hut und kamen zu der eisernen Tür, welche zur Stadt führt; die tat sich ihnen von selber auf. Und sie traten hinaus und gingen hin eine Gasse lang; und alsobald schied der Engel von ihm. Und da Petrus zu sich selber kam, sprach er: Nun weiß ich wahrhaftig, daß der HERR seinen Engel gesandt hat und mich errettet aus der Hand des Herodes und von allen Warten des jüdischen Volkes [Gute Nachricht 2000: was das jüdische Volk sich erhofft hat].
Und als er sich besann, kam er vor das Haus Marias, der Mutter des Johannes, der mit dem Zunamen Markus hieß, da viele beieinander waren und beteten. Als aber Petrus an die Tür des Tores klopfte, trat hervor eine Magd, zu horchen, mit Namen Rhode. Und als sie des Petrus Stimme erkannte, tat sie das Tor nicht auf vor Freuden, lief aber hinein und verkündigte es ihnen, Petrus stünde vor dem Tor. Sie aber sprachen zu ihr: Du bist unsinnig. Sie aber bestand darauf, es wäre also. Sie sprachen: Es ist sein Engel. Petrus klopfte weiter an. Da sie aber auftaten, sahen sie ihn und entsetzten sich. Er aber winkte ihnen mit der Hand, zu schweigen, und erzählte ihnen, wie ihn der HERR hatte aus dem Gefängnis geführt, und sprach: Verkündiget dies Jakobus und den Brüdern. Und ging hinaus und zog an einen andern Ort.“ [Lutherbibel 1912]
Liebe Gemeinde,
vor einigen Jahren haben wir für den Gemeindebrief eine kleine Artikelreihe begonnen, in der es um die „Nebengestalten“ im Neuen Testament ging. Da war die Rede von Joseph von Arimathäa, in dessen Grabstätte Jesu Leichnam beigesetzt wurde, von Malchus, dem Soldaten, oder dem Pharisäer Nikodemus. Gut in Erinnerung ist mir auch noch der Beitrag über Rhode. Nennt man ihren Namen und erwähnt, sie sei eine neutestamentliche Person, dann werden wohl nur die wenigsten etwas damit verbinden. Dabei sind sowohl die Geschehnisse als auch das Verhalten recht beachtlich. Lassen Sie uns also den Ausgangspunkt bei ihr nehmen.
Rhode ist die Magd im Haushalt der Maria, der Mutter des Johannes Markus. Nähere Angaben haben wir nicht. In diesem Haus waren viele aus der Gemeinde versammelt. In inständigem Gebet bitten sie Gott um die Befreiung des Petrus. Nachdem einige Zeit zuvor Jakobus, ein anderer Jünger, auf Veranlassung des Königs Herodes festgenommen, gefoltert und getötet worden war, mußte man auch für Petrus das Schlimmste befürchten. In welcher Bedrängnis die Gemeinde angesichts der Nachricht von der Verhaftung gerade dieses Apostels versetzt worden ist, können wir uns nicht vorstellen. Eine Rolle spielte dabei sicher auch die besondere Bedeutung, die Petrus im Jünger- und Apostelkreis Jesu hatte. Vor allem aber war die Situation der Gemeinde eben ganz anders: Der erste Satz unseres Abschnittes lautet: „Um diese Zeit legte der König Herodes die Hände an etliche von der Gemeinde, sie zu peinigen.“ Das ist die schreckliche Realität jener kleinen Gruppe gewesen; Christ-Sein schloß die Gefahr des Martyriums ein. Auch heute und bei uns können die „Herrscher“ gewissenlos und brutal sein, aber der Griff zur Waffe, um uns zu foltern und zu ermorden, ist ihnen bei uns doch verwehrt.
Nun ist der Auftritt jener Rhode tatsächlich nur ein Seitenstück im Ganzen des Abschnittes. Ihre Fassungslosigkeit soll eben das Außerordentliche des Geschehens herausstellen. Die Frau wird zum Spiegel aller anderen, deren Reaktionen gleichfalls außerhalb des Normalen liegen. Entsetzen breitet sich aus, was wohl kaum der von Petrus erwünschte Effekt ist. Und dann dieses unwirsche „Winken mit der Hand“, damit sie schweigen. Das wirkt nicht echt. Ohnehin fragt man sich, ob diese Szene wirklich den Abschluß der Geschichte von der Befreiung aus dem Gefängnis bilden muß. Das Erscheinen des Petrus im Haus erinnert stark an Szenen des auferstandenen Jesus im Kreise der Jünger. Viel besser paßt jener stille Moment, wo Petrus und der Engel „eine Gasse entlanggehen“ und der Engel von Petrus scheidet. Da heißt es: „Und da Petrus zu sich selber kam, sprach er: Nun weiß ich wahrhaftig, daß der HERR seinen Engel gesandt hat und mich errettet.“
Es handelt sich bei unserer Geschichte um eine christliche Exodusgeschichte, den christlichen Exodus schlechthin. Zwei Formulierungen springen heraus. Zum einen, als es heißt: „Und da Petrus zu sich selber kam.“ Zum anderen, wo der Engel Petrus zum Aufbruch drängt, indem er sagt: „Stehe behende auf!“ Wörtlich heißt es: „Stehe schnell auf“ oder „Schnell, stehe auf!“; aber das altertümliche Wort „behende“ gibt uns einen entscheidenden Hinweis: Wer aufsteht, tut etwas. Er benutzt seine Hände. „Aufstehen“ geschieht nicht einfach mechanisch auf fremden Befehl; Petrus muß es selbst ausführen. Er ist selber verantwortlich, wenn auch die Kraft ihm von woanders her zuwächst. Beide Seiten wirken ineinander und aufeinander ein. Und was das „Zu sich selber kommen“ betrifft, so steht im griechischen Text einfach nur: „Er kam zu sich“. Die Verbindung mit dem Wort „Selbst“ trifft genau das, worum es geht: die Befreiung, die zugleich ein Aufstehen ist, ein Arbeiten und Zu-sich-kommen des Petrus zu sich selbst.
Es ist klar. daß wir es mit einer Legende zu tun haben. Ereignisse, wie sie hier geschildert werden, sind unmöglich. Aber das ist es ja gerade, was sie interessant macht. „Möglich“ oder „unmöglich“ – so kann nur messen, wer nicht begreift, worum es in einer Wundererzählung geht. Petrus wird aus schier auswegloser Lage befreit. Sein Leben ist aufs äußerste bedroht; die Existenz der Gemeinde gerät ins Wanken. Für den Erzähler steht mit beidem, dem individuellen Geschick des ersten Apostels und der Zukunft der Jerusalemer Gemeindegruppe, Wohl und Wehe des christlichen Glaubens überhaupt zur Disposition.
Mit der wunderbaren Errettung greift Gott selbst in den Ablauf der Ereignisse heilvoll ein. Er könnte wohl auch die Tore aufspringen machen und den Festgesetzten hinausspazieren lassen. Doch der Verfasser hat durchaus einen Sinn für Schönheit. Es geht nicht grob zu. Vielmehr kommt „der Engel des HERRN“. Kaum aber ist er da, so scheint schon ein Licht in den Kerker. Das sind nun die neuen Koordinaten. Gottes Engel ist jene Wirklichkeit Gottes, die in der Welt ist und doch nicht von ihr. Sie bezieht ihre Kraft aus einer anderen Stärke als sie Brot und Milch zu geben vermögen.
Die Befreiung selbst geschieht nicht ohne Mitwirkung des Befreiten. Petrus muß sich erheben, damit der Engel ihn mit sich führen kann. Es ist interessant, daß dieser Umstand ausdrücklich hervorgehoben wird, denn es heißt ja: „Und er ging hinaus und folgte dem Engel und wußte nicht, daß ihm wahrhaftig solches geschähe durch den Engel.“ Wie bedeutsam dieses „Erhebe dich!“ ist, wird jeder wissen, dem die bleierne Trägheit nicht fremd ist, wie sie in manchen bedrückenden Momenten auf einem lastet.
Nach Durchquerung der Hindernisse kommt dann der Moment des Erwachens. Hier spielt der Erzähler ein wenig mit uns. Denn zunächst wird berichtet, Petrus sei es vorgekommen, als walte bei dem ganzen „ein Gesicht“, das heißt: als träume er alles. Erst nachdem er und der Engel außerhalb des Gefängnisses ein Stück Weges gegangen sind und der himmlische Begleiter den Apostel verlassen hat, wird Petrus klar, daß alles wirklich geschehen ist. Er kommt zu sich und kann der Sache selbst ins Auge sehen.
Der Kern unserer Erzählung besteht in dem Aufstehen und Zu-sich-kommen des Menschen. Beides fällt ineinander. In der Geschichte wird es dargestellt als ein Akt, der der Anleitung, der Hilfe und Führung bedarf. Wir sind schlechterdings in unserer eigenen Welt gefangen. Es besteht nicht die geringste Chance daß wir uns vollständig aus den Verstrickungen befreien und entwinden könnten. Solche Hilfe leistet der Engel, ausgesandt von Gott.
Das ist es, was die Geschichte von der Herausführung des Petrus sagt. Man muß noch einmal betonen und alles Gewicht darauf legen: Es ist eine christliche Exodusgeschichte. Sie geht aus von dem „Stehe behende auf!“ Mit ihm gibt der Engel die Diagnose unseres Zustandes und macht uns klar, wie wir in Banden liegen. Unfreiheit bestimmt unser Wesen. Doch dabei bleibt es nicht. Vielmehr spricht der Engel im gleichen Wort auch die Zuversicht zu, daß wir uns unter seiner Anleitung eben doch bewegen, ins ungemessen Weite gelangen und frei werden können. Der Weg zu Gott, der Glaube und die Zuversicht an und zu ihm, ist der Weg in die Freiheit.
Auch der christliche Exodus ist eine Befreiung. Die Wahrheit Gottes ist der Mensch. Die Einsicht und Klarheit, die uns aus dem Glauben und Vertrauen an Gott erwächst, betrifft unser eigenes Wesen, die Art und Weise unseres Daseins. Wir kommen zu einer Einsicht in uns selbst. Aber der Sinn solcher Einsicht ist nicht das Versenken des Einsichtigen in sich, sondern der Weg der Freiheit. Ihr Sinn besteht in der Bewegung, die wir machen. Um es mit einem treffenden Satz aus Schönbergs Oper „Moses und Aron“ zu sagen: Der Ewige zeigt nicht sich selbst, „aber den Weg zu sich“.
Das christliche Leben ist genau diese Bewegung: Das ist der Gang des Lebens. So erfüllt sich auch an uns, was die Geschichte ganz zuletzt von Petrus bemerkt, daß er nämlich „an einen anderen Ort zog“.
Amen.
Herangezogene Medien:
Rudolf Pesch: Die Apostelgeschichte (Apg 1 – 12) (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament. Band V / 1), Zürich / Einsiedeln / Köln und Neukirchen / Vluyn 1986.
Arnold Schönberg: Moses und Aron. Oper in drei Akten. Textbuch, Mainz 1957 (das Zitat steht am Ende der fünften Szene des zweiten Aktes, von Aron in kritischer Absicht gegen Moses gesprochen).
„Um diese Zeit legte der König Herodes die Hände an etliche von der Gemeinde, sie zu peinigen. Er tötete aber Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert. Und da er sah, daß es den Juden gefiel, fuhr er fort und fing Petrus auch. Es waren aber eben die Tage der süßen Brote. Da er ihn nun griff, legte er ihn ins Gefängnis und überantwortete ihn vier Rotten, je von vier Kriegsknechten, ihn zu bewahren, und gedachte, ihn nach Ostern dem Volk vorzustellen. Und Petrus ward zwar im Gefängnis gehalten; aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott. Und da ihn Herodes wollte vorstellen, in derselben Nacht schlief Petrus zwischen zwei Kriegsknechten, gebunden mit zwei Ketten, und die Hüter vor der Tür hüteten das Gefängnis.
Und siehe, der Engel des HERRN kam daher, und ein Licht schien in dem Gemach; und er schlug Petrus an die Seite und weckte ihn und sprach: Stehe behende auf! Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen. Und der Engel sprach zu ihm: Gürte dich und tu deine Schuhe an! Und er tat also. Und er sprach zu ihm: Wirf deinen Mantel um dich und folge mir nach!
Und er ging hinaus und folgte ihm und wußte nicht, daß ihm wahrhaftig solches geschähe durch den Engel; sondern es deuchte ihn, er sähe ein Gesicht. Sie gingen aber durch die erste und andere Hut und kamen zu der eisernen Tür, welche zur Stadt führt; die tat sich ihnen von selber auf. Und sie traten hinaus und gingen hin eine Gasse lang; und alsobald schied der Engel von ihm. Und da Petrus zu sich selber kam, sprach er: Nun weiß ich wahrhaftig, daß der HERR seinen Engel gesandt hat und mich errettet aus der Hand des Herodes und von allen Warten des jüdischen Volkes [Gute Nachricht 2000: was das jüdische Volk sich erhofft hat].
Und als er sich besann, kam er vor das Haus Marias, der Mutter des Johannes, der mit dem Zunamen Markus hieß, da viele beieinander waren und beteten. Als aber Petrus an die Tür des Tores klopfte, trat hervor eine Magd, zu horchen, mit Namen Rhode. Und als sie des Petrus Stimme erkannte, tat sie das Tor nicht auf vor Freuden, lief aber hinein und verkündigte es ihnen, Petrus stünde vor dem Tor. Sie aber sprachen zu ihr: Du bist unsinnig. Sie aber bestand darauf, es wäre also. Sie sprachen: Es ist sein Engel. Petrus klopfte weiter an. Da sie aber auftaten, sahen sie ihn und entsetzten sich. Er aber winkte ihnen mit der Hand, zu schweigen, und erzählte ihnen, wie ihn der HERR hatte aus dem Gefängnis geführt, und sprach: Verkündiget dies Jakobus und den Brüdern. Und ging hinaus und zog an einen andern Ort.“ [Lutherbibel 1912]
Liebe Gemeinde,
vor einigen Jahren haben wir für den Gemeindebrief eine kleine Artikelreihe begonnen, in der es um die „Nebengestalten“ im Neuen Testament ging. Da war die Rede von Joseph von Arimathäa, in dessen Grabstätte Jesu Leichnam beigesetzt wurde, von Malchus, dem Soldaten, oder dem Pharisäer Nikodemus. Gut in Erinnerung ist mir auch noch der Beitrag über Rhode. Nennt man ihren Namen und erwähnt, sie sei eine neutestamentliche Person, dann werden wohl nur die wenigsten etwas damit verbinden. Dabei sind sowohl die Geschehnisse als auch das Verhalten recht beachtlich. Lassen Sie uns also den Ausgangspunkt bei ihr nehmen.
Rhode ist die Magd im Haushalt der Maria, der Mutter des Johannes Markus. Nähere Angaben haben wir nicht. In diesem Haus waren viele aus der Gemeinde versammelt. In inständigem Gebet bitten sie Gott um die Befreiung des Petrus. Nachdem einige Zeit zuvor Jakobus, ein anderer Jünger, auf Veranlassung des Königs Herodes festgenommen, gefoltert und getötet worden war, mußte man auch für Petrus das Schlimmste befürchten. In welcher Bedrängnis die Gemeinde angesichts der Nachricht von der Verhaftung gerade dieses Apostels versetzt worden ist, können wir uns nicht vorstellen. Eine Rolle spielte dabei sicher auch die besondere Bedeutung, die Petrus im Jünger- und Apostelkreis Jesu hatte. Vor allem aber war die Situation der Gemeinde eben ganz anders: Der erste Satz unseres Abschnittes lautet: „Um diese Zeit legte der König Herodes die Hände an etliche von der Gemeinde, sie zu peinigen.“ Das ist die schreckliche Realität jener kleinen Gruppe gewesen; Christ-Sein schloß die Gefahr des Martyriums ein. Auch heute und bei uns können die „Herrscher“ gewissenlos und brutal sein, aber der Griff zur Waffe, um uns zu foltern und zu ermorden, ist ihnen bei uns doch verwehrt.
Nun ist der Auftritt jener Rhode tatsächlich nur ein Seitenstück im Ganzen des Abschnittes. Ihre Fassungslosigkeit soll eben das Außerordentliche des Geschehens herausstellen. Die Frau wird zum Spiegel aller anderen, deren Reaktionen gleichfalls außerhalb des Normalen liegen. Entsetzen breitet sich aus, was wohl kaum der von Petrus erwünschte Effekt ist. Und dann dieses unwirsche „Winken mit der Hand“, damit sie schweigen. Das wirkt nicht echt. Ohnehin fragt man sich, ob diese Szene wirklich den Abschluß der Geschichte von der Befreiung aus dem Gefängnis bilden muß. Das Erscheinen des Petrus im Haus erinnert stark an Szenen des auferstandenen Jesus im Kreise der Jünger. Viel besser paßt jener stille Moment, wo Petrus und der Engel „eine Gasse entlanggehen“ und der Engel von Petrus scheidet. Da heißt es: „Und da Petrus zu sich selber kam, sprach er: Nun weiß ich wahrhaftig, daß der HERR seinen Engel gesandt hat und mich errettet.“
Es handelt sich bei unserer Geschichte um eine christliche Exodusgeschichte, den christlichen Exodus schlechthin. Zwei Formulierungen springen heraus. Zum einen, als es heißt: „Und da Petrus zu sich selber kam.“ Zum anderen, wo der Engel Petrus zum Aufbruch drängt, indem er sagt: „Stehe behende auf!“ Wörtlich heißt es: „Stehe schnell auf“ oder „Schnell, stehe auf!“; aber das altertümliche Wort „behende“ gibt uns einen entscheidenden Hinweis: Wer aufsteht, tut etwas. Er benutzt seine Hände. „Aufstehen“ geschieht nicht einfach mechanisch auf fremden Befehl; Petrus muß es selbst ausführen. Er ist selber verantwortlich, wenn auch die Kraft ihm von woanders her zuwächst. Beide Seiten wirken ineinander und aufeinander ein. Und was das „Zu sich selber kommen“ betrifft, so steht im griechischen Text einfach nur: „Er kam zu sich“. Die Verbindung mit dem Wort „Selbst“ trifft genau das, worum es geht: die Befreiung, die zugleich ein Aufstehen ist, ein Arbeiten und Zu-sich-kommen des Petrus zu sich selbst.
Es ist klar. daß wir es mit einer Legende zu tun haben. Ereignisse, wie sie hier geschildert werden, sind unmöglich. Aber das ist es ja gerade, was sie interessant macht. „Möglich“ oder „unmöglich“ – so kann nur messen, wer nicht begreift, worum es in einer Wundererzählung geht. Petrus wird aus schier auswegloser Lage befreit. Sein Leben ist aufs äußerste bedroht; die Existenz der Gemeinde gerät ins Wanken. Für den Erzähler steht mit beidem, dem individuellen Geschick des ersten Apostels und der Zukunft der Jerusalemer Gemeindegruppe, Wohl und Wehe des christlichen Glaubens überhaupt zur Disposition.
Mit der wunderbaren Errettung greift Gott selbst in den Ablauf der Ereignisse heilvoll ein. Er könnte wohl auch die Tore aufspringen machen und den Festgesetzten hinausspazieren lassen. Doch der Verfasser hat durchaus einen Sinn für Schönheit. Es geht nicht grob zu. Vielmehr kommt „der Engel des HERRN“. Kaum aber ist er da, so scheint schon ein Licht in den Kerker. Das sind nun die neuen Koordinaten. Gottes Engel ist jene Wirklichkeit Gottes, die in der Welt ist und doch nicht von ihr. Sie bezieht ihre Kraft aus einer anderen Stärke als sie Brot und Milch zu geben vermögen.
Die Befreiung selbst geschieht nicht ohne Mitwirkung des Befreiten. Petrus muß sich erheben, damit der Engel ihn mit sich führen kann. Es ist interessant, daß dieser Umstand ausdrücklich hervorgehoben wird, denn es heißt ja: „Und er ging hinaus und folgte dem Engel und wußte nicht, daß ihm wahrhaftig solches geschähe durch den Engel.“ Wie bedeutsam dieses „Erhebe dich!“ ist, wird jeder wissen, dem die bleierne Trägheit nicht fremd ist, wie sie in manchen bedrückenden Momenten auf einem lastet.
Nach Durchquerung der Hindernisse kommt dann der Moment des Erwachens. Hier spielt der Erzähler ein wenig mit uns. Denn zunächst wird berichtet, Petrus sei es vorgekommen, als walte bei dem ganzen „ein Gesicht“, das heißt: als träume er alles. Erst nachdem er und der Engel außerhalb des Gefängnisses ein Stück Weges gegangen sind und der himmlische Begleiter den Apostel verlassen hat, wird Petrus klar, daß alles wirklich geschehen ist. Er kommt zu sich und kann der Sache selbst ins Auge sehen.
Der Kern unserer Erzählung besteht in dem Aufstehen und Zu-sich-kommen des Menschen. Beides fällt ineinander. In der Geschichte wird es dargestellt als ein Akt, der der Anleitung, der Hilfe und Führung bedarf. Wir sind schlechterdings in unserer eigenen Welt gefangen. Es besteht nicht die geringste Chance daß wir uns vollständig aus den Verstrickungen befreien und entwinden könnten. Solche Hilfe leistet der Engel, ausgesandt von Gott.
Das ist es, was die Geschichte von der Herausführung des Petrus sagt. Man muß noch einmal betonen und alles Gewicht darauf legen: Es ist eine christliche Exodusgeschichte. Sie geht aus von dem „Stehe behende auf!“ Mit ihm gibt der Engel die Diagnose unseres Zustandes und macht uns klar, wie wir in Banden liegen. Unfreiheit bestimmt unser Wesen. Doch dabei bleibt es nicht. Vielmehr spricht der Engel im gleichen Wort auch die Zuversicht zu, daß wir uns unter seiner Anleitung eben doch bewegen, ins ungemessen Weite gelangen und frei werden können. Der Weg zu Gott, der Glaube und die Zuversicht an und zu ihm, ist der Weg in die Freiheit.
Auch der christliche Exodus ist eine Befreiung. Die Wahrheit Gottes ist der Mensch. Die Einsicht und Klarheit, die uns aus dem Glauben und Vertrauen an Gott erwächst, betrifft unser eigenes Wesen, die Art und Weise unseres Daseins. Wir kommen zu einer Einsicht in uns selbst. Aber der Sinn solcher Einsicht ist nicht das Versenken des Einsichtigen in sich, sondern der Weg der Freiheit. Ihr Sinn besteht in der Bewegung, die wir machen. Um es mit einem treffenden Satz aus Schönbergs Oper „Moses und Aron“ zu sagen: Der Ewige zeigt nicht sich selbst, „aber den Weg zu sich“.
Das christliche Leben ist genau diese Bewegung: Das ist der Gang des Lebens. So erfüllt sich auch an uns, was die Geschichte ganz zuletzt von Petrus bemerkt, daß er nämlich „an einen anderen Ort zog“.
Amen.
Herangezogene Medien:
Rudolf Pesch: Die Apostelgeschichte (Apg 1 – 12) (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament. Band V / 1), Zürich / Einsiedeln / Köln und Neukirchen / Vluyn 1986.
Arnold Schönberg: Moses und Aron. Oper in drei Akten. Textbuch, Mainz 1957 (das Zitat steht am Ende der fünften Szene des zweiten Aktes, von Aron in kritischer Absicht gegen Moses gesprochen).
Perikope