[I. Das Lektionar]
Das große, in steif-goldenes Papier eingehüllte Buch liegt vorne in der Kirche auf dem Lesepult. Wenn Du dieses Lektionar aufschlägst und darin blätterst, kannst Du das Papier beim Umblättern rascheln hören.
[II. Der Vorleser]
Gerade ist es so leise in der Kirche, dass man selbst Schritte hören kann. Dort! Da geht er, nicht zu schnell, damit keine Unruhe entsteht, aber auch nicht so langsam, dass es aufgesetzt wirkt. Dort geht der Diakon dieser Gemeinde! Er hat ein weißes Gewand an. Quer über die Schulter liegt eine grüngefärbte Stola. Sie macht deutlich: Hier hat jemand eine ganz bestimmte Aufgabe im Gottesdienst; eine ganz bestimmte. Nein, nicht alle Aufgaben. Er wirkt heute im Gottesdienst mit. Als Lektor. Er liest Worte aus der Heiligen Schrift der versammelten Gemeinde vor. Wenn er zu Ende gelesen hat, wird die Gemeinde ein Lied singen. Zur Ehre Gottes. Später im Verlauf des Gottesdienstes, nach der Predigt durch die Pastorin, bei der Austeilung des Abendmahls, wird man zwar auf der Zunge das Stückchen Brot kaum schmecken, aber den würzigen Wein aus dem Kelch riechen. Dann aber wird der Diakon wie jede und jeder andere im Gottesdienst am Altar stehen. Dann gibt es keinen Unterschied mehr zu den anderen Menschen in der Kirche. Dann sind alle, ob Groß oder Klein, Kinder, Erwachsene, junge Menschen oder Hochbetagte und selbst die Frau im Rollstuhl Gäste am Tisch des Herrn Jesus Christus. Da schenkt er sich selbst, Jesus, der Herr der Herrlichkeit, in, mit und unter dem Brot und Wein.
[III. Die Überschrift]
Noch aber ist es nicht soweit. Der Diakon erreicht das Lesepult, blättert im Lektionar und findet die Bibelstelle. Er liest laut, langsam und deutlich hörbar: „Meine Brüder und Schwestern, haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person“ (Jakobus 2,1). Dann hält er den Atem kurz an, atmet tief aus und wieder ein, ehe er weitere Zeilen vorliest.
[IV. Zwischenbemerkung I]
Liebe Gemeinde, mit dem Lesen, insbesondere dem lauten Vorlesen in der Kirche, ist das ja so eine Sache. Alles muss einfach klappen: Die Lautstärke. Die Übertragung per Mikrofon in der Kirche. Damit Menschen, die nur noch schwer hören können, hören können, was vorgetragen wird. Ruhig muss es auch sein; damit das Vorgelesene zur Wirkung kommen kann. Das laute Lesen, das Vorlesen, es will geübt und gekonnt sein.
[V. Zwischenbemerkung II]
Wer im Gottesdienst laut vorliest, macht sich meistens schon im Vorfeld Gedanken darüber, was er oder sie lesen wird. Weil er oder sie damit die Worte Gottes aus der Heiligen Schrift in den Mund nehmen. Heilige Worte mit Bedeutung. Worte, die vom Hören zum Glauben und vom Glauben zum Handeln führen können, vielmehr noch, wollen! Das weiß der Diakon.
[VI. Hintergrund-Info: An wendet sich der Predigt-Abschnitt?]
Die Worte stammen aus dem Neuen Testament. Aus einem Schreiben eines Mannes der sich so vorstellt: „Jakobus, Gottes und des Herrn Jesu Knecht" Wer, bitte? Jakobus! Ein Diener Gottes. Jemand, der Jesus Christus nachfolgt. Jakobus schreibt an die „Zwölf Stämme in der Zerstreuung“ (Jakobus 1,1). Menschen, die sich in sehr kleinen, überschaubaren, christlichen Gemeinden – in der Sinai-Halbwüste, im oberen Ägypten und am Nil – versammeln. Dort singen sie, beten, hören Worte aus den Heiligen Schriften des Ersten Testaments. Es sind Menschen, die sich für den neu aufkommenden christlichen Glauben interessiert haben, getauft wurden und nun fragen: Wie führt man sein Leben in Beziehung zu Jesus Christus? Gibt es da bestimmte Regeln?
[VII. Epistel – ein altes Wort mit Bedeutung]
Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, was Jakobus schreibt, ist gar kein richtiger Brief. Vielmehr ist es eine Epistel. Aus dieser Epistel aus dem Schreiben des Jakobus wird der Diakon im Gottesdienst vorlesen. Einen Abschnitt aus einem Schriftstück. Mit gehobenen Anspruch an die Leser oder Hörer.
[VIII. Worum geht es in der Jakobus-Epistel?]
Die Epistel des Jakobus ist in fünf Kapitel gegliedert. Darin geht es um zwölf ganz unterschiedliche Themen:
1. Wie man mit Zweifeln im Glauben umgehen kann.
2. Was es mit Gottes Güte auf sich hat.
3. Wie ein Christ sein Leben gestaltet.
4.Wie das Verhältnis zwischen armen und reichen Menschen in einer christlichen Gemeinde anzusehen ist.
5. Christlicher Glaube und entsprechendes Verhalten.
6. Welche Probleme gedankenloses Gerede mit sich bringt.
7. Was Weisheit ist.
8. Wie Neid und Streit, schließlich zu Hass und Krieg führen können.
9. Wunschdenken und ein Realitätscheck in Sachen Zukunft.
10. Der richtige Umgang mit Geld.
11. Gottes Gerechtigkeit setzt sich am Ende aller Tage durch.
12. Welch eine wichtige Rolle dem Gebet, insbesondere bei kranken Menschen, zukommt.
[IX. Prepare-Enrich]
Der Diakon denkt: Fürs Zuhören im Gottesdienst wäre das viel zu viel. Er wird sich auf einige wenige Verse beschränken. Beschränken müssen. Beschränken wollen. So wählt er nur einen einzigen Abschnitt aus: Wie das Verhältnis zwischen armen und reichen Menschen in einer christlichen Gemeinde anzusehen ist. Darum soll es gehen. Wie sich Sprache und Sozialverhalten aufeinander beziehen. Ihm kommen dabei Tumulte in den Sinn, wo es Proteste gab, weil sich durch einen Krieg anderswo Menschen auch bei ihm im Ort angesiedelt haben. Sprache und Sozialverhalten als Thema. Als schwieriges Thema im Miteinander, wenn Meinungen aufeinander prallen. Das alles will er bei seinem Vortrag bedenken. Er liest schließlich nicht einfach nur irgendeinen Text ab. Er bereitet sich darauf vor. Gliedert den Abschnitt. Er will durch sein Lesen deutlich machen, was die Überschrift ist und welche Gedankengänge Jakobus in seiner Epistel zu diesen einem Thema bewegt haben.
[X. Die Lesung aus dem Jakobusbrief, Kapitel 2,1-13 – mit Zwischenbemerkungen]
So hat er als erstes eine Überschrift ausgemacht. Sie lautet: „Meine Brüder und Schwestern, haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person.“ Allein schon dieser Satz lohnt es, ausgelegt zu werden. Während es in der Gesellschaft um ein bestimmtes Ansehen einer Person gehen mag, soll dieses Sozialverhalten unter den Christen keine besondere Rolle spielen! Der Diakon denkt: Das ist leichter gesagt als getan! Der Diakon kratzt sich am Kopf. Die Epistel will eher ausgelegt als vorgelesen werden, ins Gespräch führen, in den Austausch darüber, worum es im Verhalten der Christen geht. Jakobus nimmt in seiner Epistel auf folgende Begebenheit Bezug: „2 wenn in eure Versammlung ein Mann kommt mit einem goldenen Ring und in herrlicher Kleidung, es kommt aber auch ein Armer in unsauberer Kleidung, 3 und ihr seht auf den, der herrlich gekleidet ist, und sprecht zu ihm: Setz du dich hierher auf den guten Platz!, und sprecht zu dem Armen: Stell du dich dorthin!, oder: Setz dich unten zu meinen Füßen!, 4 macht ihr dann nicht Unterschiede unter euch und urteilt mit bösen Gedanken?" Der Diakon setzt hier ein Pausenzeichen fürs Lesen. Mit seiner Frage macht Jakobus ja deutlich, dass in der Gemeinde sehr wohl zwischen Höflichkeit und ungleichmäßige Behandlung zu unterscheiden ist. Die besondere Betonung oder Zuwendung an eine sehr begüterte Person bedeutet für die Armen in der Gemeinde eine Zurücksetzung. Eine Kränkung. Eine Beschämung! Mahnend greift Jakobus bei solchen konkreten Begebenheiten unter den Christen ein. „5 Hört zu, meine Lieben!" schreibt er. „Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn lieb haben?" Jakobus mag da vielleicht an Weihnachten gedacht haben, wie den ärmlichen Hirten auf den Feldern die frohe Botschaft von dem Kommen des Heilands in die Welt dann gesagt wurde. Die Hirten waren nicht unbedingt angesehene Leute; trotzdem wurden sie gewürdigt, Gottes frohe Botschaft zu hören. Man könnte weitere Beispiele nennen. Wieder setzt der Diakon ein Pausenzeichen. Jakobus wird in seiner Erläuterung etwas schärfer im Ton: „6 Ihr aber habt dem Armen Unehre angetan. Sind es nicht die Reichen, die Gewalt gegen euch üben und euch vor Gericht ziehen? 7 Verlästern sie nicht den guten Namen, der über euch genannt ist?" Menschen mit viel Geld haben viele Möglichkeiten, ihre Sicht des Rechts in der Gesellschaft durchzusetzen! Aber darum geht es nicht in einer christlichen Gemeinde. Es geht darum was Jesus Christus gepredigt und selbst vorgelebt hat. Daran erinnert Jakobus. Er schreibt: „8 Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift (3.Mose 19,18): »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, so tut ihr recht; 9 wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Übertreter." Jakobus schreibt seinen Brief an Christen, die sich gut im Ersten Testament, den heiligen Schriften der Juden, auskennen. In den fünf Büchern Mose sind die Weisungen Gottes überliefert. Weisungen, die einerseits mit Gott zu tun haben, andererseits mit dem Verhältnis zu den Mitmenschen. Mit diesem Regelwerk kennen sich auch Christen aus. Manche nennen sie: „Die zehn Gebote". Jakobus teilt die Überzeugung jüdischer Schriftgelehrter und Rabbiner, die sich mit folgendem Satz umschreiben lässt: „[10 Denn] wenn jemand das ganze Gesetz hält und sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig." Das begründet Jakobus mit folgenden Worten: „11 Denn der gesagt hat (2.Mose 20,13-14): »Du sollst nicht ehebrechen«, der hat auch gesagt: »Du sollst nicht töten.« Wenn du nun nicht die Ehe brichst, tötest aber, bist du ein Übertreter des Gesetzes." so soll es nicht sein unter den Christen. Nein, ganz anders! Mit heiligem Ernst mahnt Jakobus in seiner Epistel: „12 Redet so und handelt so als Leute, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen. 13 Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht." Der Diakon hat nun den Abschnitt gelesen und bemerkt: Das klingt beim Vorlesen widersprüchlich: Gesetz und Freiheit. Er liest die Zeilen noch einmal. „Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht“ (Jakobus 2,13). Der Diakon reibt sich verwundert die Augen: Kann ich diese Fülle an Aussagen wirklich mit meinem Vorlesen im Gottesdienst deutlich machen? Er wird es versuchen! Eins ist klar; die Überschrift wird es sein, die besonders zur Geltung gebracht werden muss: „Meine Brüder und Schwestern, haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person.“