Eine Geschichte vom Loslassen
Liebe Gemeinde!
Können Sie leicht „loslassen“?
Wir müssen das ja immer wieder im Leben, „loslassen“. Die Kinder, die aus dem Haus gehen. Menschen, die mit uns das Leben geteilt haben und mit einem Mal nicht mehr für uns da sind. So manchen Sport, weil es gesundheitlich nicht mehr geht oder einfach zu anstrengend geworden ist. Die vertraute Wohnung, in der man so gerne gelebt hat. Oder den großen Lebenstraum, den man nicht mehr erreicht.
Haben Sie schon einmal einen Hund beobachtet, wie er sich in ein Stock verbissen hat? Man kann noch so viel einreden und versuchen, den Stock herausziehen, aber es geht nicht. Uns kann es ganz ähnlich gehen. Auch wir können uns sozusagen in etwas verbeißen.
In einen Streit, der zwar vorbei ist, den wir immer wieder auftischen, weil wir so gekränkt worden sind.
In die feste Meinung, wir müssten den Garten jedes Jahr aufs Neue mit der gleichen Anstrengung bewirtschaften und dabei spüren wir genau, dass es von Jahr zu Jahr mühsamer wird.
Und manche halten an der Illusion fest, die Partnerin würde wieder zurückkommen und wissen eigentlich nur zu gut, dass diese Beziehung unwiderruflich zu Ende ist.
Dabei gehört das Loslassen zum Leben dazu. Jede und jeder von uns muss ganz unterschiedliches Loslassen: Menschen. Lebensformen. Auch Ansichten und Einstellungen.
Wir müssen sogar loslassen, ob wir wollen oder nicht. Oft werden wir nicht einmal gefragt. Unser Leben gleicht einem andauernden Umzug. Wir ziehen nicht nur von einem Ort zum nächsten, auch von einem Lebensabschnitt in den anderen und können nicht immer alles mitnehmen, was uns wichtig ist.
„Loslassen“ ist schwer. Ärzte und Psychologen können eine Menge davon erzählen, dass viele Krankheiten daher kommen, weil Menschen einfach nicht „loslassen“ können und alles krampfhafte Festhalten sich auf Organe und Muskeln übertragen kann.
Das Schriftwort für den heutigen Sonntag möchte ich Ihnen unter diesem Blickwinkel des Loslassens auslegen. Es handelt sich um das bekanntes Gleichnis vom „barmherzigen Vater“. Hören Sie aus dem 15. Kapitel des Lukasevangeliums.
Und er [Jesus] sprach: Ein Mensch hatte zwei Söhne.
Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie.
Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen.
Als er nun all das Seine verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land und er fing an zu darben
und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten.
Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm.
Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger!
Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.
Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner!
Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn; er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.
Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße.
Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße
und bringt das gemästete Kalb und schlachtet's; lasst uns essen und fröhlich sein!
Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.
Eine Geschichte vom "Loslassen".
Als erstes muss der Vater loslassen. Seinen jüngeren Sohn. Er will unbedingt von zu Hause weg. Jeder von uns kann sich ausmalen, was es für den Vater bedeutet, wenn er "Hab und Gut" (V.12) unter den Söhnen aufteilen muss. Dabei hat sich der Vater das alles ganz anders ausgemalt. Jetzt muss er den Sohn ausbezahlen. Ob das Geld reicht? Auch nach einiger Zeit? Auf beiden Seiten?
Ganz zu schweigen davon, wie menschlich schwer es ist, wenn jemand aus der Familie einfach so geht. Von heute auf morgen. Ohne genauen Plan. Ohne konkretes Ziel. Einfach so ins Ungewisse hinein.
Kein Wunder, dass es dem Vater schwerfällt "loszulassen", weil so viele offene Fragen da sind und niemand sagen kann, wie es jetzt weitergeht.
Auch der Sohn, der geht, muss loslassen. Er kann scheinbar gerne loslassen. Er sammelt alles zusammen und geht in ein fernes Land, schreibt Lukas. Endlich, so denkt er vielleicht. Endlich habe ich mich losgesagt von dem, was mir zu eng geworden und was mir schon lange gegen den Strich gegangen ist. Loslassen ist gar nicht schwer, mag er sich denken. Einfach auf und davon. Was kostet die Welt?
Wir, die wir die ganze Geschichte kennen, können an dieser Stelle einhaken und zu Recht einwenden: Offensichtlich ist nicht nur das "Loslassens-Müssen" schwierig, sondern auch das vermeintliche leichte, “überstürzte Loslassen". Wie leicht kann man auch in ein tiefes Loch fallen, wenn man alles auf einmal aufgibt, was getragen und Sicherheit gegeben hat, Und wie schnell kann man in einer fremden und unüberschaubaren Welt stolpern, weil man sich einfach nicht zurechtfindet.
Woche für Woche schauen Millionen von Menschen Sendungen wie „Goodbye Deutschland! Die Auswanderer“ oder „Auf und Davon“, weil sie einerseits fasziniert sind, wie leicht andere Brücken abreißen können, andererseits aber - wenn die Schwierigkeiten im neuen Leben überhand nehmen - bestätigt werden: „Nein, so möchte ich nicht leben! Gut, dass ich nicht so leicht loslassen kann und will!“
Wie man „angemessen“ loslassen kann? Ohne dass es weh tut? Oder man selbst verkrampft?
Es gibt kein Patentrezept. Wie wir alle ganz unterschiedlich ist, so verschieden sind auch unsere Gewohnheiten, auf Abschiede, auf Trennungen oder auf Neustarts zu reagieren.
Ich habe aber für mich aus dieser Geschichte einen Anhaltspunkt gefunden, der mir - bei allem, was ich immer wieder loslassen muss - helfen kann, mit neuen Situationen und veränderten Vorzeichen immer wieder doch klar zu kommen.
Es ist der Blick auf jemanden, der in dieser Geschichte auch loslassen muss. Außer dem Vater und dem Sohn. Es ist Gott. Auch er muss loslassen. Uns Menschen.
Diese Geschichte zeigt mir, wie Gott es macht. Er lässt uns einfach gehen und machen. Und riskiert damit viel. Gott zwingt uns Menschen nicht - weder zum Glauben an ihn, noch zum Einhalten irgendwelcher Gebote oder Lebensformen.
Er wagt sogar viel, wenn er uns die Freiheit lässt. Denn wir könnten alles, was uns gelingt, auf unsere Fahnen schreiben und ihn für all das, was uns misslingt, verantwortlich machen. Und wir könnten alle Freiheiten, die wir haben, auch ausnutzen und alle guten Sachen für selbstverständlich halten.
Das ist das Wagnis Gottes, dass er sich so auf uns Menschen einlässt und uns zugleich uns loslässt, damit wir auch ganz anders leben können.
Aus der Art und Weise, wie Gott mit uns Menschen umgeht, entnehme ich: Zum Loslassen gehört immer auch das sich einlassen: Auf neue Lebenswege. Auf einen neuen Beruf. Auf eine neue Umgebung. Auf andere Menschen.
Auch wenn die spannende Auswanderergeschichte des „jüngeren Sohnes“ beinahe wirklich tragisch geendet hätte, macht dieses Gleichnis Mut, sich auf neue Lebensbedingungen oder Zustände einzulassen. Denn es spricht von Gott als einem „barmherzigen Vater“, der auch dann da ist, wenn es ganz anders gekommen ist, als man es sich je ausgemalt hat.
Der neue Wochenpsalm geht sogar noch einen Schritt weiter. Er spricht davon, dass Gott sich richtig freut, wenn Menschen sich gerade dann, wenn das Loslassen völlig außer Kontrolle geraten ist, noch an ihn erinnern und sich an ihn wenden.
„Lobe den Herrn, meine Seele,
und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“ (Psalm 103,2)
Vielleicht hat sich der Psalmbeter auch erinnert, dass Gott schon oft in den entscheidenden Momenten da gewesen ist:
Dass ich diese Sache angepackt und dann doch bewältigt habe, das habe ich nicht alleine geschafft.
Dass mir dieser Geistesblitz durch den Kopf geschossen ist und die rettende Idee da war konnte, das kam nicht aus mir heraus.
Und dass ich diese neue Situation durchgestanden habe, das habe ich nicht mit meinen Kräften alleine zu Stande gebracht.
Dass Gott bei allem freiwilligen oder unfreiwilligen Loslassen da ist und alle neuen Wege mitgeht, das ist die Verheißung dieses Gleichnisses, das uns Mut machen möchte, immer wieder loszulassen, weil sich nicht nur Leben immer wieder ändert, sondern wir auch mit ihm.
Wir können uns doch nicht aus Angst vor jeder Form von Veränderung verschreckt zurückziehen. Oder ständig darauf bedacht sein, nur keinen Fehler zu machen.
Gott selbst ist jedenfalls einen anderen Weg gegangen. Er hat mutig das Loslassen zugelassen. Er hat sich auch auf die Menschen eingelassen, die sich losgesagt haben, auch wenn dabei manche Wege, wie bei dem Sohn in der Geschichte, beinahe mit einer Katastrophe geendet hätte oder in der Entzugsanstalt oder in der Klinik.
Der Gott, der weiß, wie schwer alles Loslassen ist, macht uns Mut, sich immer wieder auf Neues einzulassen, auch wenn wir vielleicht manchen Weg noch nicht kennen oder noch nicht genau ausmachen können, was wir einmal in den Händen halten werden. Aber wir brechen nie alleine zu neuen Ufern auf, gehen nie nur aus eigener Kraft los. Gott lässt sich auf ein neues Kapitel unserer Lebensgeschichte ein und geht mit uns in alle neue Zeit.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Eine Geschichte vom Loslassen - Predigt zu Lukas 15,11b-24 von Thomas Volk
15,11b-24
Perikope