"Eine nette Geste", Predigt über Galater 2, 11-21 von Klaus Pantle
2,11
Eine nette Geste

(Paulus schreibt: Als aber Petrus nach Antiochia kam, widerstand ich ihm ins Angesicht, denn es war Grund zur Klage gegen ihn. 12 Denn bevor einige vom (Herrenbruder) Jakobus kamen, aß er mit den Heiden; als sie aber kamen, zog er sich zurück und sonderte sich ab, weil er die aus dem Judentum fürchtete. 13 Und mit ihm heuchelten auch die andern Juden, sodass selbst Barnabas verführt wurde, mit ihnen zu heucheln. 14 Als ich aber sah, dass sie nicht richtig handelten nach der Wahrheit des Evangeliums, sprach ich zu Petrus öffentlich vor allen:
„Wenn du, der du ein Jude bist, heidnisch lebst und nicht jüdisch, warum zwingst du dann die Heiden, jüdisch zu leben?) 15 Wir sind von Geburt Juden und nicht Sünder aus den Heiden. Doch weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch Werke des Gesetzes wird kein Mensch gerecht. … 18 Wenn ich das, was ich abgebrochen habe, wieder aufbaue, dann mache ich mich selbst zu einem Übertreter. 19 Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt. 20  Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben. 21 Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn wenn die Gerechtigkeit durch das Gesetz kommt, so ist Christus vergeblich gestorben.“
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Wodurch werde ich gerecht(fertigt)? Wodurch gewinne ich meine Identität? Wodurch werde ich, was ich sein soll?
Liebe Gemeinde, worum Paulus mit Petrus so erbittert gestritten hat, das ist für uns heute kein Thema mehr. Gestritten haben sie damals um die Heilsnotwendigkeit der Beschneidung für männliche Wesen. Daraus ergab sich die Frage, ob beschnittene Judenchristen mit unbeschnittenen Heidenchristen essen durften oder nicht. Falls nicht, hätte das dazu geführt, dass sie das in normale Mahlzeiten integrierte Abendmahl getrennt hätten feiern müssen. Nein, sagte Paulus, die darauf abzielenden Vorschriften aus den fünf Büchern Mose und die Ausführungsbestimmungen dazu aus der nachbiblischen Halacha sind für Christen hinfällig. Denn die Beschneidung und das Einhalten der Reinheitsvorschriften verschaffen kein Heil. Beschnittene Judenchristen, die koscher essen, finden sich nicht besser in die kosmische Ordnung  der Welt eingeordnet als unbeschnittene Heidenchristen, die nicht koscher leben. Dadurch wird der Mensch nicht gerecht(fertigt). Dadurch gewinnt er nicht seine Identität. Dadurch wird er nicht was er sein soll. 
Weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch Werke des Gesetzes wird kein Mensch gerecht.
Würden wir heute diese Sätze nur auf das Thema Beschneidung und koschere Lebensweise beziehen, könnten wir sie als erledigt abhaken. Für Christen hat sich das Thema kirchengeschichtlich erledigt. Allerdings dekliniert Paulus an diesem Beispiel einen Grundsatzkonflikt durch. Und ein Blick in die Geschichte des Christentums zeigt, dass sich jeder Generation von Christen dieser Konflikt jeweils neu stellt. Jede Generation läuft Gefahr, das, was ihr Leben, was ihre Identität bestimmt, von immer wieder neuen „Gesetzen“ abhängig zu machen.
Uns beherrschen zum Beispiel die Gesetze des Marktes. Wir leben in einer durchökonomisierten Welt. Viele Menschen arbeiten hart, sind gnadenlos mit sich selbst und erfüllen bis zur Besinnungslosigkeit Ansprüche, die von außen an sie herangetragen werden. Politisches und wirtschaftliches Handeln folgt häufig Gesetzen, die kaum noch jemand durchschaut, geschweige denn versteht. Offensichtlich ist nur, dass diese Gesetze verheerende Auswirkungen auf das Wohlergehen großer Teile der Menschheit haben, ohne dass diese die geringste Möglichkeit haben, sich diesen zu entziehen.
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Wodurch werde ich gerecht(fertigt)? Wodurch gewinne ich meine Identität? Wodurch werde ich, was ich sein soll?
Im Zentrum des Berliner Shopping-Zentrums „Das Schloss“ steht ein Brunnen. Ihn umschließt ein Rondell, das sich über ihn drei Etagen in die Höhe schraubt. Das Plätschern des Wassers hallt durch den nach oben offenen Raum. Den Brunnen schmücken acht Figuren. Im Zentrum des von Naturstein eingefassten Beckens tragen vier Nymphen eine Schale, aus der eine Wasserfontäne nach oben schießt. Die herabregnenden Tropfen plätschern in das runde Becken und ergießen sich von dort in das große kleeblattförmige Brunnenbecken. Vier wasserspeiende Wale, auf denen barocke Putten sitzen, umringen die Szenerie. Unter Wasser sind Scheinwerfer auf das Brunnenzentrum gerichtet. Sie spiegeln die Wasserbewegung auf den hell-schimmernden Oberflächen der Figuren wider. Gleitet der Blick von hier aus nach oben, entsteht das Raumgefühl einer in sich abgeschlossenen Welt – ähnlich eines Ozeandampfers, der von außen unsichtbar in seinem Inneren ein luxuriöses Interieur beherbergt. Die Betreiber haben diese Anlage „Brunnen des Lebens“ getauft. Neben dem Brunnen gibt es eine in den Boden eingelassene Windrose aus Messing. „Hier ist das Zentrum“, sagen sie, „hier, inmitten des Shopping-Centers, ist der Nabel der Welt. Hier sprudelt die Quelle des Lebens.“
In der Werbung dafür heißt es:„Träumen Sie schön.“ „Tauchen Sie ein in eine Welt voller Märchen und Zauber an diesem verkaufsoffenen Sonntag. Das Schloss verwandelt sich in einen orientalischen Palast und entführt Sie in eine Welt aus 1001 Nacht.“ Die Werbung zielt auf Leib, Seele und Geist der potentiellen Kundschaft. „Wollten Sie schon immer das Beste in Ihnen zum Vorschein bringen?“ fragt ein Flyer, der für eine Beauty-Woche wirbt und sagt: Das Beste in mir kommt zum Vorschein durch eine Beauty-Behandlung. Ich gehe nicht mehr einfach nur Einkaufen, weil ich etwas brauche. Im Shopping-Erlebnis finde ich zur Selbstverwirklichung. Das Shopping-Center, dieses zeitgenössische Theater, das die Welt bedeutet, beeinflusst vermittelt: Ich kann mein Leben absolut frei wählen. Ich kann es leben in Gestalt einer unendlichen Auswahl verschiedenster Dinge und Verhaltensweisen. Durch den Kauf bestimmter Dinge gestalte ich meine Identität. Ich gestalte sie sichtbar für andere, denn meine Identität hängt ab von meiner Kostümierung und von meiner Selbstdarstellung. Zeige mir deine Handtasche und ich sage dir, wer du bist. Konsum wird zu einem Prozess der Sinnfindung und der Persönlichkeitsfindung. Beim Shopping finde ich Erfüllung und Befriedigung. Jedenfalls für den Moment. Shopping ist inzwischen fast unbemerkt zu einer Freizeitbeschäftigung geworden. Konsequenterweise hat Shopping in dieser Form inzwischen fast jeden Aspekt städtischen Lebens infiltriert oder gar ersetzt. Stadtzentren, Vorstädte, Straßen, Flughäfen, Bahnhöfe, Museen und das Internet werden geformt von Mechanismen des Shopping und haben sich verwandelt in Shopping-Centren. Bahnhöfe hatten früher oft schön gestaltete Warteräume, offene Sozialräume, in denen man einfach nur auf den Zug warten konnte. Inzwischen wurden Bahnhöfe verwandelt in Shopping-Malls, in denen man nicht sein kann, sondern kaufen soll. Zum sich Aufhalten sind Schnellrestaurants der üblichen Ketten da. Die Reisende ist festgelegt auf die Rolle der Konsumentin. Andere Rollen wie die des Verkehrsteilnehmers, der Anwohnerin, der Bettlerin, des Flaneurs, die sich einfach im öffentlichen Raum aufhalten und bewegen, sind nicht mehr vorgesehen. Eine andere Entwicklung ist, dass Innenstädte permanent gefüllt werden mit Spektakel. Die Wirklichkeit wird verdrängt, im Spektakel wird Schein inszeniert. Arme, Drogensüchtige,  Unangepasste, Nichtkonsumenten sind unerwünscht. „Die Leute wissen nicht mehr, was sie machen sollen“, sagte ein ehemaliger Manager des Berliner Shopping-Centers „Das Schloss“ im Interview. „Die Leute haben keine Hobbys mehr. Also gehen sie einkaufen.“ Die Betreiber der großen Shopping-Center und jene Konzerne, die ihre Filialen in solchen Centern einrichten, füllen das ideologische und kulturelle Vakuum unserer Gesellschaft mit ihren Inhalten. Es ist ein Vakuum nicht nur an Macht und Phantasie, sondern vor allem an Sinn und perspektivischer Kraft.
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Wodurch werde ich gerecht(fertigt)? Wodurch gewinne ich meine Identität? Wodurch werde ich, was ich sein soll?
19 Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt. 20  Ich lebe, doch nun nicht ich, sondernChristus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat undsich selbst für mich dahingegeben.
Für Paulus geht es ums Prinzip. Die Glaubenden sind von keinen Gesetzen mehr abhängig. Sie sind dem Gesetz gestorben. Die Glaubenden stehen außerhalb der Gesetze der durchökonomisierten Welt. Sie stehen außerhalb des Herrschaftsbereichs der Waren und der Shopping-Center.Dieses Sterben, von dem Paulus hier redet, findet in der Taufe statt. In der Taufe finden Glaubende einen neuen Lebensgrund. Ihre Rechtfertigung, ihre Identität, das, was sie sein sollen – es wird ihnen in der Taufe geschenkt. „Aus Gnaden.“ Man kann es nicht kaufen. Man bekommt es umsonst. Die Identität des Getauften wird nicht durch sein Ego bestimmt. Und schon gar nicht durch das Ego, das er sich selbst zusammenstellt. Christus erfüllt ihn. Nicht ihr Haben, nicht ihre Ausstattung, nicht ihre Performance bestimmen das Leben der Glaubenden. Seine Identität, das, was er sein soll, findet der Glaubende allein in Christus. Deshalb, so Paulus, sind Glaubende Freigelassene. Sie sind freigelassen von der Fixiertheit auf sich selbst. Sie sind freigelassen von der Fixiertheit auf Materielles und befreit von äußeren Zwangsmechanismen. Der Mensch findet allerdings nicht alleine aus den Zusammenhängen und Verstrickungen des Gesetzes heraus. Er kann sich nicht selbst befreien. Die zum Leben befreiende Zusage geschieht in der Begegnung mit der Person Jesus von Nazareth. Wie immer diese Begegnung geschieht. Christlicher Glauben lebt aus dieser Begegnung.
Jesus eröffnet den Glaubenden einen Freiraum. Den nennt er Reich Gottes. Zuerst und vor allem ist das ein Raum der Zwanglosigkeit und der Zärtlichkeit. Die Erfahrung von Freiheit ermöglicht selbstverantwortetes Leben aus Glauben und selbstbestimmtes Tun und Lassen. Diese Freiheit gehört elementar zum Person sein des Glaubenden. Der Gehalt, aus dem solche Freiheit lebt, ist die Zärtlichkeit, mit der Jesus den Menschen begegnet. Deshalb kann der Glaubende den Menschen lieben, der er ist und nicht den, für den er sich hält oder den er meint spielen zu müssen. Der Glaube hilft, in Freiheit zu leben und in der Zärtlichkeit zu bleiben. Das ist die Bestimmung aller Glaubenden, auch wenn sie immer zugleich ihre noch unverwirklichte Zukunft ist. Sie ist ihnen gegeben und verheißen. Dieser Glaube drückt sich aus in einem leidenschaftlichen Leben, in dem die Zärtlichkeit Priorität hat. Und die ist frei, weil sie nicht berechnet und nicht rechnen muss.
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Es gibt leise Gegenbewegungen gegen die Shopping-Centerisierung unserer Städte. Ein Graffiti-Sprayer hat in Augsburg über mehr als ein Jahr hinweg knapp fünfhundert Blumen illegal an Hauswände, Briefkästen, Türen, Trafohäuschen und viele andere Stellen gemalt. Die Meinung der Augsburger Bürgerschaft dazu ist gespalten. Straftäter sagen die einen dazu. Kreativ-subversives Genie und liebenswerte Aktion nennen es die Anderen.
Ein Journalist fragte den Sprayer: „Wie soll man dich eigentlich nennen, Blumenmaler oder Blumenmann?“ „Belassen wir es einfach bei Blumenmaler, obwohl der ‚Malende Gärtner‘ auch seinen Reiz hätte.“ „Was war deine Motivation?“ „Die Menschen an die kleinen und schönen Dinge im Leben zu erinnern, denn in meinen Augen sind die meisten Menschen einfach unglücklich.“ „Wieso?“ „Wir leben in einer Konsumgesellschaft, die systematisch unsere Erde tötet, die Reichen werden reicher, die Armen immer ärmer. Wie lange soll das noch gut gehen? Es kann doch nicht sein, dass es so etwas wie Mitmenschlichkeit gar nicht mehr gibt! Wenn die Leute sich freuen, wenn du ihnen ein einfaches ‚Hallo‘ oder ‚Guten Tag‘ entgegenbringst, als ob es was Besonderes wäre. Meine Blume ist so ein ‚Hallo‘.“ „Hast du die Reaktionen der Leute auf die Blume beobachtet?“ „Aber sicher, es ist ja nicht zu übersehen, wie die Leute mit einem Lächeln an den Blumen vorbeigehen oder sogar stehen bleiben. Es freut mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich Menschen bei so etwas beobachten kann.“ „Ist die Blume nun Kunst, Klamauk oder was ganz anderes?“ „Von allem ein bisschen, das kann der Betrachter für sich selbst entscheiden. In meinen Augen ist sie einfach eine nette Geste für meine Mitmenschen.“ „Allerdings eine illegale Geste.“ „Aber trotzdem eine nette Geste.“ Amen.
Perikope
19.08.2012
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