Heilige Unruhe - Predigt zu Gal 3,26-29 von Elisabeth März

Heilige Unruhe - Predigt zu Gal 3,26-29 von Elisabeth März
3,26-29

[Die fett geschriebenen Zwischenüberschriften dienen der Gliederung und werden nicht vorgelesen.]

Wir tun einfach so, als ob
[https://www.youtube.com/watch?v=r1QlsrjkYKU  Dota Kehr: Als ob, 2021, Album „Wir rufen dich, Galaktika“

Das Lied „Als ob“ wird nach Möglichkeit abgespielt. Alternativ den Text lesen:]

[Strophe 1]
Es hatte uns immer getröstet zu glauben, dass wir eigentlich ganz andere seien
Und hierher gar nicht gehörten und wir sehen es auch immer noch nicht so ganz ein
Dass wir langweilige Realisten geworden sind, mit einem sinnlosen Job

[Refrain]
Hey, wir tun einfach so als ob
Als ob, als ob
Wir tun einfach so als ob
Als ob, als ob

[Strophe 2]
Komm, wir stellen uns vor, wir hätten ein gemeinsames Ziel
Also, ein anderеs, als es hier bequеm zu haben, und dann rede ich viel, wieder viel zu viel
Und schon der ganz normale Alltag wächst mir doch über den Kopf

[Refrain]
Hey, wir tun trotzdem so als ob
Als ob, als ob
Wir tun trotzdem so als ob
Als ob, als ob

[Bridge]
Als ob wir Träumer sein könnten in dieser Welt
Wenn wir uns nicht ablenken lassen und uns drauf konzentrieren
Wäre das mutig oder blöde? Das weiß ich auch nicht so genau
Aber was hätten wir schon groß zu verlieren?

[Strophe 3]
Ich leide an allen Krankheiten meiner Zeit
Ich klebe den halben Tag am Telefon
Zerstreut und reizbar, eitel und satt
Gefangen von dem, was man hat
Wirkungslose Empörung und viel zu viel Information
Als ob das irgendetwas ändert

[Strophe 4]
Komm, nimm mich bei der Hand und mach mich glauben
Du seiest einer, der große Geheimnisse in sich trägt
Und ein bisschen Magie, mach mir ruhig was vor
Jeder braucht seinen Dumbledore
Sei du meiner, zauber, dass sich irgendwas bewegt

[Refrain]
Oder tu halt so als ob
Als ob, als ob
Oder tu halt so als ob
Als ob, als ob
Als ob, als ob
Als ob, als ob
Als ob, als ob

Paulus‘ Utopie

Paulus schreibt an die Gemeinden in Galatien:
Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus.
27Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.
28Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.
29Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben. [Gal 3,26-29 (LUT)]

Utopie beginnt beim Unzufriedensein

Liebe Gemeinde,
was haben Paulus, urchristliche Gemeinden und Dota Kehr, die Sängerin von dem Lied, das wir gerade gehört haben, gemeinsam? Und was haben wir mit ihnen gemeinsam?
Paulus.
Sein Rundschreiben an die Gemeinden in Galatien klingt stellenweise wie eine Standpauke. „Was ist mit euch? Habt ihr es immer noch nicht kapiert?“ In diesem Ton schreibt Paulus, und man spürt, dass er Wut im Bauch hat und unzufrieden ist, wie es in den Gemeinden läuft. Ein wenig Angst hat er auch um seinen Missionserfolg: Wenn sich diese Gemeinden zerstreiten, dann könnte die ganze Bewegung ins Stocken kommen.
Paulus‘ Gemeinde.
Der Zauber des Anfangs ist verflogen. So langsam treten praktische Konflikte zutage: Wie gehen wir damit um, dass manche sich den jüdischen Speisegesetzen weiter verpflichtet sehen, andere nicht? Sollen alle, die zur Gemeinde gehören wollen, sich zum Judentum bekehren? Das bedeutet, dass die Männer sich beschneiden lassen müssten. Oder getrennte Mahlzeiten und Zusammenkünfte für jüdische und nicht-jüdische Christusnachfolger*innen? Die anfängliche Begeisterung schlägt um in Spaltung und Unzufriedenheit.
Dota.
„Ich leide an allen Krankheiten meiner Zeit
Ich klebe den halben Tag am Telefon
Zerstreut und reizbar, eitel und satt
Gefangen von dem, was man hat
Wirkungslose Empörung und viel zu viel Information
Als ob das irgendetwas ändert“

Unzufrieden, obwohl man eigentlich alles hat – es fehlt nicht an Möglichkeiten, aber an Orientierung und Antrieb.
Wie geht es euch? Spürt ihr Paulus‘ Wut und Angst, Dotas vage Unzufriedenheit oder die galatische Ernüchterung? Jede ist auf ihre Art unzufrieden, ich auch. Ein unbehagliches Gefühl in der Magengrube, wenn mich der Alltagsstress überwältigt. Ein Anflug von Übelkeit angesichts von Wahlergebnissen in Thüringen und Sachsen. Und bei euch?
Mit dem Unzufriedensein ist schon ein Anfang gemacht. Darin liegt der Same für die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Wer Sehnsucht hat, ist empfänglich für Utopien. Und wer Utopien ernst nimmt, wird zum Unruhestifter, zur Unruhestifterin. [Vgl. Milena Hasselmann, Utopie der Gleich-Gültigkeit, GPM 4/2024]

Wie wird man Unruhestifter*in?

Zum Utopisten wird man nicht auf Befehl: Los, träume von einer besseren Welt! Woher sollen die Vorstellungen denn kommen? Auch Dota vermisst jemanden, der sie ihr zeigt:

„Komm, nimm mich bei der Hand und mach mich glauben
Du seiest einer, der große Geheimnisse in sich trägt
Und ein bisschen Magie, mach mir ruhig was vor
Jeder braucht seinen Dumbledore
Sei du meiner, zauber, dass sich irgendwas bewegt“

Was bei Dota ein suchendes Fragen nach einem Dumbledore ist, nach ein bisschen Magie, Illusion oder Geheimnissen, das klingt bei Paulus anders. Er hat eine Vision der besseren Welt vor Augen. Die ist keine vage Träumerei, sondern kluge Argumentation auf Grundlage von Glaubensgewissheit und Schriftkenntnis. Die Vision lautet: Die Verheißung Gottes gilt. Sie gilt nach wie vor den Jüdinnen und Juden, und sie gilt allen, die auf Jesus Christus getauft sind. Sie ist noch nicht voll und ganz Wirklichkeit, aber festes Versprechen. Diese Utopie hat in Gott ihren festen Ankerpunkt. Und so stiftet sie heilige Unruhe.

Gottes Utopie

Denn sie spornt an, die Wirklichkeit in ihrem Licht zu sehen:
Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.
Dieser berühmte Vers spricht hinein in eine Wirklichkeit des Miteinanders, die anders aussieht. Damals in den urchristlichen Gemeinden wie auch heute herrschen soziale Unterschiede, Machtgefälle, Diskriminierungen, und beeinträchtigen das Miteinander.
Wir schreiben uns ein Kaleidoskop an Identitäten zu: Kultur, Religion, Geschlecht, soziale Schicht, sexuelle Orientierung, Generation und viele mehr. Paulus stellt all dem die eine Identität gegenüber, die alles andere relativiert: die Einheit in Jesus Christus.
Paulus malt die bessere Welt so vor Augen, dass er sagt: Seht hin, das ist doch schon längst so! Ihr seid alle, liebe Galaterinnen und Galater, liebe Gemeinde, ob ihr nun Freie, Sklavinnen, Judenchristinnen, Heidenchristen, Frauen oder Männer seid – ihr seid alle ohne Ausnahme Gottes Kinder. Und weil das so ist, weil ihr auf Christus getauft seid, tragt ihr ihn als Kleid, nicht länger die Kleider, die eure jüdische, heidnische, männliche oder weibliche Identität markieren. Weil das so ist, seid ihr gemeint, wenn es um die Erben der Verheißung, um die Nachkommenschaft von Abraham geht.

Die Zumutung des Anderen

Und wenn einer sagt, hier ginge es gar nicht darum, tatsächlich eine Gemeinde ohne soziale Unterschiede zu schaffen? Die hätte es doch immer gegeben und würde es auch immer geben? Bei Gott wären zwar alle Unterschiede aufgehoben, aber solange wir in dieser Welt leben, könnte sich nichts ändern?
Dem würde Paulus nicht zustimmen. Für Paulus hat die Verheißung, dass bei Gott alle die gleiche Würde als Kinder und Erben genießen, unmittelbare Auswirkungen auf das Zusammenleben als Gemeinde. So wie überhaupt der Glaube an Jesus Christus. Paulus spricht häufig vom „Sein in Christus“, und das geht ganz eng mit konkreten Veränderungen des Lebens und Handelns einher. Wer Glauben und Ethik, Haltung und Handeln getrennt voneinander betrachten will, wird sich mit Paulus schwer tun.
Und so ist es ja auch hier gemeint, wenn man an die Ausgangssituation denkt: Hauptsache ist, dass niemand ausgeschlossen wird aus der Gemeinschaft.
Überhaupt: Trauen wir uns wirklich so wenig Veränderungskraft zu, dass wir resignieren müssten und die gleiche Anerkennung aller Menschen ins Jenseits verlagern?
Oder ist es vielleicht einfach sehr bequem, Strukturen und Denkweisen so zu lassen, wie sie sind? Sie zu verändern, würde ja bedeuten, uns selbst zu hinterfragen, unsere Privilegien anzutasten. Stimmen der von Armut, Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit oder Behindertenfeindlichkeit Betroffenen, und ganz besonders der Betroffenen von Gewalt und Missbrauch, zu hören und ihnen wirklich zuzuhören. Können, wollen wir uns das zumuten? Lassen wir uns auf den Perspektivwechsel mit allen Konsequenzen ein?
Die Zumutung des Anderen ist das, wo die Verheißung zu finden ist. Den anderen Menschen zuallererst als Kind Gottes zu betrachten und zu behandeln, Menschen jedes Geschlechts gleiche Würde und gleiche Rechte zuzuerkennen, darauf liegt Segen. Und das gibt den Vorgeschmack auf Gottes Utopie, auf das gute Leben für alle. Das gilt für die Gemeinden damals in Galatien, und für unsere Gemeinde, für die weltweite Christenheit heute.
Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben.

Als ob

„Wir tun einfach so, als ob.
Als ob wir Träumer sein könnten in dieser Welt
Wenn wir uns nicht ablenken lassen und uns drauf konzentrieren
Wäre das mutig oder blöde? Das weiß ich auch nicht so genau
Aber was hätten wir schon groß zu verlieren?“

Wenn wir so tun, als ob das schon Wirklichkeit wäre, was uns verheißen ist: Wär das mutig oder blöde? Wahrscheinlich beides, jedenfalls von außen betrachtet. Wer Utopien ernst nimmt, wird zum Unruhestifter, zur Unruhestifterin.
Was wäre, wenn wir so tun, als ob?
Dann sitzen alle Galater*innen gemeinsam am Tisch, teilen Brot und Wein und lösen das Problem unterschiedlicher Speisegebote pragmatisch.
Dann bilden sich neue Gemeinschaften über Kulturgrenzen hinweg.
Dann finden Friseurin und Anwältin im Gespräch am Spielplatz Gemeinsamkeiten.
Dann herrscht im Gemeinderat, in der Synode, in der Pfarrer*innenschaft, in der Kirchenleitung Geschlechterparität.
Dann ist Kirche ein Safe Space für Frauen, queere Personen und Kinder.
Dann erleben People of Color, dass Vielfalt die Normalität ist.
Wir tun einfach so, als ob das alles Wirklichkeit wäre, und spüren darin einen Vorgeschmack auf das, was uns verheißen ist.
Was hätten wir da nicht alles zu gewinnen?

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Elisabeth März

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ein Sonntagabendgottesdienst in der ESG. Die Gottesdienstgemeinde ist gemischt aus kritisch-protestantischen, skeptisch-distanzierten, engagierten und Gemeinschaft suchenden Studierenden und jungen Erwachsenen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Gedanke der Utopie, den ich im Lied „Als ob“ von Dota Kehr wiederfand.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass auf dem Gefühl der Unzufriedenheit die Verheißung der Veränderung liegt.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Predigt hatte im Rohstadium viele Negativaussagen. Das war mir beim Schreiben nicht aufgefallen, und umso dankbarer bin ich für diese Rückmeldung. Denn das Positive der Verheißung überwiegt und ihm steht darum auch in der Predigt mehr Raum zu.

Perikope
22.09.2024
3,26-29

Weihnachtssehnsucht - Predigt zu Gal 4,4-7 von Christiane Quincke

Weihnachtssehnsucht - Predigt zu Gal 4,4-7 von Christiane Quincke
4,4-7

1. Zwischen Sehnsucht und Überforderung
Weihnachten lässt niemanden kalt. Manchen ist Weihnachten too much und sie fliehen. Möglichst weit weg. Dorthin wo es warm ist und möglichst keine Verwandten.
Manche können nicht genug von Weihnachten kriegen und fahren alles auf, was sie haben. Die Wohnung blitzblank. Weihnachtsschmuck auf jeder Fensterbank. Die Gans schon vor Wochen bestellt.
Und dazwischen bin ich. Die Fenstersterne haben es dieses Jahr nicht an die Fenster geschafft. Aber der Käse fürs Raclette liegt im Kühlschrank. Die Krippe aus der Garage ist da, wenn auch staubig. Irgendwo liegen noch Weihnachtskarten, die ich schreiben wollte. Und meine Gedanken kreisen zwischen Geiseln und AfD-Bürgermeister, zwischen dem kleinen Lord und Ottolenghi-Rezept. Das bin ich. Und du vielleicht auch. Irgendwie dazwischen. Zwischen Sehnsucht und Überforderung – auf dem Weg zum ganz eigenen Weihnachten.

2. Meine kindliche Sehnsucht
Ich bin ja kein Kind mehr. Aber je älter ich werde, desto größer die Sehnsucht.
So richtig beschreiben kann ich sie gar nicht.
Ja, nach Frieden sehne ich mich natürlich. Aber wie sieht er aus? Und kann er mal endlich nicht so verletzlich sein?
Sehnst du dich auch nach Heilsein? Dass die kleinen Risse in deiner Seele nicht mehr so weh tun. Dass du zufrieden bist mit dir selber. Dass du dein Leben besser auf die Reihe kriegst. Dass du dir selbst verzeihen kannst.
Und willst du auch wie ich endlich vertrauen können? Ganz und gar und nicht nur ein bisschen. Keine Angst mehr haben, dass jemand dein Vertrauen ausnutzt. Überhaupt keine Angst mehr haben – weder vor der Nacht noch vor deinen Gedanken, weder vor bösen Menschen noch vor einer 4 Grad wärmeren Zukunft.
Und vielleicht sehnst du dich auch einfach nur danach, dass alles übersichtlich ist. Ganz schlicht. Ganz einfach. Wesentlich. Damit du hinterher kommst mit deiner Seele und deinem kaputten Knie.
Du bist kein Kind mehr, aber das Kind in dir hat große Augen und ein großes Herz und will einfach geborgen sein.

3. Erwachsen sein
Als ich noch ein Kind war, wollte ich endlich erwachsen sein. Gerade auch an Weihnachten. Endlich selber bestimmen, wie es gehen kann. Ich musste damals in die Christvesper und eine Predigt hören, die ich nicht verstanden habe. Die Lieder mochte ich schon damals. Aber der laute Gesang meiner Mutter war mir peinlich. Am 1. Weihnachtstag Verwandte besuchen, Weihnachtskarpfen essen, den ich als Kind nicht leiden konnte. Die Erwachsenen redeten und redeten. Es ging oft laut zu, nicht selten auch wurde es ungemütlicher, wenn vergangene Streitpunkte wieder hoch kamen, oder weil wir pubertierenden Kinder keine Lust mehr auf diese Großfamilie hatten. Manche meine Freunde haben sich damals losgeeist und sind zumindest am späten Heiligen Abend auf Kneipentour gegangen. Irgendwie hab ich sie beneidet, hätte mich das aber nie getraut.

Und heute? Ich mache vieles anders. In der Familie einigen wir uns auf das Essen. Der Baum wird so geschmückt, wie ich das will. Ich singe immer noch gerne die Weihnachtslieder. Aber vor allem spüre ich, dass ich manchmal gerne wieder Kind wäre. Ich würde gerne wieder die Stimme meiner Mutter hören. Würde mich gerne wieder einfach treiben lassen. Ohne Druck. Ohne alles richtig machen zu müssen.
Kennst du diesen Wunsch auch? Keine Verantwortung übernehmen. Die Tage sollen so endlos sein wie damals. Schwarzweißfilme schauen. Und diese warme stickige Luft auf der Haut spüren, die lauten Stimmen der Erwachsenen vorbeiziehen lassen und nicht mitreden müssen.
Oder wie der kleine Lord alle Herzen verzaubern und alle sitzen vereint am Tisch.
Ist das die Ur-Sehnsucht? Wieder Kind zu sein? Womöglich ein Kind zu sein, das du nie warst?

4. Gottes Kind
Dabei bist du ja ein Kind. Ein ganz besonders geliebtes. Ein von Gott geliebtes Kind.
Mit Haut und Haaren, Runzeln und Falten, geschminkt und ungeschminkt, festlich gekleidet oder in bequemer Jogginghose, mit gewaschenen Haaren oder dreckigen Fingernägeln – du bist ein geliebtes Kind. Wertvoll, königlich, würdevoll, klug, schön, wichtig, unverzichtbar. Gottes Kind. Du.
Und dafür musst du nichts tun. Nichts.

Paulus hat dazu was geschrieben – noch bevor die Weihnachtgeschichte aufgeschrieben wurde –, die mit den Hirten und mit der Krippe, mit Maria und Josef und dem Kind im Stall, mit den Engeln und mit Bethlehem. Paulus schreibt ungefähr so*:

Als die Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn.
Der wurde geboren von einer Frau. Ein Kind wie andere Kinder.
Dadurch machte Gott alle Menschen zu seinen Kindern.
Frei zu einem Leben, das ihrer Würde entspricht.
Auch du bist ein Kind Gottes. Und du trägst das Erbe Gottes weiter.

5. Gottes Familie
Ob Weihnachten dich kalt lässt oder nicht:
Weihnachten verstrickt dich hinein in die Gottesfamilie.
Sie ist Patchwork pur. Alleinerziehende, Stief- und Schwiegerkinder, Adoptiveltern und Pflegekinder, Singles, Paare, Geschiedene, Verwitwete. Eine unverheiratet Schwangere gehört genauso dazu wie der Träumer Josef, harte Arbeiter genauso wie Büchernarren wie Flügelwesen. Und diese Gottesfamilie hat so gar nichts von heiler, bürgerlicher, glücklicher Familienidylle. Im Gegenteil.
In Gottes Familie musst du nicht brav den Erwachsenen zuhören, sondern darfst deinen Mund aufmachen. Du musst keine Bedingungen erfüllen, um dazuzugehören. Du musst nichts geputzt haben, auch keine Fenster. Du musst keinen Weihnachtsbaum aufgestellt haben, keine Gans im Ofen. Du kannst dich schwer tun mit Geschenken, schreibst vielleicht keine Weihnachtskarten, schaltest das Radio vielleicht aus bei „Last Christmas“. So wie du bist, bist du Kind Gottes. Zwischen Sehnsucht und Überfordertsein.

6. Gottes Sehnsucht
Gott selbst ist ein Kind. Sehnsüchtig nach Liebe. Ein Niemand von Niemandseltern. Geboren inmitten von Tiergestank, aufgewachsen in einem ganz normalen Dorf. Und erwachsen geworden lebt dieses Kind Gottes Sehnsucht. Berührt Augen und Ohren und Seelen von lauter Leuten, die nicht dazu gehören. Sie sind Teil seiner Familie, seiner Gottes-Familie. Auf Du und Du mit Gott.

Und da sind sie nun, die Kinder Gottes: Der Krankenpfleger, erschöpft und ausgelaugt. Die jüdischen Geschwister hier in Pforzheim und die, deren Liebsten als Geiseln ausharren müssen. Die palästinensischen Kinder, geopfert von Terroristen, weil sie deren Schulen als Versteck benutzen. Die Frauen im Iran und Afghanistan, zum Schweigen gebracht. Die jesidischen Geschwister, die aus Deutschland abgeschoben werden. Die jungen Eltern, die mit ihrem autistischen Kind alleingelassen sind.
Kinder der Gottesfamilie. Deine Geschwister. Meine Geschwister.
Wertvoll, königlich, würdevoll, klug, schön, wichtig, unverzichtbar.
Sehnsüchtig und überfordert.

Wir haben uns diese Gottesfamilie nicht ausgesucht. Aber Gott hat uns sehnsüchtig zusammengesucht. Umarmt diese Welt wie der kleine Lord am Weihnachtsabend seinen Großvater.

7. Sehnsuchtsgeschichte
Und deine, meine Sehnsucht? Die an Weihnachten besonders groß ist? Die nach dem Heilsein und dem Vertrauen und dem Frieden?
Ich hab sie als Erwachsene. Und ich hab sie als Gottes geliebtes Kind. Die Sehnsucht bleibt bei mir. Und manchmal öffnet sie mein Herz. Wenigstens einen Spalt breit. Und dann schau ich, was passiert.

Liebes Gotteskind, mit unserer Sehnsucht sind wir nicht allein.
Sie kommt im Stall zur Welt, im Niemandsland, dort, wo heute Krieg ist. Die Sehnsucht nach Heilsein, nach Vertrauen und Frieden – sie ist klein und runzlig und menschlich. Vielleicht ist sie auch ganz leise. Und kaum zu hören. Vielleicht versteckt sie sich in den unaufgeräumten Ecken bei mir zu Hause?
Vielleicht entdeckst du sie bei dir? Gottes Sehnsucht nach dir.

Diese Sehnsucht ist die gemeinsame Geschichte der Gottesfamilie, aller Kinder Gottes. Sie ist unsere Geschichte. Unsere Weihnachtsgeschichte.
Sie lässt dich nicht kalt und mich auch nicht.
Gott strickt uns zusammen zu einer Familie.
Mit Hirten und Maria und Josef und Engeln.
Mit Tieren und Sternen und Fürchtet euch nicht.
Mit großen Augen und hellen Liedern.
Und einem warmen Herzen voller Sehnsucht.

Amen.

 

*) Danke an Birgit Mattausch für die Anregung

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Christiane Quincke

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Gottesdienstbesucher*innen zur Christvesper kommen oft aus hektischen Wochen. Dieses Jahr ist es – so mein Eindruck – besonders heftig. Vielleicht auch, weil die Adventszeit so kurz war? Jedenfalls kommen in die Christvesper Menschen mit unterschiedlichen Erwartungen und Gefühlen, sind in der Regel erwachsen (Familiengottesdienst mit Krippenspiel ist bei uns ein eigener Gottesdienst). Dazu ist die weltpolitische Lage sehr bedrückend.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Peter Meyer hat bei einem Vorbereitungstreffen zum Thema „Familie Gottes“ gesagt: „Taufwasser ist dicker als Blut“. Diesen Gedanken fand ich so inspirierend, dass ich damit spielen wollte. Finde es aber nicht einfach, dies ohne Überforderung zu denken.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Spannung zwischen Gotteskindschaft und Erbe sein – und damit das Thema Erwachsen sein und Gottes Kind sein.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Im ersten Entwurf hatte ich im Schluss noch mehr „Anforderungsätze“, die aus dem Gedanken der Gottesfamilie erwuchsen. Eine kluge Freundin hat mir gesagt, das würde sie ausgerechnet an Weihnachten doch sehr unter Druck setzen. Daraufhin habe ich insbesondere das letzte Drittel nochmal überarbeitet und gekürzt!

Perikope
24.12.2023
4,4-7

Unperfekte Supergirls und -boys - Predigt zu Gal 5,25-6,10 von Christiane Quincke

Unperfekte Supergirls und -boys - Predigt zu Gal 5,25-6,10 von Christiane Quincke
5,25-6,10

1. Anders sein

Fanny isst gerne Vanille-Eis. Sie kennt die Geschichten von Superman auswendig und weiß, dass er und seine Cousine von einem anderen Planeten, vom Krypton kommt. Morgens isst Fanny immer Müsli, in die Schule nimmt sie immer ein Toastbrot mit – mit Butter von Sommerglück – und eine Karotte in Folie eingewickelt. Mittags isst sie immer Nudeln von Giulia mit Ketchup von Hans. Und nur das. Zur Not geht auch Vanilleeis.
Fanny hasst es, wenn jemand lügt. Sie erträgt es nicht, wenn man sie anfasst ohne sie zu fragen. Sie liebt das Lied von der Biene Maja und denkt viel nach. Sie versucht die Menschen um sich herum zu verstehen, aber es gelingt ihr nicht. Sie will ihnen glauben, dass sie es gut mit ihr meinen. Aber oft tun sie es nicht. Die Nachbarskinder mobben sie und lachen: Hey, Fanny, wie siehst du denn heute aus? Und dann verzweifelt sie, weiß aber nicht, was sie tun kann. Wenn sie nicht mehr weiterweiß, krabbelt sie unter die Matratze ihres Betts und klopft auf den Bettrahmen, dreht das Lied von der Biene Maja laut auf. Oder sie geht in den Bauwagen, der im Garten steht. Dort sind alle ihre Superman-Bücher.
Fanny ist 8 Jahre alt und sie ist autistisch.

Ein jeder wird seine eigene Last tragen.

2. Normal sein wollen

Seit über einem Jahr trägt Fanny einen Supergirl-Anzug, den ihr ihre Mutter zum Fasching genäht hatte. Und sie trägt nur den.
Fanny weiß, dass sie anders ist als die anderen Kinder. Sie will so sein wie sie. Aber sie kann es nicht. Und so ist sie für die anderen zwar keine Systemsprengerin, aber ein Fehler im System. Wegen ihr muss die Lehrerin manchmal den Unterricht unterbrechen. Und die anderen Kinder lachen über ihren Anzug. Eines Tages kommt sie im Schlafanzug in die Schule, weil ihre Eltern sie baten, mal was anderes anzuziehen. Da lachten sie noch mehr. In der Schule hat Fanny aber keine Matratze, unter die sie krabbeln kann.
Der Vater hat einen guten Job, ist dadurch aber viel weg. Wenn er zuhause ist, ist er derjenige, der mit Fanny reden kann, und bringt Ruhe hinein. Aber meistens ist die Mutter, Tilda, alleine zuständig. Sie arbeitet bei einer Autovermietung, sorgt dafür, dass Fanny den Rhythmus hat, den sie braucht – und sie versucht sie zu schützen. Und hat das Gefühl, nur sie kann das wirklich.

Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.

3. Alles richtig machen

Fannys Mutter Tilda sträubt sich heftig gegen professionelle Hilfe. Sie hat Angst vor Psychologinnen und Psychiatern, weil ihre eigene Mutter psychisch krank war. Sie will alles richtig machen, will, dass alles „normal“ ist. Tilda setzt sich dadurch unter so großen Druck, dass sie selber immer öfter zusammenbricht. „Ich will endlich mal was tun, was ich richtig gut kann“, sagt sie zu ihrem Mann. „Mutter sein kann ich nicht. Aber in meinem früheren Beruf Flugbegleiterin – da war ich richtig gut.“

Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.

4. Gemeinde sein

Alles richtig machen – das wollen die Christen und Christinnen in Galatien auch. Sie wollen gleich sein, wollen sich an die Regeln halten, die es seit jeher für Gottgläubige gab. Beschneidung, Essen, Fasten – alles, was es so gab, um dazu zu gehören. So war halt das System.
Paulus hält das für falsch. Niemand soll erst Jude werden müssen, um Christ zu sein. Die Christen und Christinnen sollen unterschiedlich sein dürfen. Es sind ja Sklavinnen und Bürger, Frauen und Männer, Familienoberhäupter und Kinder, Schwarze und Weiße. Niemand von ihnen ist wichtiger oder besser als die anderen. Die Hierarchien, die sie aus ihrer Umwelt kennen, die soll es in der Gemeinde nicht geben. Die weltlichen Maßstäbe zählen nicht. Was zählt, ist: Wir müssen gar nichts tun, um liebenswert zu sein, um richtig zu sein. Jeder und jede ist ein Geschenk Gottes – wertvoll und von Gott geliebt. Gehört zu Gott. Mit Geist erfüllt.

Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst.

Wer glaubt, er oder sie müsse alles alleine können, täuscht sich. Und überfordert sich selbst. Wie Tilda. Gefangen in einem Teufelskreis aus Normalseinwollen und alles richtigmachen und Druck von außen und sich nicht helfen lassen können. Wie gut kenne ich das von mir.

Gott hat dich lieb, so wie du bist. Sagt Paulus zu Tilda.
Gott hat Fanny lieb, so wie sie ist. Sagt Paulus zu Tilda und zu den Nachbarskindern. Seid füreinander da. Ihr braucht euch doch. Niemand muss es alleine schaffen. Niemand kann es alleine schaffen. Zeigt das, sagt Paulus. Zeigt, wie gut ihr euch ergänzt. Zeigt, dass ihr Gottes Kinder seid. Unterstützt euch. Stärkt euch und tragt eure Lasten gemeinsam.

Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden;
denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen.

5. Füreinander da sein

Eines Morgens trifft Fanny in ihrem Bauwagen auf einen alten Mann. Es ist Oskar, ihr Opa. Ihre Mutter Tilda hat ihr nie was von einem Opa erzählt, denn sie schämt sich für ihren Vater und ist wütend auf ihn. Er hat sie im Stich gelassen und ist dann sogar noch im Gefängnis gelandet. Wegen Unterschlagung. Ein Hochstapler ist Oskar. Einer, der gerne Geschichten erzählt und die Wirklichkeit gekonnt ignoriert. Nun ist er aus dem Gefängnis entlassen und steht alleine da. Ein Außenseiter. Einer, dem es nichts ausmacht, im Bademantel durch die Stadt zu laufen oder die spießige Nachbarin vorzuführen.
„Ich habe keinen Opa“, sagt Fanny zu dem alten Mann. Also stellt er sich als Professor Krypton vor. Er erkennt sofort, dass Fanny ein besonderes Kind ist, ein Supergirl, wie von einem anderen Planeten. Und irgendwie scheint auch er von einem anderen Stern zu kommen. Warum also nicht von Krypton, wie Superman?
Fanny akzeptiert das – und die beiden freunden sich an.

Natürlich bekommt das irgendwann auch Tilda mit. Nach dem ersten Entsetzen sieht sie die Chance, mit Oskars Hilfe wieder in ihren Beruf einzusteigen. Oskar kann ja für ein paar Tage auf Fanny aufpassen. Natürlich geht dann alles drunter und drüber. Zwei Außerirdische, die sich nicht an die Normen halten. Sie kaufen mit Tüten auf dem Kopf ein, setzen Sonnenbrillen im Schatten auf, essen Vanilleeis zu Mittag und wollen das Supertalent von Fanny herausfinden.
Oskar ist aber für Fanny endlich einer, der sie nicht nur akzeptiert, sondern weiß, dass sie was zu bieten hat. So wie sie ist. Und er schafft es, auch die anderen Kinder davon zu überzeugen. Und Fanny ist für Oskar endlich eine, die ihn nicht ändern will, sondern der er helfen kann – mit seiner Begabung Geschichten zu erfinden. Er hat ja nicht mehr viel Zeit, weil er alt ist.

Einer trage des anderen Last.

Und Tilda: Sie kann endlich akzeptieren, dass ihr Kind anders ist und dass sie als Familie nicht „normal“ sein müssen. Sie akzeptiert endlich, dass andere es genauso gut machen können, auch wenn sie es ganz anders tun. Nicht nur sie weiß, was für Fanny gut ist. Und als sie das akzeptiert, findet sie ihre Freiheit wieder.

6. Im Geist leben

Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln.

Wir sind Gottes Kinder. Wir – die unperfekten Supergirls und Superboys. Wir brauchen nicht stärker oder besser oder normaler zu sein. Feiern wir unsere Vielfalt. Lasst uns nicht irgendwelche Normen erfüllen oder gar noch Schranken aufbauen, wer dazu gehört und wer nicht. Laden wir die Fannys und Oskars und Tildas ein – hier in die Kirche. Oder noch besser: Gehen wir mit einem Tisch raus und laden die ein, die da in unserer Stadt unterwegs sind: die mit den Tüten auf dem Kopf und den Sonnenbrillen im Schatten. Wir gehören doch zusammen, wir Gottes-Kinder. Und wir brauchen uns. Lasst uns unsere Lasten gemeinsam tragen. Teilen wir unsere Sorgen. Unterstützen wir uns und ganz besonders die, die unter ihrer Last zusammenbrechen. Am himmlischen Tisch haben wir alle unseren Platz. Da können wir ausruhen und verrückte Pläne aushecken. Pläne wie von einem anderen Stern. Und ganz oben – am oberen Ende – da sitzt der, der für uns da ist: Jesus. Und er nimmt uns alle Last ab.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinnen in Christus Jesus.

Amen.

[Dieser Predigt liegt der Film "Oskar, das Schlitzohr, und Fanny Supergirl" zugrunde.]

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Christiane Quincke

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe Menschen vor Augen, die sich Tag für Tag bemühen, alles richtig zu machen und dadurch unter Druck stehen. Ich habe Familien vor Augen, die dem Druck ausgeliefert sind, möglichst „normal“ zu sein. Dass ihre Kinder krank sind oder aus anderen Gründen aus dem Rahmen fallen, macht ihnen Sorge. Ich habe auch die Menschen vor Augen, denen es schwer fällt, sich helfen zu lassen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Film „Oskar, das Schlitzohr, und Fanny Supergirl“, der zur Zeit in der Mediathek der ARD läuft – meine Tochter hat mich auf diesen Film aufmerksam gemacht. Und für mich ist diese Geschichte wie eine neue Auslegung der Paulus-Worte gewesen. Ich hoffe, dass dies meinen Hörer*innen auch so geht, selbst wenn sie den Film nicht kennen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Entdeckung, dass Paulus mit den „Lasten“ gerade das meint, was wir uns selber mit unserem Perfektionswahn und „Sich rühmen wollen“ auferlegen. Und wie eng das Geschehen-lassen und Andere-so-sein-lassen zusammenhängen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Meine Predigtcoach hat mir hilfreiche Fragen gestellt, die meine Struktur klarer werden ließen. Sie überzeugte mich davon, meinen Gedankengang zu fokussieren und andere Beispiele, die ich im ersten Entwurf drinnen hatte, zugunsten einer Konzentration auf das Duett Fanny/Oskar/Tilda und Paulus zu verzichten. Eine weitere Leserin zeigte mir die paulinischen Dimensionen in der Figur der Tilda stärker auf. Für beide Interventionen bin ich sehr dankbar.

Perikope
25.09.2022
5,25-6,10

Standhaft bewegt. 500 Jahre Luther in Worms - Predigt zu Gal 5,1.16 von Jochen Riepe

Standhaft bewegt. 500 Jahre Luther in Worms - Predigt zu Gal 5,1.16 von Jochen Riepe
5,1-6

 „Zur Freiheit hat uns Christus befreit. So steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen.“ „Wandelt im Geist.“
…denn ich bin nicht bei Hofe, sondern im engen mönchischen Winkel aufgewachsen…“ 
„Aber ich bin ein Mensch und nicht Gott… Eure allergnädigste Majestät … möchte mir Beweise vorlegen, mich des Irrtums überführen und mich durch das Zeugnis der prophetischen und evangelischen Schriften überwinden. Ich werde völlig bereit sein, jeden Irrtum, den man mir nachweisen wird, zu widerrufen…“. 
(Der biblische Text sowie die Zitate aus Luthers Rede vor dem Reichstag zu Worms 1521 werden vor der Predigt gelesen. Zudem sind sie in der Gottesdienstordnung abgedruckt.)

I

Ein anderes Wort für Freiheit: Ich darf einen Raum betreten, in dem ich geschützt bin. Ein Raum, in dem ich atmen, hören, sprechen, widersprechen und auch irren kann… Mein Geist gerät in Schwung, heiße Herzen, rote Ohren… Ich lerne. Wir sind Kontrahenten, keine Feinde, und ein Bier schmeckt danach besonders gut. Streitkultur am runden Tisch.

II

Luther in Worms 1521, vor Kaiser und Reich. Der Mann in der Mönchskutte und die Granden aus Politik, Kirche und Wissenschaft. Wir wissen: Man hatte ihn vorgeladen, zu widerrufen… seine Thesen, seine Angriffe auf Papst, Kirche, Ablaß. Das Verhör sollte zwei Tage dauern. Nach anfänglichem Zaudern – Luther sprach mit niderer Stimm – schwamm er sich am Tag darauf frei. Ein erstaunlich öffnender Satz, der mein heldenhaftes Luther-in-Worms-Standbild in Bewegung bringt: Sollte man ihn aus der Bibel und durch klare Gründe widerlegen, dann wolle er selbstverständlich alle Irrtümer widerrufen und der allererste sein, der meine Bücher ins Feuer werfen will.
Ein Mönch, ein Professor, will diskutieren mit dem Kaiser und ein politisches Tribunal im Bischofshof zum Hörsaal umdrehen!? Hat er da etwas mißverstanden? Die hohen Räte werden den Kopf schütteln: Ein Verhör ist keine ergebnisoffene Diskussion.

III

Zur Freiheit hat uns Christus befreit, schreibt der Apostel Paulus, und sicherlich ist dessen Brief an die Galater eine der Wurzeln für die Standfestigkeit, zugleich aber auch für die ausdrückliche Gesprächsbereitschaft, mit der Martin Luther in Worms auftrat. Der Streit um die Wahrheit war zu dieser Zeit bereits gefährlich politisiert, mittendrin glühte jedoch das Feuer der Erkenntnis des Evangeliums. Wandelt im Geist. Luther war ein fröhlicher und "leidenschaftlicher Disputator" (P. Neuner). Die Wahrheit suchen im Widerspruch der Meinungen. In Argument und Gegenargument immer besser eine Sache erkennen. Auch der Thesenanschlag in Wittenberg war ja eine Aufforderung zum Disput.
Wer diskutieren will, muss vorbereitet sein: Im fleißigen Lesen, im Erarbeiten von Vorlesungen, im Meditieren, im Er-beten eines Textes, schließlich in der Auseinandersetzung mit Gefährten und Gegnern, hatte er doch die Befreiungstat des Christus an sich selbst erfahren und gedanklich verarbeitet. Das ist unser höchster Trost, Christus so anziehen…zu dürfen, und daß wir ihn sehen…als den, der unser aller Sünde trägt. Später nannte Luther den Brief an die Galater seine Kaethe von Bora, seine Ehefrau, der er sich öffnen, von der er empfangen konnte und die ihn oft genug herausforderte. Wandel im Geist - Freiheit in einer kreativen Bindung.

IV

Zur Freiheit befreit. Der Ausdruck des Paulus ist ungewöhnlich. Freiheit: kein Ziel, das einer kämpferisch durchsetzen will und dem sich andere unterwerfen. Keine politische Idee oder Parole. Sie ist auch nicht ein Zuckerl, das den einen, die uns nicht passen, verweigert und den anderen, den Willigen, dargereicht wird. Die Freiheit gleicht hier einem in Christus eröffneten Raum, in dem ich mich ohne Schuldgefühle bewegen, den ich mitgestalten und auch aushalten kann. Paulus spricht von ihr als einem Kleid (Gal 3,27), das mir mit der Taufe angelegt wurde. Kleider sind ja – nach dem Mutterleib – gleichsam der erste Schutzraum, der sich einem Menschen eröffnet.
So angezogen tritt der Mann in der Mönchskutte nach vorn, bereit zu begründen, bereit aber auch nachzugeben, wenn man ihn vom Gegenteil überzeugen kann. Darum: Sobald ich im Gespräch rechthaberisch werde und Tränen des Zorns in den Augen habe, sollte ich mich kneifen oder bis zehn zählen: Wer kompetent ist, kann gelassen bleiben und seine Meinung überprüfen. Er verzichtet darauf, andere nach Gut und Böse zu rastern. Er ist kein Wahrheits- oder gar ein Gottes-Aktivist. 
Sicherlich bringt ein aktueller Wunsch meinen Luther-in-Worms in Bewegung: Ich sehe eine durchaus herausfordernde, lernbereite Situation und von Luthers Seite aus – jedenfalls in dieser Phase seines Wirkens – wohl weniger trutzig-heldenhaft, endzeitlich-verhärtet, als es uns oft erscheint. Wir sollten niemals Freiheit in Christus mit Dickfelligkeit verwechseln.

V

Hier stehe ich… aber hier bewege ich mich auch… Worms 1521. Seht sie euch an: Der junge Kaiser Karl V., seine spanischen und niederländischen Berater, die Fürsten des Reichs, Juristen, Theologen … Ornate, pelzverbrämte Mäntel, Ringe, Halsketten… und dieser graue Mönch. ‚Entschuldigung, falsche Tür…‘. ‚Mönchsgezänk‘, ‚wenig hilfreich‘, so hatten die Eliten die neuen Lehren abgetan. Gab es noch einen gemeinsamen Boden? Oder war Luther mit Illusionen nach Worms gekommen?
Aber nun war er da. Und als sei Gottes Geist ihm in diesem Augenblick ganz besonders Beistand (Joh 14,26), spricht Luther gleich zu Beginn seiner Rede etwas Persönliches an. ‚Ich bin nicht am fürstlichen Hofe erzogen, sondern im engen mönchischen Winkel aufgewachsen‘, so eröffnet er und sieht dabei den Kaiser und seine Berater an.
Eine Demutsgeste? Eine Entschuldigung für unangemessenes Verhalten auf einem für ihn ungewohnten Parkett? Vielleicht. Vielleicht aber auch ein urplötzliches, eben geistesgegenwärtiges Innewerden der Aufgabe, die sich ihm hier in der Fremde stellt: ‚Ich mache mir nichts vor. Ich komme aus einer kleinen Klosterzelle. Meine Vorgaben entsprechen nicht euren Kriterien von Anerkennung. Seht nur mein Kleid! Aber die Stärke eines Mönchs ist es, daß er im Winkel beten, lesen, diskutieren kann und gelernt hat, für das, was er verstanden hat, mit Gründen zu argumentieren‘. Das ist mehr als Haltung, das ist – Geist, der befreit. Wenn ich etwas offen benenne, verliert es seine lähmende Kraft, und ein Gehemmter wird offensiv.

VI

Auch an dieser Stelle erkenne ich den Apostel Paulus als Paten. So steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen. Freiheit will bewährt sein, gerade am Ort der Macht. Und das gilt zunächst für die Art, wie ich mit meinen Vorgaben, Defiziten und Stärken umgehe. Ob ich meine Menschlichkeit scheu verstecke oder eben freimütig zeige.
Ist einmal der Verantwortungsraum des Christus-Geistes betreten, auch in einer Klosterzelle, hat einer atmen, reden und darin ‚stören‘ gelernt, so muss die Scham, die niedere Stimme weichen. Scham – dieses Joch im Nacken, diese Hemmung und Angst, zu gering zu sein, immer die falschen Gewänder getragen zu haben und im Spiel der Großen unbeachtet oder verachtet zu bleiben.
Feststehen: Ich bin nicht an fürstlichen Höfen erzogen… aber ich kenne die Schrift, und Verstand habe ich auch. Ich schäme mich nicht meines Kittels, nicht meiner Herkunft, nicht meiner Zwänge und Katastrophen. Alles dies hat mich geprägt, aber in Christus ist es mir verwandelt. Er trägt, was mir zugewachsen ist oder was ich selbst verschuldet habe.

VII

Freiheit: Du darfst einen Raum betreten, in dem man atmen kann. Du musst kein Standbild werden. Du bekennst vor Gott und den Menschen, was du gelernt hast (2.Tim.3, 14), und du hörst auf Einwände. Wandel im Geist: Auch ‚der andere könnte ja recht haben‘ (H.G. Gadamer), denn wie Luthers Rede es auf den Punkt bringt: ‚Ich bin ein Mensch und nicht Gott‘.
Die Frage bohrt: Ist es nicht naiv, in der großen Politik zu erscheinen und zu meinen, im Gespräch den Streit um die Wahrheit austragen zu können? Worms 1521 – eine nunmehr fünfhundert Jahre währende Illusion? Im Langzeitgedächtnis von uns Evangelischen ist Luthers Auftritt trotz dieser Zweideutigkeit ein wahrlich feierwürdiges, die Christus-Freiheit bezeugendes Geschehen: Ein Einzelner kann wehr- und standhaft bei dem bleiben, was er als wertvoll erkannt hat. Dazu aber kommt: Wenn mit den Mächtigen um die Wahrheit gestritten wird, dann zu den Bedingungen der Wahrheit, in Treue zu den Verfahren und Regeln, in denen sie sich zeigen will. Jeder Standfeste bittet um den Geist, der immer auch den anderen einbezieht und eine gemeinsame Basis achtet oder sucht. Sollte man ihn aus der Bibel oder durch klare Gründe widerlegen, so wäre er der erste, der alle Irrtümer widerruft.   

VIII

Ja, unser Luther-in-Worms-Gedenken: Hier in diesem Gotteshaus darf man stehen. Man darf seine Einsichten vor Gott, vor Kaiser und Reich, äußern, mit lauter, mit  niderer Stimm, gewandt oder ungelenk. Ihr dürft sie bei einem Einbecker, übrigens Luthers Lieblingsbier, oder einem Dortmunder dem Gespräch aussetzen, ohne dass Reichsacht oder Kirchenbann verhängt werden. Eben: Streitkultur vor Gott – mit roten Ohren und heißen Herzen. Für den Reformator ging es anders weiter. Das Land kann seine Worte nicht ertragen (Am 7,10). "Er ist böse. Er ist frei - vogel-frei." Widerrufen sollte er und sich unterwerfen.
Aber hier, hier bitten wir um den Geist, den Geist Christi! Standhaft-beweglich.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Jochen Riepe

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Der Reformationstag verbindet sich bei vielen Gottesdienstbesuchern mit der Frage nach einer "evangelischen Identität". Worin besteht die "Freiheit eines Christenmenschen"? Mein Text versucht eine Antwort und nutzt dabei Luthers Erscheinen vor dem Reichstag zu Worms (500 Jahre) als markanten, sozusagen kollektiven "Erinnerungsort". Im Gemeindegesang, im Spiel von Bläserchor und  Orgel, im Vortrag der biblischen Texte sind Prediger und Hörer "geist-lich" getragen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
"Standhaft-bewegt": Es hat mich gereizt, die Predigt in einer dreifachen Perspektive zu entfalten: Im Textbezug  (Gal 5), im Rückblick auf das historische Ereignis (Luthers Rede) und im Ernstnehmen gegenwärtiger Erfahrungen. Der paulinische Text ermöglicht ein Verständnis von Freiheit als einem vom Geist Gottes "getriebenen" (Röm 8,14) "Christus-Gesprächs-Raum". Die Raummetaphorik kann darum den Hörern als orientierender Begleiter dienen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Worms 1521 belegt: Der "Christus-Raum" kann verweigert werden. Der dunkle Horizont jedes Gesprächs – Nichtverstehen, Abbruch, Feindschaft – ist besonders in der Corona-Zeit beobachtet worden. Die grundgesetzlich verbürgte Meinungsfreiheit scheint nach einer Allensbach-Umfrage vom Juni 21 vielen eingeschränkt. Welche Chance eine evangelische Gemeinde in dieser Zeit hat, die Freiheit des Wortes lernend zu leben, ist eine dringende Frage. Die Bitte um den Geist Gottes steht dabei am Anfang.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der Predigtcoach hat mich ermutigt, den mehrschichtigen Ansatz der Predigt zu wagen. Ich danke ihm für seine hilfreichen Beobachtungen ("Raum-Variationen") und Hinweise.

Perikope
31.10.2021
5,1-6

Freiheit als Versprechen - Predigt zu Gal 5,1-6 von Prof. Dr. Ralf Hoburg

Freiheit als Versprechen - Predigt zu Gal 5,1-6 von Prof. Dr. Ralf Hoburg
Gal 5, 1-6

„Die große Freiheit“ – Das ist nicht nur der Name einer berühmten Straße auf St. Pauli in Hamburg: Es ist vielmehr ein Versprechen!

Dem steht dann aber wiederum als Abgesang der Freiheit der Liedvers gegenüber, den Marius Müller-Westernhagen in den 80er Jahren sang und darin beschwor:

„Freiheit, Freiheit,
Wurde wieder abbestellt.
Alle, die von Freiheit traeumen,
Sollen's Feiern nicht versaeumen,
sollen tanzen auch auf Graebern.
Freiheit, Freiheit,
Ist das einzige, was zaehlt.“

Freiheit – ein verletzliches Gut! Wie verletzlich Freiheit ist, konnte ich im Herbst diesen Jahres erahnen, als ich an der Grenze vom palästinensischen Westjordan Gebiet aus – der Stadt Bethlehem – eher rüde und ruppig von der israelischen Grenzkontrolle bei der Einreise nach Israel – der Stadt Jerusalem – angehalten und aufgehalten wurde. An Grenzen erleben Menschen die Demarkationslinie der Freiheit. Viele Menschen erleben dort auch das Scheitern des Projektes Freiheit. Die Mauern, wie deren Reste in Berlin oder der Grenzzaun zwischen Nord- und Südkorea oder eben – für mich ein Paradigma der Grenze der Freiheit – zwischen Palästina und Israel, zeigen dies überdeutlich. Sie sind Plakatwände für die Freiheit. Sie erzählen in Bildern und Texten Geschichten von der Sehnsucht nach Freiheit und dem Zerplatzen der Träume von Freiheit. Ein kurzer Text, der sich an der Mauer auf der Seite Palästinas zwischen Israel und Palästina befindet und den ich fotografiert habe, soll dies stellvertretend verdeutlichen:

„My husband’s cousin married a German woman. They have lived in Germany for thirty years. Every summer, he comes back to visit Palestine. Two years ago, he came with his wife and when they arrived at Ben Gurion Airport in Tel Aviv, his wife presented her German passport. She was treated with politeness and respect. When his turn came, he presented his German passport and the officer started interrogating him in a disrespectful manner. This was because his passport showed that he was born in Bethlehem. He and his wife both got very angry and nervous. He shouted at the officer: ‘Why do you treat me like an animal?’ The Israeli airport authorities ordered him to return to Germany. They told him, ‘You can visit the West Bank via Amman, Jordan.’” (Written by Baha; info@aeicentercenter.org)  

Die Freiheit endet oft an Nationalstaatsdenken, an Egoismen und Fremdenfeindlichkeit. Wer im Jahr 2018 über Freiheit reflektiert, der muss sich zwangsläufig die Frage stellen: Wie viel ist uns Freiheit wert und wie verhält sich meine eigene Freiheit zur Freiheit der Anderen? Definiert sich nicht gerade in einer Demokratie die Freiheit als „Freiheit des Anderen“ durch Anerkennung, Respekt und Würde? Toleranz ist dann die Haltung der Freiheit.

Freiheit – das ist in diesem Sinne auch eine Sache des Protestantismus und verdient es am Reformationstag reflektiert zu werden. Zu dieser evangelischen Haltung der Freiheit gehört es dann aber auch, kritisch die Frage zu stellen, ob es in einer religionsoffenen und pluralen Gesellschaft nicht angemessener wäre, statt den Reformationstag zum Feiertag in wenigen Bundesländern zu machen, einen „Tag der Religionen“ zum Feiertag zu erheben, an dem jede Religionsgemeinschaft im Sinne der Religionsfreiheit gewürdigt wird. Dem Islam und dem Judentum könnten damit gleichermaßen Ehre als gesellschaftlicher Kräfte in unserer Gesellschaft zu Teil werden.  

Insofern ist der Predigttext des Reformationstages aus dem Galaterbrief des Apostel Paulus – obgleich ein wichtiger Teil christlicher Glaubenslehre und protestantischer Identität – auch als Text im Sinne einer Religionsoffenheit hin zu verstehen und zu interpretieren. In religiöser Perspektive ist die Freiheit ein Versprechen…

I.

Bedrohte Menschen brauchen Hoffnung

Was war und ist das Besondere der „Großen Freiheit“ auf St. Pauli in Hamburg? Historisch gesehen sind es vor allem die Gewerbe- und Religionsfreiheit, die die Große Freiheit begründeten und dann vor allem auch Ort für die Armen und Kranken war, die in Altona vor der Stadtmauer lagerten und die sich anfangs mit Gaukeleien Geld verdienten. Es entstand eine Parallelwelt mit „Verheißungscharakter“, die als sündige Meile berühmt wurde. Das Symbolische an ihr liegt in der Möglichkeit der Durchbrechung des Alltags. Das galt für die Matrosen von damals und für die Menschen von heute. Die „Große Freiheit“ malt mit leuchtenden Buchstaben Sehnsuchtshorizonte in den dunklen Himmel. Eine Sehnsucht, wie sie vielleicht auch vergleichbar ist mit den Illusionen des gelobten Landes Deutschland, das Tausende von Flüchtlingen auf der Welt im Kopf haben und alles riskieren, um dieses Land zu erreichen, denn: die Hoffnung stirbt zuletzt.

Wenn der Apostel Paulus von „Freiheit“ in Gal 5 spricht, wird er vielleicht von Manchen so verstanden worden sein: Freiheit – das ist das Versprechen, dass die Knechtschaft beendet ist. Der Begriff der Freiheit hatte schon damals Sprengkraft und dies vor allem im politischen Sinne. Die römische Besatzungsmacht herrschte mit Gewalt und Unterdrückung und religiöse Minderheiten wurden aus Angst der Römer vor Aufruhr und politischem Umsturz zerschlagen. Die Angst ging um im Römischen Reich. Dass dies nicht ganz unbegründet war, zeigte sich, als die Römer den Tempel in Jerusalem im Jahr 70 endgültig zerstörten und die Juden fliehen mussten. Sie verloren damals ihre Heimat und ihr Land.

In jüdischen Ohren klingt das Wort Freiheit daher als Verheißung, dass ihnen das Land wieder gegeben werden könnte, das sie seit der Zeit der babylonischen Gefangenschaft (587 v. Chr.) und dann der Zeit der römischen Besatzung verloren hatten. Freiheit ist für sie die Hoffnung der Wiedervereinigung von Land und Volk Israel. In den Ohren der römischen Sklaven und der Vielen, die von der römischen Besatzungsmacht unterdrückt wurden, hatte das Wort „Freiheit“ einen emanzipativen oder revolutionären Klang. Die Fesseln der Knechtschaft werden gelöst, die Gefangenen werden frei und erlöst von ihren Qualen. Wie sehr die Seelen von Menschen durch Gefangenschaft und Bedrückung gequält werden können, lässt sich von uns, die wir wie ich selbst ein Leben lang in Freiheit gelebt haben, nur sehr schwer erahnen. Traumatisierungen und seelische Verletzungen brauchen lange, bis die betroffenen Menschen sie verarbeiten können. In diesem politisch befreienden Sinn haben viele Christinnen und Christen diese Texte vor allem in Afrika oder auch in Lateinamerika gelesen. Ich erinnere nur an die sogenannte Befreiungstheologie oder die Texte aus Nicaragua in den 70er Jahren, die unter dem Titel „Das Evangelium der Bauern von Solentiname“ uns Studierende dieser Zeit tief bewegt und beeindruckt haben. Alle diese Traditionen zeigen, dass die biblische Rede von der Freiheit den Menschen, die seelisch oder körperlich bedrängt sind, Hoffnung gibt. Die Freiheit ist für sie ein Versprechen, dass Gott selbst die Fesseln der Unterdrückung sprengen kann und die Umkehrung der Verhältnisse bevorsteht. Der Theologe Karl Barth stellte eine Reihe von Predigten, die er im Gefängnis hielt, unter den Titel: „Den Gefangenen Befreiung“.

II.

Die Freiheit vom Gesetz

Was meint aber nun der Apostel Paulus genau, wenn er von Freiheit in Gal 5,1 spricht und diese dem Joch der Knechtschaft entgegenstellt? Es ist nicht die politische Freiheit, sondern theologisch spricht er von der Freiheit als einem religiösen Begriff. Sein Verständnis von Freiheit kehrt ein in einen sehr komplexen und nicht ganz einfach zu verstehenden Horizont jüdischen Glaubens und religiösen Selbstverständnisses, den er seiner Gemeinde von damals darstellt und den es auch für heute zu erklären und zu verstehen gilt, um die Aussagen des Bibeltextes einordnen zu können.

Es lässt sich für den heutigen Bibelleser besser verstehen, wenn vorab kurz der Anlass und die Motivlage des Apostel Paulus reflektiert werden, die ihn zur Abfassung des gesamten Galaterbriefes veranlasst haben. Dieser Brief entfaltet zum ersten Mal einen geschlossenen theologischen Gedankengang und gilt neben dem Römerbrief als Herzstück der Theologie des Apostels. Die Bibelauslegung weiß seit langem, dass im Hintergrund des Galaterbriefes die Nachricht steckt, dass es Wanderprediger und Missionare gab, die in den Gemeinden die Rückkehr zu den Vorschriften der Tora predigten. Sie fielen damit theologisch dem Apostel Paulus in den Rücken. Der Galaterbrief des Apostel Paulus ist somit ein Appell, nicht diesen Missionaren zu glauben, sondern an dem Evangelium, das er selbst der Gemeinde verkündigt hatte, festzuhalten. Zur der Zeit, als er den Brief an die Gemeinde verfasst, lebte er nicht mehr in der Provinz Galatien, sondern war weiter gereist und hörte nun von den Vorfällen. Er will also die Verhältnisse gerade rücken und holt daher theologisch grundsätzlich aus.

Sein Hauptargument ist nun, dass die Beschneidung, die im Judentum als Forderung der Tora gilt, durch Jesus Christus abgelöst wurde. Als Israelit und Jude gilt es in den Augen des Apostel Paulus, die Tora zu leben und sie zu halten. So kommt er ganz argumentierend aus der jüdischen Sicht der Tora zu der Auffassung, dass derjenige, der sich beschneiden lässt, „das ganze Gesetz zu tun schuldig ist“ (Gal. 5,3). Dieses solle sich jeder vor Augen führen und die Konsequenz erkennen, dass dem, der diesen Weg folgt, Christus „nichts nützen“ wird (Gal. 5,2). Aus der Sicht des Apostels liegt genau an dieser Stelle der Differenzpunkt, dass nämlich das jüdische Verständnis des Heils durch die Einhaltung aller Regeln der Tora gerecht zu werden, mit Jesus Christus eine Alternative erfahren hat. Die berühmte Stelle des später verfassten Römerbriefes in Kap 10,4 bekräftigt dann die Auffassung des Apostels, indem er dort davon spricht: „Christus ist des Gesetzes Erfüllung, wer an den glaubt, der ist gerecht“ (Röm 10,4). Gal 5 und Röm 10 stehen theologisch in einem Zusammenhang. Lange Zeit ist in der Auslegungsgeschichte dieses Textes das im griechischen Text stehende Wort „telos“ als Ende oder Überwindung verstanden worden. Auch der Reformator Martin Luther hat sich in seinen Bibelauslegungen immer wieder mit diesem Zusammenhang auseinander gesetzt. Nach neuerer exegetischer Auffassung enthält das Wort eine Zieldimension und heißt nicht Abschaffung der Tora, sondern Weiterführung und Vollendung.

In diesem Sinn ist dann auch das Wort Freiheit in Gal 5,1 zu verstehen, denn es führt unmittelbar in den Zusammenhang der Wirkung, die mit dem Leben und Werk Jesu Christi zu tun haben. Wer durch das Gesetz gerecht werden will – so sagt Paulus – und damit dem Weg des Judentums weiter folgt, der ist „aus der Gnade gefallen“ (Gal 5,4). Diese Worte klingen sehr hart und lese ich sie mit den Augen desjenigen, der vor kurzem die Stadt Jerusalem besucht hat, wird mir die innere Widersprüchlichkeit und Absurdität überdeutlich, mit der sich jeder konfrontiert sieht, der die Altstadt von Jerusalem besucht: Da haben sich die Christen der Grabeskirche bemächtigt. Eifernde religiöse Frauen aus Rumänien, Russland und Polen küssen inbrünstig die bloßen Steine als wäre es die Stirn ihres eigenen Kindes. Nur ein paar Meter weiter schokeln inbrünstig betende ultraorthodoxe Juden an der Klagemauer den ganzen Tag und leben in ihrem religiösen Eifer lieber von der staatlichen Sozialhilfe als arbeiten zu gehen. Und freitags werden die Menschenströme geleitet und gehen die Moslems in die Al-Aksa-Moschee, deren Zugang gerade in diesem Sommer kurzzeitig wegen Demonstrationen geschlossen wurde. Ich kann kaum glauben, dass der Apostel dies mit seinem Verständnis von Freiheit beabsichtigt hatte, als er die Gemeinde davor warnte, aus der Gnade zu fallen. Das Christentum muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass es durch die Auslegungsgeschichte biblischer Texte selbst die Religionskonflikte mit hervor gebracht hat. Jedenfalls ist der Text des Apostel Paulus nicht ganz von Missverständnissen frei.

Freiheit – das meint dann aber positiv der Apostel Paulus als Wirkung und Folge der Gnade, die er auch als die Gerechtigkeit Gottes betont. Der Reformator Martin Luther hat in diesem Begriff den Kern der evangelischen Botschaft gesehen: Die Gnade als Folge der Gerechtigkeit Gottes macht den Menschen frei. Sie ist das Versprechen, das Gott selbst eingelöst hat.    

III.

Freiheit als Lebensprinzip des Glaubens

Die Freiheit ist ein Versprechen – das hatte ich eingangs mit Verweis auf die „Große Freiheit“ auf St. Pauli in Hamburg betont. Sie ist auch in theologischem Sinne ein Versprechen, wenn man der Argumentation des Apostel Paulus folgt.

Das Versprechen gilt für das Leben. Dieses Leben ist für Paulus durch den Glauben geprägt, der durch die Liebe tätig ist (Gal 5,6). Der Glaube ist die neue Form des Lebens, die ein Leben nach der Beschneidung überflüssig macht. Dieser innere Zusammenhang von Gnade in Jesus Christus und dem Glauben hat den Reformator Martin Luther zutiefst bewegt. Im Glauben fand er einen neuen Zugang zu Gott und dies ist die reformatorische Freiheit, dass der Mensch aus dem Glauben selig wird.

Mit Paulus kann man sagen, dass Gott sein Versprechen von Gnade und Erlösung mit der Offenbarung und der Hingabe seines Sohnes Jesus Christus am Kreuz eingelöst hat. Daran erinnert der Apostel die Gemeinde in der Region Galatien und diese Erinnerung gilt auch den Menschen von heute, die in der Welt der 1000 Versprechungen gar nicht mehr wissen, wem oder was sie glauben sollen. Wir sind durch die Masse der Versprechungen dieser Welt zutiefst irritiert und suchen die „Große Freiheit“, die doch da ist. „Greifen Sie zu“ – Der „Framstag“ ist am „Sonntag“, denn da ist die Kirche verlässlich geöffnet und das Wort Gottes zum Greifen nah.

Wie aber geht das: Leben aus Glauben in der Freiheit? Der Glaube löst sicherlich nicht alle Probleme der Welt. Aber im Glauben haben die Menschen die Möglichkeit aus einer inneren Haltung heraus die Sorgen, Nöte und Probleme des Alltags zu meistern. Für mich resultiert aus dem Glauben die „Glaubensheiterkeit“ oder auch Freude, von der Martin Luther in seinem Lied „Nun freut Euch lieben Christengmein“ gedichtet hat und das für mich das eigentliche protestantische Glaubenslied ist:

Nun freut euch, lieben Christen gmein,
Und laßt uns fröhlich springen,
Daß wir getrost und all in ein
Mit Lust und Liebe singen,
Was Gott an uns gewendet hat
Und seine süße Wundertat
Gar teur hat ers erworben.

Nicht den Reformationstag als solchen gilt es am 31.10. zu feiern, sondern die Glaubensgewissheit hochzuhalten, die die Menschen aus dem Glauben leben lässt. Dennoch ist dieses christliche Glaubensverständnis aus Freiheit in einer religionspluralen Gesellschaft nur ein Beitrag, neben dem jüdische und moslemische Gedanken gleichermaßen Berücksichtigung finden. Alle drei machen die „Große Freiheit“ aus, die in JHWH-Gott-Allah verborgen liegt. Alle Religionen glauben zutiefst diesem einen Versprechen.   

Perikope
31.10.2018
Gal 5, 1-6