Eine „sympathische“ Gemeinde - Predigt zu Philipper 4,4-9 von Reiner Kalmbach
4,4-9

Eine „sympathische“ Gemeinde

Die Gnade Gottes unseres Vaters, die Liebe Jesu unseres Herrn und die lebensspendende Kraft des Heiligen Geistes seien mit uns allen. Amen.

Eine „sympathische“ Gemeinde, eine wahre Gemeinschaft. Das ist der Eindruck der entsteht, wenn wir den Brief des Paulus an die Philipper lesen, aus dem wir gleich einen Abschnitt hören werden. Man spürt seine Zufriedenheit, ja seine Freude über das gemeinschaftliche Leben dort in Philippi. Und wir gönnen es dem geplagten Paulus dem die verschiedenen Gemeinden, die aus seiner Missionstätigkeit entstanden sind, des Öfteren ziemliche Kopfschmerzen bereiten. Und da ist noch ein kleines „Detail“: er selbst steckt im Moment bis zu den Ohren in Problemen.

Hören wir nun eine Passage aus dem Philipperbrief, dem 4. Kapitel, die Verse 4 bis 9

(Textlesung)

Gestern

Wir spüren es: in dieser Gemeinde wird mit einer grossen Selbstverständlichkeit gelebt, was wir Christen, landauf, landab und auf der ganzen Welt seit vier Wochen „feiern“: Advent. Die unmittelbar bevorstehende Ankunft des Herrn! Mit einem kleinen Unterschied: wir schauen zurück, wir schauen auf die (noch) leere Krippe, unser Adventsglaube ist rückwärtsgerichtet, während die Philipper ihren Glauben auf ein Ereignis ausrichten, das erst noch geschehen wird.., wann?, keine Ahnung, aber sicher bald, vielleicht morgen schon.

Ich hatte den ganzen Brief vor langer Zeit gelesen, danach immer wieder nur Abschnitte. Jetzt habe ich ihn mir noch einmal ganz vorgenommen..., und da ist mir ein Licht aufgegangen: es stimmt ja, unser Glaube lebt aus der Vergangenheit, wir feiern Ereignisse, die lange zurückliegen und die eigentlich mit meiner persönlichen Geschichte nichts zu tun haben. Das liturgische Jahr lebt geradezu aus der Geschichte: Advent, Weihnachten, Karfreitag und Ostern, Pfingsten..., wir können uns das Kirchenjahr gar nicht ohne diese Feste vorstellen... Neulich fragte ich in einem Gottesdienst, was wäre wenn...die Christenheit beschliessen würde, Weihnachten dieses Jahr ausfallen zu lassen..., also keine besonderen Gottesdienste an Heiligabend mit Krippenspiel und Kerzenschein, keine Gottesdienste an den Feiertagen...

Die Welt würde sich weiterdrehen, die Weihnachtsmärkte würden deshalb nicht schliessen, die Weihnachtsdekoration in den Strassen und Geschäften nicht verschwinden, auf die teuren Geschenke wollte niemand verzichten... Und in den Gemeinden? Vielleicht, ja vielleicht könnten wir die Chance nutzen, um ein paar längst fällige Fragen zu stellen: weshalb gibt es uns überhaupt ?, worin liegen unsere Aufgaben in der heutigen Zeit?, wohin gehen wir...?, oder, was unterschiedet uns von der „Welt“?, warum Glaube ich und welchen Sinn hat der Glaube für mich, mein Leben?

Sind unsere Kirchenfeste wirklich Stolpersteine?, behindern sie uns in unserer Besinnung auf das Jetzt und die Zukunft?

Ganz sicher nicht!, sie sollen uns ja gerade helfen, unseren Glauben im Hier und Jetzt zu verstehen und zu leben. Aber wir sollten dennoch all diese Fragen stellen. Denn die Antworten finden wir nicht in der Vergangenheit, sondern jetzt gerade in diesem Gottesdienst.

Heute

Wenn der Glaube nicht im hier und heute konkret wird, d.h. sichtbar, spürbar, erfahrbar, verkommt er zum Ritus, zur Glorifizierung der Vergangenheit, ein Glaube der vielleicht noch eine Aussenfasade aufrecht erhält, der mich aber existentiell nicht mehr anspricht... Kehren der Kirche vielleicht deshalb so viele Menschen den Rücken zu?

Seit drei Jahren bin ich zusätzlich für eine kleine Gemeinde zuständig, die sich, knapp 300 km entfernt, in einer anderen Stadt befindet. Sie gehört zu einer anderen Kirche. Zwei Gemeinden unterschiedlicher Tradition teilen sich einen Pfarrer. Für mich persönlich eine grosse Herausforderung. Die Gemeinde musste viele Jahre lang ohne Pfarrer auskommen. Das ist hier in den patagonischen Anden nicht einfach, die protestantischen Kirchen befinden sich in der absoluten Diaspora. Die meisten Gemeindeglieder gehören zur Unterschicht und unternehmen ungeheure Anstrengungen, um die Kosten der Gemeinde bestreiten zu können. Und dennoch geschehen in dieser Gemeinde Dinge die mich immer wieder tief beeindrucken. Neulich sagte ich einem Kollegen der mich besuchte: „...im Grunde ist dies die Gemeinde die ich mein ganzen Leben lang gesucht habe...“

Was ist dort anders, als in „anderen“ Gemeinden? Vielleicht sollte ich die Situation mit den Worten des Paulus beschreiben: die Gemeinde ist „liebenswert“, sie hat, als verschwindende Minderheit in einer grossen Stadt, einen „guten Ruf“, es wird viel gelacht, viel miteinander gefeiert, gegessen, auch geweint, getröstet..., die Menschen leben eine Solidarität mit anderen, wie ich sie selten erlebt habe, sie ist eben eine „sympathische“ Gemeinde. Viele Gemeindeglieder arbeiten ehrenamtlich in mehreren sozialen Projekten in den Armenvierteln. Sie versuchen Kindern und Jugendlichen und vor allem alleinstehenden Frauen und Müttern eine Perspektive zu geben. Es gibt nur sehr wenige, die nicht „irgendwo“ ihre Gaben und Fähigkeiten einbringen...Sie feiern jeden Sonntag Gottesdienst, auch wenn der Pfarrer nicht da ist..., und sie versammeln sich nach dem Gottesdienst um einen grossen Tisch, um das mitgebrachte Essen zu teilen. Es gibt Familien die in den letzten zehn Jahren den Sonntag nie zu Hause verbracht haben...

Während eines Gottesdienstes fragte ich einmal: „warum tut ihr das, was hat euch veranlasst, das Gemeindeleben so zu gestalten...?“ Ich erwartete Antworten wie: „...weil man als Christen eben so leben soll...“, stattdessen schauten sie mich nur an, so als läge so manch einem die Frage auf der Zunge: „was soll denn diese dumme Frage...?“, bis eine Frau aufstand und es mir erklärte: „...wir sind eben so, wir können es nicht erklären..., wir helfen, weil wir Christen sind, nicht weil wir es als solche tun sollen...“

Und dann komme ich jetzt in dieser Adventszeit in die Gemeinderäume und es wird überall gebastelt, geschmückt, gebacken, genäht..., eine Frau sitzt auf dem Boden, umringt von einer Schar Kinder und erzählt eine spannende Geschichte. Und dann informiert mich eine andere Frau: „...die Kleidung die wir nähen, das Gebäck, die Spielsachen.. sind für die Familien im „Barrio“ (Armenviertel)..“, und dabei strahlt sie mich an und ich spüre und sehe die Freude in ihren Augen und ihrem Herzen, weil sie anderen eine Freude bereiten darf.

Diese Frau kommt selbst aus einem der ärmsten Viertel der Stadt, sie ist alleinstehende Mutter von drei Kindern, hat nie ihren Schulabschluss gemacht, kann jetzt erst, nach vielen Jahren, von den Vergewaltigungen, der Gewalt, der Erniedrigung... erzählen. Während eines Gottesdienstes wollte sie einfach Zeugnis geben, von dem was in ihr und mit ihr gerade geschieht: „ hier in dieser Gemeinschaft durfte ich zum ersten Mal in meinem Leben die Sonne sehen, ich traute mich den Kopf zu heben, um nach vorne schauen zu können..., jetzt möchte ich dieses Licht in die Herzen der Kinder bringen...“

Und meine „alte“ Gemeinde?, die mich schon seit so vielen Jahren ertragen muss...? Nach einem Adventsgottesdienst kommt eine Frau auf mich zu, in der Hand eine grosse Tasche: „wir haben uns jeden Nachmittag getroffen, um Papiersterne zu basteln..., nimm sie bitte mit (in die andere Gemeinde) als kleine Zeichen der Freundschaft und Verbundenheit...“ Ich nehme einen wunderschönen Stern heraus, er ist in einer durchsichtigen Tüte und dran hängt ein Kärtchen mit einem Bibelvers: „Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich euch: Freuet euch!“

„Der Herr ist nahe“

Über der Gemeinde in Philippi leuchtet dieser Satz in Grossbuchstaben. Das spürt man, das ist nichts „aufgesetztes“, nichts erzwungenes, das ist echt, es ist ein Leben in der Erwartung. Sein Kommen ist so gewiss, dass wir uns um das „ob“ (er wirklich kommt) nicht mehr den Kopf zerbrechen müssen. Diese Gewissheit scheint ansteckend zu wirken: die Wiederkunft Christi ist so gewiss wie auf den Abend der Morgen folgt. Und darum geht es doch in der Gemeinde: wir feiern nicht nur Advent, weil es das Kirchenjahr so vorschreibt, weil es eben eine Tradition ist. Diese Zeit soll uns die Augen öffnen, wir sollen erkennen, sehen, spüren..., dass wir als Gemeinde in der ständigen Erwartung leben, Advent als gemeinschaftlicher Lebensstil: die Frau im Gottesdienst, Analphabetin fast, hat das glasklar erkannt: das Licht scheint nicht aus der Vergangenheit, es kommt aus der Zukunft und erhellt unser Jetzt, d.h. unser Leben. Für sie ist der Glaube ein „unglaublich“ befreiendes Erlebnis, eine Freiheit die sie beflügelt, verborgene Gaben und Energien freisetzt..., das ist ansteckend, das motiviert selbst den ärgsten Kirchenschläfer..., Freiheit das zu tun, was dran ist, einfach so...

Und so wird aus dem Segenswunsch „der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft....“ ein neuer Lebensstil.

Der Herr ist nahe!, wie wahr!, noch vier Tage bis Heiligabend...

Amen.

 

Perikope
20.12.2015
4,4-9