Einer pöbelt für mich - Predigt zu Apostelgeschichte 6,1-7 von Katharina Loh
6, 1-7

Einer pöbelt für mich - Predigt zu Apostelgeschichte 6,1-7 von Katharina Loh

mit Paul Niemand von Falk Richter.

(ZWISCHENRUF)
Das Universum schwieg. Das Universum hatte noch nicht bemerkt, dass ich da war. Aber ich war da. Ich war ein kleiner Junge unter der Sonne, und ich redete in tausend Stimmen, denn keiner wollte mit mir zusammensein, keiner wollte mit mir spielen. Also war ICH all diese Menschen, die ich brauchte, um zu überleben.
Ich war nicht mehr allein, ich war die ganze Welt, alles, was ich brauchte, und ich sprach zu mir, und ich kämpfte mit mir, und ich war alle Menschen und alle Gedanken, ich war alles!


I
Sie mussten selbst gucken, wo sie bleiben. Keiner sah sie, keiner interessierte sich für sie.  Helft euch selbst! Und den Witwen in Jerusalem hängt der Magen in der Kniekehle. Nicht den einheimischen Witwen, sondern den zugezogenen Witwen. Sie wurden bei der täglichen Versorgung übersehen. Sie mussten selbst gucken, wo sie bleiben. Ein handfester Skandal. Zumal in einer christlichen Gemeinde, denn hier vermutet man soetwas doch eigentlich nicht. Aber auch hier gab es Lager. Es gab die, die schon immer hier lebten und hebräisch sprachen. Und die, die jahrelang weg waren und jetzt zurück gekommen sind und griechisch  sprachen. Und ein Murren erhob sich unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung.


(ZWISCHENRUF)
Ist da jemand? Hallo! Hallo! Ist da jemand?  Hört mich hier wer? Paul Niemand, das bin ich. Zu alt für einen Neuanfang, zu jung, um sich schon aufzugeben, in ein paar Jahren ist das alles vorbei, in ein paar Jahren bin ich einer dieser Männer, die diese schlabbernden Cordhosen tragen und dummes Zeug reden im Hausflur,  während sie den Müll raustragen, denen niemand mehr zuhört, weil es sowieso egal ist, was die sagen, denen alle immer zustimmen und jaja sagen und weitergehen. Einer dieser Männer, die auch nicht wirklich stören, weil es egal ist, ob sie da sind oder nicht da sind, weil es gar keinem so richtig auffällt. Ist da jemand? Hallo! Hört mich hier wer?


II
Übersehen werden.  Das Gefühl kennt - einer Studie zufolge - jeder Dritte. Unter uns lebt also ein unsichtbares Drittel. So viele Menschen haben, zumindest in bestimmten Lebensbereichen, das Gefühl, unsichtbar zu sein. Wie Luft. Alleinstehende Frauen etwa. Sie sind bis heute die am meisten armutsgefährdete Gruppe  unserer Gesellschaft. Wie die Witwen damals. Angewiesen, aber nicht gut versorgt. Mit Kindern oder ohne. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott. Die anderen kriegen ja auch nichts geschenkt. Aber auch Menschen mit auskömmlichem sozialen Status und sicherem Job, kennen solche Gefühle. Du kommst durchs Leben, du bewerkstelligste deinen Tag Hast aber das Gefühl, einfach nicht gesehen zu werden. Nicht wahrgenommen. Nicht so wirklich.
(ZWISCHENRUF)
Ich buche mir jetzt regelmässig Flüge. Und da sitze ich dann am Gate und warte. „Paul Niemand bitte zum Boarding.“ rufen Sie. Aber das mache ich nicht. Ich bleibe einfach sitzen. „Paul Niemand, bitte, Paul Niemand.“ Und ich sehe, wie alle unruhig werden, weil sie Angst haben, zu spät zu kommen, Und dann erklingt über alle Lautsprecher immer wieder mein Name. PAUL NIEMAND. Und keiner kann los, weil ich noch nicht da bin.


III
Wie gut den Witwen das wohl getan hat. Als andere für sie auf die Hinterbeine gegangen sind. Das Murren FÜR SIE. Ich weiss aus eigener Erfahrung, wie gut das tut. Wenn ich gesehen werde und wenn ich mir nicht ständig selber die Brücke vertreten muss. Und wenn ich mir nicht ständig selber die Butter auf meinem  rot verteidigen muss. Wie gut das tut, wenn einer mir gönnt und gibt, Wenn einer nach mir fragt, wenn einer mir auch mal die Brücke vertritt. Wenn EINER PÖBELT FÜR MICH!


IV
Und DIE MURRER haben etwas bewegt. Das Leitungsgremium der Gemeinde kann die LAUTSPECHER nicht überhören. Also haben sie die Menge zusammengerufen und gesagt: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen. 3 Darum, liebe Brüder, seht euch um nach sieben  Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. Sie haben etwas bewegt. Sieben Menschen werden zum Dienst bestellt. Und die Witwen sind versorgt.


V
Durch Organisation gelöst. Das machen wir bis heute. „Wenn du nicht mehr weiter weisst, gründe einen Arbeitskreis.“ Ein Satz- gemischt aus Ironie und Wahrheit. Kein Gremium kann alles alleine machen, man muss sich schon aufteilen, Aufgaben delegieren. Das gilt für Unternehmen, Kirchengemeinde, sogar Familien. Man muss sich schon aufteilen, wenn jeder bedacht werden soll und sich keiner dafür totmachen will. Viele Schultern. Und so glaube ich, will die Entscheidung in Jerulsam verstanden sein. Die Zwölf  sind sich nicht zu fein für den Tisch Dienst, sie wissen nur: Alleine geht es nicht. Man muss sich schon aufteilen! Wer geht einkaufen? Wer schreibt den Brief? Oder wie in Jerusalem: Wer hat Tischdienst und wer ist für die geistlichen Reden zuständig?


VI
Wir teilen uns auf! Das tun wir als Kirche und Diakonie schon viele Jahre. Und jeder hat hier seine Aufgabe. Wir haben uns auch aufgeteilt, als wir als Kirche ein Schiff gekauft haben, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Die einen gaben Geld, die anderen Zeit und ihr Gebet. Und unsere Kirche wird dafür angefeindet.
Warum wir uns um solche kümmern, Kirchgelder verschleudern, um Menschen aus Nöten zu helfen, in die sie sich doch selbst gebracht haben: in die Hände der Schlepper. Die wollen sich eine Zukunft in Europa erzwingen! Ja natürlich! Was denn sonst?! Es hagelt Briefe und Austritte. Und ich denke mir, das ist auch gut so, dass Menschen frei sind, zu gehen, denn wer in dem Ansinnen, Leben zu retten, seine Kirche nicht findet - der ist vermutlich auch noch nie so ganz in ihr angekommen.


VII
Wir haben uns aufgeteilt. Auch ihr habt euch aufgeteilt, liebe Julia und Sebastian, mit der Taufe eurer Tochter. Denn es ist gut, wenn da noch mehr sind, als nur Mutter und Vater. Darum Paten und Zeugen, darum ein Segen und eine ganze Gemeinde. Weil es ist gut, wenn welche da sind. Die helfen, die hinschauen, die im Zweifel für einen murren und lautsprechen. Keiner sollte alleine sein. Keiner sollte sich alles selbst sein müssen.


(ZWISCHENRUF)
Mein Name wird immer wieder durch den Lautsprecher gerufen. Jetzt bewege ich mich, aber ganz langsam. Ich will diesen Namen noch ein paar mal hören. Ganz langsam bewege ich mich Richtung Gate, Gate 1, 2, Gate 3 und 4, ich dreh mich noch mal um, schaue noch eine Weile nach draussen, Gate 5, Gate 6, Gate 7,
die warten auf mich, das weiß ich, ist viel zu aufwändig, meinen Koffer wieder auszuladen, Gate 8, Gate 9, Gate 10, PAUL NIEMAND PAUL NIEMAND BITTE ZU GATE 17 die werden alle zu spät kommen, wenn ich abwesend bin, bemerkt mich jeder.


VIII
Es gibt Niemande in der Geschichte. Und jeder von Ihnen hat einen Namen. Und ein Recht auf Achtung und Wahrung der Würde. Und trotzdem passiert es. Dass Menschen übersehen werden. Ungeschützt, unbeachtet. Ihrer Rechte beraubt. Es passiert uns. In uns. Und durch uns. Es passiert. Jede Gemeinschaft, tut gut daran, das nicht zu leugnen und zu üben, dass wir das besser machen, Wir müssen heute vielleicht mehr den je Lautsprecher der Übersehenen sein. und so lange fragen: Wer machts? Wer kümmert sich hier? Bis einer sagt:

Ich!

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Katharina Loh: 

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich sehe vor mir eine Gruppe tendentiell älterer Menschen, die den biblischen Text schon einmal gehört haben dürften. Daneben sehe ich eine Tauffamilie, die mit der „Gottes-dienstgemeinde“ nicht bekannt ist und ich weiss um - analog zum biblischen Text -  aus-schliessendes Verhalten auch in unserer eigenen Gemeinde. Menschen, die übersehen werden und jene, die übersehen.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Hilfreich war mir die Anerkennung des Skandals, der in dieser Situation des Überse-hens begründet liegt und die Tatsache, dass eine Lösung des Konfliktes schon in der Organisation beginnt und zwar auch im Delegieren. Nicht einer muss alle in den Blick nehmen, sondern viele sehen einen Ausschnitt. Es braucht eben soviele Ämter, bis alle gesehen sind. Das wäre auch für mich rechtverstanden -  Priestertum aller Gläubigen.  

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Nicht leugnen, dass wir (bisweilen) ignorante Herzen sind. Sich selbst wie eine Fliege vorm inneren Gesicht herumschwirren und sich davon abhalten, sich einzurichten in dieser Ignoranz gegenüber dem Leid anderer. Das nehme ich mit.
(Gut zusammen fasst das ein Gebet von Nadja Bolz-Weber): Gott, bitte hilf mir, mich nicht wie ein Arschloch zu verhalten.

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Eine Nacht drüber schlafen.

Perikope
Datum 06.09.2020
Bibelbuch: Apostelgeschichte
Kapitel / Verse: 6, 1-7