„Einer trage des anderen Last…“ – Predigt zu Galater 5,25-6,10 von Peter Haigis
5,25-6,10

Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. Lasst uns nicht nach eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden. Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst. Ein jeder aber prüfe sein eigenes Werk; und dann wird er seinen Ruhm bei sich selbst haben und nicht gegenüber einem andern. Denn ein jeder wird seine eigene Last tragen. Wer aber unterrichtet wird im Wort, der gebe dem, der ihn unterrichtet, Anteil an allem Guten. Irret euch nicht. Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten. Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen. Darum, solange wir noch Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.

Liebe Brüder, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid; und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest.

„Einer trage des anderen Last…“ – Das ist ein zentraler Satz in diesen Gedanken, die der Apostel Paulus am Ende seines Schreibens an die Gemeinden in Galatien notiert. Er steht inmitten einer Reihe von Überlegungen zur Ethik und zum alltäglichen Verhalten der Christen. Lebensregeln, Erfahrungsweisheit, gute und gut gemeinte Ratschläge.

„Einer trage des anderen Last…“ – Zumindest in christlichen Kreisen ist das ein geflügeltes Wort geworden. Deshalb möchte ich es auch heute Morgen in den Mittelpunkt meiner Predigt stellen.

Die Last anderer zu tragen, ist vielleicht zunächst mal gar keine so gute Idee. Geht das überhaupt? Sagt Paulus nicht ein paar Verse später, dass jeder seine eigene Last trägt und zu tragen hat?

Ich erinnere mich an eine Erfahrung, die wir während eines Pilgerwegs machten – eine kleine Übung: Nach drei Tagen Pilgerweg mit dem eigenen Rucksack auf dem Rücken ging es beim Morgenimpuls um das Thema „Lasten tragen“. Die übliche Erfahrung beim Pilgern ist ja die, dass man – zunächst – immer zu viel einpackt und mitnimmt. Erst mit der Zeit stellt sich die Einsicht ein, wie wenig man wirklich braucht. Und dann geht es ans Ausmisten: Dinge, die eigentlich unnötigerweise mitgeschleppt werden, sortiert man aus, lässt sie in Pilgerherbergen zurück, entsorgt sie. Bei ganz persönlichen Dingen habe ich es auch erlebt, dass Mitpilger ein Päckchen packen und an der nächsten Poststation Richtung Heimat schicken…

Nach drei Tagen pilgern hat man sich mit seinem Gepäck, seiner Last, und mit dem Rucksack auf dem Rücken ganz schön arrangiert. Bei unserer kleinen Übung damals sind wir am dritten Tag eine kleine Strecke mit getauschten Rucksäcken gelaufen. Das Resultat war einhellig: alle fanden, dass ihr „eigener Rucksack“ sich am besten anfühlt. Die Übung sollte verdeutlichen: Wir können uns mit unseren Lasten auch arrangieren. Klar, ohne geht man leichter und unbeschwerter. Aber was man zu tragen hat, damit kann man sich auch arrangieren – ein Stück weit jedenfalls.

„Einer trage des anderen Last…“? Manchmal ist es leichter, die eigene Last zu tragen als diejenige anderer. Doch es gibt natürlich auch die wohltuende Erfahrung, wenn jemand an etwas mitträgt, das mir selbst zu schwer geworden ist. Auch hier hat mir das Pilgern eine wertvolle, ganz praktische Erfahrung beschert. In unserer Gruppe hatte sich eine Teilnehmerin unterwegs am Fuß verletzt. Nichts Dramatisches, aber es genügte, um zu erkennen, mit dem Rucksack auf dem Rücken geht es heute zumindest nicht mehr weiter. Wir haben dann ihren Rucksack für den Rest der Etappe übernommen. Jeder hat ihn ein Stück des Weges getragen, eine Last abgenommen.

„Einer trage des anderen Last…“ Der Vers begegnet mir auch immer wieder als Denkspruch. Bei Konfirmationen oder auch bei Eheschließungen – vor allem bei der älteren Generation, zum Beispiel im Rahmen einer Goldhochzeit. In unseren heutigen Ohren klingt das ja eher nüchtern und fast ein wenig hart. Lasten tragen. Wo bleibt da die Freude am Leben, das Ungezwungene? Wo bleiben Freiheit und Liebe? Heute würde ein Brautpaar das vielleicht nicht mehr unbedingt als Leitwort der Ehegemeinschaft und des gemeinsamen Lebensweges auswählen. Die Zeiten sind andere.

Sieht man jedoch auf die Lasten eines noch jungen Lebens, das seinen Weg in Krieg und Nachkriegszeit zu finden versuchte, so mag der Denkspruch fast etwas Verhängnisvolles haben. Da mag das schwere Schicksal anklingen, das damals über einer ganzen Generation lastete.

Und doch ist es ein wertvoller Denkspruch – zur Trauung oder zur Konfirmation. Er enthält nicht nur etwas von dem realistischen Blick auf die Mühen des alltäglichen Lebens, er enthält auch eine wertvolle Erinnerung, ja fast schon eine Mahnung, die aber zugleich eine Zuversicht ausspricht.

Das Wort aus Gal. 6,2 erinnert uns daran, dass wir nicht alleine leben, sondern in Gemeinschaft, in Beziehungen. So wollte Gott es von Anbeginn. So hat er den Menschen geschaffen und seinem ersten Geschöpf, bereits eine Stütze, einen Mitträger, eine Mitträgerin zur Seite gestellt. Die Schöpfungsgeschichte der Bibel erzählt zunächst von der Erschaffung Adams – er ist sozusagen der Prototyp des Menschen. Es geht hier nicht um eine historische Persönlichkeit. „Adam“ – darin klingt das hebräische Wort für Erdboden („adamah“) an. An ihm, Adam, soll etwas typisch Menschliches sichtbar werden. Nämlich, dass er Materie ist: Erde, Staub, Atome… Aber er ist mehr als das. Deutlich wird auch, dass er (wie übrigens jedes Lebewesen!) den lebendigen Odem Gottes in sich trägt: das Geheimnis des Lebens. „Eine lebendige Seele“ – wie die Bibel sagt. Damit ist er Teil seiner Mitwelt, gehört mit den anderen Geschöpfen Gottes zusammen.

Doch dies genügt nach der biblischen Schöpfungserzählung noch nicht, um den Menschen zu charakterisieren. Denn keines seiner Mitgeschöpfe erweist sich als wirklich zu ihm passend. Adam bleibt zunächst allein in der Fülle der Schöpfung. Als Adam inmitten der Welt, die ihn umgibt, seiner Einsamkeit gewahr wird, wünscht er sich jemand Ebenbürtiges an seine Seite – und Gott formt aus seiner Seite einen zweiten Menschen, der ihm zur Seite steht und dem er selbst zur Seite geht.

Die Bibel benutzt hier ein Wort, dessen Sinn uns verloren gegangen ist, weil wir bei dieser Geschichte immer nur an Adams „Rippe“ denken. Doch das hebräische Wort meint mehr. Es bedeutet „Seite“, „Tragbalken“, „Hilfe“. Darum geht es also, das also ist unsere schöpfungsgemäße Bestimmung: einander zur Seite zu gehen, einander zu tragen (nicht nur zu ertragen), einander zu unterstützen.

In der biblischen Schöpfungsgeschichte wird auf diese Weise zwar zugleich die Gemeinschaft von Mann und Frau begründet – doch halte ich dies nicht für so entscheidend, wie die Einsicht, dass wir als Menschen überhaupt aufeinander angewiesen sind. Weil dies aber nun so ist, dass es zu unserer schöpfungsgemäßen Bestimmung gehört, füreinander da zu sein, deswegen kann man auch zwei Seiten in dieser Bestimmung erkennen. Da ist eben nicht nur das Mit-Tragen an der Last des anderen, sondern auch das Mit-Getragen-Werden durch andere. Ich nehme ja nicht nur des anderen Last auf mich, sondern darf auch Lasten abgeben und mich von anderen mittragen lassen. Mir scheint, dass dies die schwerere Übung ist, die wir zu lernen haben – einmal etwas abzugeben, mich mit meiner Last auch mal jemand anderem zuzumuten. Wie oft höre ich von älteren Menschen den Satz: „Ich will meinen Kindern nicht zur Last fallen.“ Wie traurig, wenn es nur dabei bleibt! Ist das Leben nicht ein Geben und ein Nehmen? Die Kinder – habe die Eltern sie nicht auch getragen in jungen Jahren? Und waren sie dabei wirklich nur eine Last, eine Belastung?

„Ein jeder trage seine eigene Last, und zur Not eben auch noch mit an der Last eines anderen…“ – darin scheint also so etwas zu stecken wie ein allgemein-menschliches Gesetz. Doch der Vers aus Gal. 6,2 hat noch eine Fortsetzung – und das ist der eigentliche Zuspruch: „…so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Das Gesetz dieser Welt ist, dass jeder seine eigene Last tragen muss; wir sagen heute: mit sich selbst fertig werden muss. Und manchmal tragen wir aneinander, aber es soll aufs Ganze gesehen ein Nullsummenspiel bleiben. Am Ende wird abgerechnet. Und die Bilanz muss stimmen.

Das Gesetz Christi erinnert uns daran, dass wir einander tragen können und dürfen und dadurch stärker werden. Wenn ich mit mir selbst fertig werden muss, dann gibt es niemanden, der meine Schuld oder meine Angst mit trägt, niemanden, dem ich meine Traurigkeit klagen kann. Freilich auch niemanden, mit dem ich Glück und Lebensfreude teile. Ein in dieser Weise selbst-bestimmtes Leben ist ein einsames und armseliges Leben.

Dagegen ruft uns das Gesetz Christi in die tragende Gemeinschaft von Mann und Frau, von Brüdern und Schwestern, von Eltern und Kindern, von Freunden, Nachbarn und sogar einander Fremden. Und mit einem Mal sehen wir, wie zutiefst menschlich, wie tragfähig und wie wunderbar dieses Gesetz Christi ist. Christus hat es übrigens nicht im Befehlston vorgetragen und angeordnet. Er hat es selbst vorgelebt. Das ist seine Art und Weise, Gesetze zu erteilen. Und er trägt als erster und letzter mit an unseren Lasten.

Amen.

Perikope
09.09.2018
5,25-6,10