I.
An jedem, oder doch an fast jedem Arbeitstag, den ich in meinem Büro verbringe, lege ich um kurz nach 12 Uhr mittags den Stift aus der Hand. Schalte den Rechner auf standby, lege die Unterlagen beiseite. Gespräche werden unterbrochen, Sitzungen haben eine Pause. Ich gehe nach unten, über die Straße ins Zinzendorfhaus, in den „Raum der Stille“. Ein heller, schlichter Raum, nicht besonders liturgisch ausgestattet. Vorn ein Tisch, aus einem rohen Baumstamm herausgeschnitten, eine Kerze, ein Stuhlkreis. Um 12.15 Uhr beginnt das tägliche Mittagsgebet. „Mitten am Tag halten wir inne …“ Manchmal merke ich dann, wie müde ich bin. Oder wie schön der Ausblick in den benachbarten Garten ist, besonders jetzt, im Mai. Manchmal ist der Raum fast zu klein, wenn gerade viele Arbeitsgruppen im Haus tagen. Manchmal sind wir zwei oder drei. Selten einmal fällt es aus, weil niemand gekommen ist. Der Ablauf bleibt immer derselbe: Lied, Wochenpsalm im Wechsel der Seiten, Losung und Lehrtext, Stille. Ich sitze und atme, denke oft gar nichts, oder lasse den Bibelvers nachklingen. Seltsam, so aus dem Zusammenhang genommen. Dann beten wir, vorgegebene Worte für jeden Tag der Woche: Wir bitten um Hoffnung in den Niederlagen und Demut in den Erfolgen in der gerade begonnenen Arbeitswoche. Um Frieden in der Welt und in unseren kleinen Lebenszusammenhängen. Um Gelassenheit in den unvermeidlichen Konflikten. Um die Bewahrung der Schöpfung und die Erhaltung der Kirche. Um Trost für die Trauernden und um Linderung von Leid und Schmerz. Das Vaterunser sprechen wir gemeinsam. Danach noch ein Liedvers: „Verleih und Frieden gnädiglich, Herr Gott zu unsern Zeiten. Es ist ja doch kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du unser Gott alleine.“ Wir bitten um Segen, für uns, für alle. Dann ist es schon vorbei. Zehn Minuten, aus der Zeit genommen. Eine Zeit ohne Effizienz und Leistungsdruck. Es kommt vor, dass leise Tränen fließen oder dass gelacht wird. Beim Rausgehen kurzer Austausch: Lange nicht gesehen, wie geht es dir, gehst du mit zum Essen? Auf dem Weg zurück über den Vorplatz des Hauses klingt die Ruhe nach. Worum bitten wir da eigentlich? Was erwarten wir von Gott, mit diesem täglichen Gebet? Hört er uns, bewegt es ihn?
Die Regelmäßigkeit des täglichen Gebetes trägt diese Fragen mit, lässt Zweifel zu. Allein gingen mir manche Bitten schwer über die Lippen. Im gemeinsamen Gebet bin ich getragen, spreche mit, lege das, was mich bewegt, Gott vor. Auf Hoffnung hin.
II.
Wer ist unser Gegenüber, wenn wir beten? Zu wem wenden wir uns, mit Dank und Bitte, Klage und Freudengesang? Verhallt das alles ungehört, oder wirkt bestenfalls durch die innere Ruhe, die sich einstellt? Dass Beten nicht einfach so zur Wunscherfüllung führt, wissen schon kleine Kinder. Warum tun wir es dann trotzdem?
Im Johannesevangelium fordert Jesus seine Freundinnen und Freunde zum Beten auf:
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er's euch geben. Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so werdet ihr empfangen, auf dass eure Freude vollkommen sei. Das habe ich euch in Bildern gesagt. Es kommt die Stunde, da ich nicht mehr in Bildern mit euch reden werde, sondern euch frei heraus verkündigen von meinem Vater. An jenem Tage werdet ihr bitten in meinem Namen. Und ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde; denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und glaubt, dass ich von Gott ausgegangen bin. Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater. Sprechen zu ihm seine Jünger: Siehe, nun redest du frei heraus und nicht in einem Bild. Nun wissen wir, dass du alle Dinge weißt und bedarfst dessen nicht, dass dich jemand fragt. Darum glauben wir, dass du von Gott ausgegangen bist. Jesus antwortete ihnen: Jetzt glaubt ihr?
Siehe, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeder in das Seine, und mich allein lasst. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.
Dies habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.
So ist es in der Welt, so ist es jetzt: Abschiedsschmerz und Angst. Wir müssen uns verabschieden, immer wieder: Von Hoffnungen und Plänen, die sich nicht verwirklichen lassen. Von Menschen, die uns verlassen, weil sie sterben, oder weil Beziehungen enden. Von Träumen und von Lebensenergie, die sich verbraucht haben. Vergangenes belastet. Zukunft bleibt unsicher. Nur der Tod ist sicher. „In der Welt habt ihr Angst“ – und es ist schon ein großer Schritt, das überhaupt zuzugeben: Ja, ich habe Angst. Vor falschen Entscheidungen und davor, Fehler zu machen. Vor Krankheit und Tod. Vor Missverständnissen und vor den Folgen unserer Lebensweise. Davor, nicht angenommen, nicht geliebt zu werden, und nicht genug zu lieben, andere zu enttäuschen. In der Welt habt ihr Angst – Jesus sagt uns das auf den Kopf zu. Es hat keinen Sinn, sich die Welt schönzureden. Und das heißt auch: Er kennt diese Angst. Er kennt Abschied und Verlassenheit, Schmerz und Tod. Die Szene, die wir sehen, spielt in der Erzählung des Evangeliums vor seiner Leidensgeschichte, vor Kreuz und Tod – das alles steht ihm noch bevor. Erzählt wird diese Geschichte aber erst nach der Ostererfahrung. Der tote Jesus lebt. Die Grenzen der Welt sind nicht seine Grenzen. Aber das lässt sich innerhalb dieser Grenzen, wo wir sind, nicht begreifen.
III.
Eines Tages aber, eines Tages wird alles ganz klar sein:
Wir werden erkennen, was wahr ist. Wer die Wahrheit sagt und wer lügt. Was wir tun sollen, und was wir lassen müssen.
Eines Tages, und diese Stunde kommt, werden wir frei sein. Wir werden frei denken und frei reden, niemand wird uns den Mund verbieten, schon gar nicht wir selbst.
Wir werden sehen, welcher Weg zur Liebe führt und zum Guten.
An jenem Tag werden wir keine Angst haben. Nicht davor, zu versagen und nicht vor Krankheit und Schmerzen. Nicht vor den Mächtigen, die mit Gewalt herrschen und nicht vor Krieg und Zerstörung. Wir werden das Ruder herumreißen und die Waffen begraben. Unsere Schuld wird uns klar vor Augen stehen und wir werden den Mut haben, sie zu bekennen. Und wir werden umkehren und den Schaden, den wir angerichtet haben, wieder gut machen. Es wird ganz leicht sein, weil wir keine Angst haben. Die Wahrheit wird auf dem Tisch liegen, ungeschminkt, wir müssen sie nur genau ansehen und akzeptieren.
Eines Tages, und die Stunde wird kommen, machen wir die Tür auf, und die Liebe kann einfach hereinkommen. Sie wird das Gesicht eines Kindes haben oder das der Nachbarin oder ein ganz anderes. Und der Menschensohn wird sagen: So habe ich mir das gedacht mit euch. Dass ihr mich hereinlasst in eure Wohnungen und in euer Leben. Dass Ihr euch nicht schämt, um die einfachsten Dinge zu bitten: Zuwendung. Verständnis. Wahrhaftigkeit. Ihr braucht vor dieser Wahrheit keine Angst zu haben.
Eins Tages werden wir das alles ganz klar sehen: Dass wir geliebt werden und deshalb wahrhaftige Menschen sind. So hat er sich uns gedacht. Es wird ganz leicht sein und wir werden so miteinander leben, dass jeder diese Liebe erfährt.
Eines Tages. Und dieser Tag wird kommen.
Und bis dahin?
Bis dahin leben wir in der Welt. Nicht ohne Angst, aber mit der Möglichkeit, ihm diese Angst hinzuhalten im Gebet. Ihn zu bitten und zu fragen. Wo finden wir deine Wahrheit? Wie hast du das gemeint – wie hast du uns gemeint? Dann wird er uns wieder seine Geschichte erzählen: Wie er als Mensch lebte, verletzlich und bedürftig. Wie er alles, was uns Angst macht, auch durchlebte. Und wie ihn das alles bewegt, was wir ihm erzählen. Unsere Bitten, unsere Gebete, sind alle auch in seiner Geschichte enthalten. Und er nimmt das, was wir ihn bitten, mit, wenn er die Grenzen der Welt überwindet.
Eines Tages wird das alles ganz klar sein. Und bis dahin können wir suchen, fragen, um seine Wahrheit bitten. Ihm unsere Geschichten und unsere Bitten erzählen. Sie sind bei ihm gut aufgehoben.
Amen.