Einsinge-Übungen - Predigt zu Kolosser 3,12-17 von Katharina Wiefel-Jenner
3,12-17

Einsinge-Übungen - Predigt zu Kolosser 3,12-17 von Katharina Wiefel-Jenner

Einsinge-Übungen

So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. Und der Friede Christi, zu dem ihr auch berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar. Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.

Schwestern, Brüder!

Cantate Domino! Singt! Singt Hymnen, singt Psalmen, singt Lieder! Singt Oden, rappt, schlagt den Beat! Wir haben allen Grund dazu, denn wir werden geliebt. Unter den vielen, die sich unser Gott als Geliebte hätte auswählen können, sind wir es. Uns meint Gott. Uns gilt Gottes Liebe.
Ihr müsstet es eigentlich spüren. Müsstet dieses Pochen im Bauch fühlen, diesen unverwechselbaren Rhythmus, dieses Summen. Aber vielleicht merkt ihr von Gottes Liebe nur dieses kurze Beben, das im morgendlichen Aufwachen noch da ist und sofort wieder verschwindet. Gottes Liebe ist ja auch ganz zart, weht nur wie ein Hauch. Wer sie nicht kennt, ahnt womöglich nur, dass da etwas ist.
Singt, wenn ihr den Herzschlag von Gottes Liebe spürt! Und wenn es nur der Kopf weiß und das Herz nicht spürt, singt trotzdem! Wenn ihr erst eingesungen seid, dann weiß auch das Herz endlich, was der Kopf wahrnimmt.

Machen wir ein paar erste Übungen, damit die Stimme klingen kann und das Herz die Liebe Gottes ergreift.

Dehnen wir uns. Öffnen wir die Augen, steigen wir auf die Zehenspitzen und strecken die Arme in die Luft. Greifen wir nach den Sternen, holen sie zu uns auf die Erde und reichen sie unserem Gegenüber. Herzliches Erbarmen heißt die Dehnungsübung. Wir strecken uns dem Himmel entgegen und unsere Brust wird ganz weit. Zuvor hatten wir die Arme noch vor dem Herzen verschränkt, hatten den Kopf gesenkt, den Blick irgendwohin gerichtet. Zuvor hatten wir gar nicht wahrgenommen, wie dem anderen zumute war, haben die Tränen übersehen, nicht entdeckt, wie der Blick sehnsüchtig Ausschau nach einer ausgestreckten Hand hielt. Wir haben den Hunger nicht erkannt und erst recht nicht die Scham, die peinlich den kümmerlichen Zustand verborgen hielt. Jetzt ist das Herz weit und sieht, was vor ihm verborgen war. Jetzt ahnt es, was die andere braucht. Jetzt streckt sie ihr die Hände entgegen. Und manchmal gelingt es sogar, ihr den passenden Stern direkt zu überreichen.

Schütteln wir nun die Arme aus, schütteln wir die Beine. Lockern wir uns, rütteln wir an unseren festen Ansichten. Halten wir nicht um jeden Preis an dem fest, was wir einmal für richtig befunden haben. Lassen wir zurück, was wir über den anderen zu wissen meinten. Nicht nur Arme und Beine wollen gelockert werden. Auch das Gesicht. Soll die Stimme gut klingen, muss das ganze Gesicht lächeln und freundlich sein. Freundlichkeit heißt diese Lockerungsübung. Schütteln wir die Backen aus, ziehen wir die Mundwinkel so weit es geht nach oben. Lächeln wir. Lachen wir mit den Augen und dem Mund, damit Freundlichkeit aus dem ganzen Gesicht herausschaut. Lächeln wir, damit der andere unser Interesse erkennt. Lächeln wir, damit auch umgekehrt sein Fragen unsere Aufmerksamkeit weckt. Die Freundlichkeit wirkt auch nach innen. Das freundliche Gesicht macht die Stimme schön. Sie vertreibt die Verachtung aus dem Herzen. Die Freundlichkeit lässt den abfälligen Gedanken keinen Raum mehr. Sie macht alle Besserwisserei und Rechthaberei unwirksam. Sie lässt nicht zu, dass tödliches Gift die Gemeinschaft zerstört.

Achten wir auf den Atem. Schöpfen wir den Atem mit drei tiefen Atemzügen. Bis tief in den Leib hinein soll der Atem uns durchdringen. Langsam, ganz langsam lassen wir den Atem wieder aus uns herausströmen. Diese Übung trägt den Namen Geduld. Sie könnte auch heißen: Gottes Lebenskraft in uns aufspüren oder sich daran erinnern, dass wir zu Christus gehören. Der Atem ist uns so selbstverständlich. Er ist immer da, wir können ihn nicht sehen und doch leben wir durch ihn. Atmen wir auf falsche Weise, fehlt es uns an Kraft zum Leben. Wir werden kurzatmig, die Stimme verweigert uns den Dienst. Mit Geduld wird der selbstverständliche Atemfluss zur großen Kraftquelle. Immer ist der Atem dabei – immer ist Gott da. Immer reicht der Atem für ein bisschen mehr als gedacht. Immer hat Gott noch eine Möglichkeit mehr als wir vermuten. Darum ist Geduld nötig. Richtig atmen heißt eben auch geduldig mit Gott zu sein. Der lange Atem schult die Geduld mit Gott und auch mit uns selbst.

Es ist Zeit für die ersten Töne. Die Stimme verträgt es nicht, dass sie herausgepresst werden. Lassen wir Ton für Ton mit dem Atem einfach aus uns herausfließen – mit sanfter Kraft – und hören wir auf den Klang. Sanftmut heißt diese Übung, denn nur wer sanftmütig ist, geht mit sich selbst achtsam um, schont sich und die, die zu einem gehören. Nur wer sanftmütig auf die eigene Stimme achtet, kann die richtigen Töne treffen, kann den eigenen Tönen den richtigen Klang geben, kann mit der Stimme Farben malen und Gott zwischen den Tönen erlauschen.

Wenn die Töne aus uns herauszuströmen beginnen, wird eine besondere Übung nötig. Diese Übung brauchen wir, damit die Sanftmut mit der eigenen Stimme nicht zum Hochmut im gemeinsamen Singen führt. Demut heißt die Übung. Sie ist ganz leicht und doch so schwer. Die Demut macht eigentlich nichts anderes, als während des eigenen Singens auf die anderen zu hören. Dafür reicht es bereits, sich vorzustellen, dass wir die anderen hören. Und plötzlich hören wir sie tatsächlich – wie einfach! Auf die anderen zu hören, aber dabei die eigene Stimme nicht zu verlieren – wie anspruchsvoll! Nur mit Demut kann es gelingen, die eigene Stimme zu einem gemeinsamen Stimmklang mit den anderen zu verschmelzen. Demut ist nötig, um sicher zu singen und doch um der Harmonie willen, den anderen Stimmen ihren Klangraum zu lassen. Diese Übung ist wohl auch die Schwierigste. Sie muss 7 mal 70 mal wiederholt werden. Immer und immer wieder müssen wir es üben. Denn, wenn wir meinen, wir haben es geschafft, dann ist die Gefahr, den gemeinsamen Klang zu verlieren, besonders groß.

Die letzte Übung ist eigentlich keine Übung mehr. Sie ist die Grundvoraussetzung für alles. Die letzte Übung heißt Liebe. In der Liebe kommt alles zusammen. Nur mit Liebe verbinden sich Sanftmut und Demut. Nur mit Liebe ist die Freundlichkeit fähig, das echte Lächeln durchzuhalten. Nur mit Liebe behalten wir den langen Atem. Nur durch die Liebe gehören wir zu Christus. Nur mit Liebe reichen die Arme bis zum Himmel. Nur mit Liebe können wir die Sterne vom Himmel holen und sie zu denen bringen, die im Finstern ausharren. Nur mit Liebe können wir hören. Nur mit Liebe klingen die Akkorde des Friedens auf. Nur die Liebe hört Gottes Herzschlag. Nur die Liebe lässt uns singen.

Cantate Domino! Singt, denn Gottes Liebe atmet in uns. Hört ihr den Herzschlag von Gottes Liebe? Wir sind jetzt eingesungen. Jetzt kann es in uns singen. Das Herz weiß endlich, was der Kopf wahrnimmt.
Welches Lied singen wir? Cantate Domino! Das wird uns so schnell nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Amen.