Endlich frei - Predigt zu 2. Mose 20, 1-17 von Martin Schewe
20,1
Endlich frei
(1) Stellen wir uns eine Welt vor, liebe Gemeinde, in der es keine Gebote und Verbote gibt. Stellen wir uns vor, wir dürfen tun, was uns gefällt. Endlich frei! Endlich frei?
Stellen wir uns vor, wir verlassen morgens das Haus. Weil es in unserer Welt keine Gebote und Verbote gibt, gibt es auch keine Verkehrsregeln. Aber wir haben Glück und kommen lebendig auf der anderen Straßenseite an. Dort erwartet uns jemand, der ebenfalls darf, was ihm gefällt. Leider gefällt es ihm, uns das Portemonnaie wegzunehmen. Am besten überlassen wir es ihm. Sonst schlägt er uns zusammen. In unserer Welt ist das völlig in Ordnung, und im Grunde brauchen wir das Portemonnaie überhaupt nicht. In unserer Welt bezahlt man nicht. Man nimmt sich einfach, was man braucht. Falls man es bekommt. Dafür muss man stärker sein als die anderen.
Die Auseinandersetzung mit dem Straßendieb hat dazu geführt, dass wir zu spät zur Arbeit kommen. Kein Problem in einer Welt ohne Gebote und Verbote. Es wird sowieso nicht gearbeitet. Auch die Kolleginnen und Kollegen tun, was ihnen gefällt, und sind gar nicht erst gekommen. Also wieder nach Hause – wieder vorbei an unserem Straßendieb und durch den lebensgefährlichen Verkehr. Zu Hause können wir jedoch nicht bleiben. Dort wohnt inzwischen jemand anders. Ohne Gebote und Verbote passiert das alle Tage. Uns bleibt nichts übrig, als umzuziehen. Auf eine Parkbank vielleicht? Schade, dass wir keine finden. Noch nicht einmal einen Park. In unserer Welt macht sich niemand die Mühe, einen Park anzulegen und Bänke aufzustellen. Es gibt auch keine Eisdielen, Sporthallen, Theater oder Kaufhäuser. Nichts funktioniert, wenn jeder das tun darf, was ihm gefällt. Endlich frei! Endlich frei?
Die Sache wird auch nicht besser, wenn wir uns vorstellen, dass sich zwar alle anderen an Recht und Gesetz halten müssen, bloß ich nicht. Das klingt auf Anhieb vielleicht verlockend. Ich genieße die Vorteile der öffentlichen Ordnung. Um die Nachteile brauche ich mich nicht zu kümmern. Doch freuen wir uns nicht zu früh. Denn möchten wir wirklich so leben? Auf Kosten der anderen? Wenn sich die Konfirmandinnen und Konfirmanden mit den zehn Geboten beschäftigen, sind sie sich schnell einig, dass es ohne Regeln nicht geht und dass die Regeln für jeden gelten müssen. Sonst wären sie ungerecht.
Allerdings finden die Konfirmandinnen und Konfirmanden nicht alle Regeln gleich sinnvoll und gleich notwendig. Wenn sie die zehn Gebote nach Wichtigkeit ordnen, kommt immer „Du sollst nicht töten“ auf Platz eins. „Du sollst nicht stehlen“ hat ebenfalls gute Karten und meist auch „Ehre deinen Vater und deine Mutter“. Die Eltern wird es freuen – obwohl sich das Gebot gar nicht an Jugendliche richtet, sondern an Erwachsene, die sich um ihre alt gewordenen Eltern kümmern sollen. Bei „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden“ sind sich die Jugendlichen nicht sicher, was sie davon halten sollen. Sie verstehen „Du sollst nicht lügen“ und fragen sich mit Recht, ob das tatsächlich immer gilt. Und mit einigen der zehn Gebote können sie auf Anhieb gar nichts anfangen. Eins dieser weniger populären Gebote möchte ich daher etwas genauer unter die Lupe nehmen und am Beispiel dieses Gebots zu zeigen versuchen, wie klug auch diejenigen der zehn Gebote sind, die wir möglicherweise ein bisschen unterschätzen. Dazu erinnere ich zunächst an ein Sprichwort. „Müßiggang ist aller Laster Anfang“, sagt das Sprichwort, liebe Gemeinde.
(2) Natürlich hat das Sprichwort recht. Sprichwörter haben immer recht. Fast immer. Sprichwörter sind Lebensweisheiten, durch lange Erfahrung bestätigt. Auch dieses: „Müßiggang ist aller Laster Anfang.“ Etwa nicht? Das Wort „Müßiggang“ klingt zwar ein bisschen veraltet, und wenn wir von einem „Laster“ sprechen, meinen wir in der Regel einen Lastkraftwagen, nicht einen Charakterfehler oder eine schlechte Angewohnheit. Aber so gut verstehen wir das Sprichwort trotz der altertümlichen Ausdrucksweise: Wer nichts tut, verstehen wir, bringt es zu nichts. Wer faulenzt, gerät auf die schiefe Bahn. Etwa nicht?
Wie recht das Sprichwort hat, erfahren die Jugendlichen in der Schule. Wenn sie sich da nicht anstrengen, bekommen sie schlechte Noten. Wenn sie schlechte Noten bekommen, werden sie nicht versetzt. Wenn sie nicht versetzt werden, schaffen sie es womöglich nicht zum Abitur und dürfen nicht studieren. Bis dahin ist es zwar noch weit, aber anstrengen müssen sich die Schülerinnen und Schüler jetzt schon. Und weil Müßiggang aller Laster Anfang ist, lernen sie dasselbe, was man früher in neun Jahren Gymnasium lernte, jetzt in acht und gehen deshalb auch nachmittags in die Schule. Natürlich zu ihrem eigenen Besten. Etwa nicht?
In der Bibel gibt es ein kleines Spottgedicht über den Faulpelz. Es lautet: „Geh zur Ameise, du Fauler, sieh dir ihre Wege an, und werde weise. / Obwohl sie keinen Anführer hat, keinen Aufseher und Herrscher, / sorgt sie im Sommer für ihr Futter, sammelt sie in der Erntezeit ihre Nahrung. / Wie lange, du Fauler, willst du liegen bleiben, wann willst du aufstehen von deinem Schlaf? / Noch ein wenig schlafen, noch ein wenig schlummern, noch ein wenig die Hände ineinander legen und liegen bleiben – / da kommt wie ein Räuber die Armut über dich und wie ein bewaffneter Mann der Mangel.“
Das Gedicht wirft dem Faulpelz seine Dummheit vor. „Noch ein wenig schlafen, noch ein wenig schlummern“, heißt sein Motto, „noch ein wenig die Hände ineinander legen und liegen bleiben.“ Keine gute Idee, hält ihm das Gedicht entgegen. Wer sich nicht aufraffen kann, gerät in Armut und Not. Deshalb soll sich der Faulpelz ein Beispiel an der Ameise nehmen. Die sorgt vor und braucht keinen Anführer, Aufseher oder Herrscher, der sie antreibt. Die kluge Ameise weiß, worauf es ankommt.
Das kleine Gedicht steht im Alten Testament, im Buch „Sprüche“, einer Sammlung von Lebensweisheiten. Ein anderes Sprichwort über die Faulheit wird im Neuen Testament zitiert, im Titusbrief. „Kreter sind stets Lügner, wilde Tiere und faule Bäuche“, heißt es da. Wieso gerade die Kreter in einem dermaßen schlechten Ruf stehen,braucht uns im Moment nicht zu interessieren. Ich nehme nicht an, dass sie ihn verdient haben. Auffällig ist jedenfalls, dass nach dem Zitat aus dem Titusbrief Faulheit nicht nur dumm ist, sondern sogar böse. „Lügner, wilde Tiere und faule Bäuche“ werden die Kreter genannt, ganz und gar verkommen. Wer faul ist, lügt und stiehlt offenbar auch.
Zum Glück hat die Bibel noch mehr zu unserem Thema zu sagen, und damit sind wir wieder bei den zehn Geboten. Im Zweiten Buch Mose lautet das vierte Gebot: „Denke an den Sabbattag und halte ihn heilig. Sechs Tage sollst du arbeiten und all deine Arbeit tun; der siebte Tag aber ist ein Sabbat für den Herrn, deinen Gott. Da darfst du keinerlei Arbeit tun, weder du selbst noch dein Sohn oder deine Tochter, dein Knecht oder deine Magd noch dein Vieh oder der Fremde bei dir in deinen Toren. Denn in sechs Tagen hat der Herr den Himmel und die Erde gemacht, das Meer und alles, was in ihnen ist, dann aber ruhte er am siebten Tag. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn geheiligt.“
(3) „Müßiggang ist aller Laster Anfang“, haben wir gehört und uns gefragt, was daran ist. Fast sah es so aus, als müssten wir uns schämen, wenn wir nicht ständig beschäftigt sind. Genauso leben wir auch: als dürfte sich ein anständiger Mensch keine Pause gönnen – ein anständiger Schüler oder eine anständige Schülerin keinen freien Nachmittag, ein anständiger Erwachsener keinen Tag ohne Termine und Pflichten. Sogar unsere Freizeit ist immer schon verplant: mit Fitness- und Wellnessaktivitäten, Einkaufstouren und lange verschobenen Kinobesuchen. Jetzt ist endlich Gelegenheit dazu – ob wir wirklich Freude daran haben oder nicht. Und das Handy ist sogar im Restaurant auf Empfang.
Wer herausfinden will, wie viele E-Mails auf der Welt verschickt werden, informiert sich wahrscheinlich am besten im Internet und stößt dort auf eine abenteuerliche Zahl. Das heißt, er stößt auf mehrere Zahlen, je nachdem auf welcher Website er sich informiert. Genau weiß offenbar niemand, wie viele E-Mails es sind, aber abenteuerlich sind die Zahlen alle. 171 Milliarden täglich, habe ich gefunden, 71 Prozent davon Spam-Mails. 171 Milliarden E-Mails – unter so viel Druck setzen wir uns. Denn wenigstens die 29 Prozent Mails, die kein Spam sind, wollen auch beantwortet werden. Das sind, wenn ich mich nicht verrechnet habe, immer noch knapp fünfzig Milliarden E-Mails; sieben, die jeder der ungefähr sieben Milliarden Menschen auf der Welt jeden Tag bekommt und beantworten soll. Dabei sind Babys und Kleinkinder, Analphabeten und die Menschen mitgerechnet, die keinen Computer haben. Für die anderen gibt es entsprechend mehr zu tun. Schaffen Sie es, liebe Gemeinde, schafft ihr es, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, täglich siebzehn oder womöglich siebzig einigermaßen vernünftige Briefe zu schreiben? „Müßiggang ist aller Laster Anfang“,sagt das Sprichwort. Unser Problem besteht nicht darin, dass wir nicht genug tun. Das Problem ist, dass wir viel zu viel tun.
Das vierte Gebot, das Sabbatgebot, rückt die Dinge ins richtige Licht. „Sechs Tage sollst du arbeiten“ –ja, denn ohne Arbeit geht es nicht. Darin können wir uns ein Beispiel an der klugen Ameise nehmen. Aber am siebten Tag soll Gott selber unser Vorbild sein. „Da darfst du keinerlei Arbeit tun, weder du selbst noch dein Sohn oder deine Tochter, dein Knecht oder deine Magd noch dein Vieh oder der Fremde bei dir in deinen Toren. Denn in sechs Tagen hat der Herr den Himmel und die Erde gemacht, das Meer und alles, was in ihnen ist, dann aber ruhte er am siebten Tag.“ Die Bibel erzählt, dass Gott die Welt an sechs Tagen schafft, weil es ihr auf den siebten ankommt. Er ist der wichtigste von allen, das Beste an der ganzen Schöpfung: der Tag, an dem wir nicht für etwas anderes da sind – unsere Aufgaben, unseren Lebensunterhalt –, sondern nur für uns selbst.
Bisher haben wir das altertümliche Wort „Müßiggang“ mit „Faulheit“ übersetzt. Wenn das gemeint ist, behält das Sprichwort vermutlich recht. Wer faul ist, verpasst viel. Ganz anders sieht die Sache aus, wenn wir stattdessen „Muße“ sagen. Dann stimmt das Sprichwort nicht mehr. Muße ist nicht nur erlaubt. Sie muss sein und darum auch der Müßiggang. Recherchieren wir wieder im Internet, dann finden wir bei Wikipedia: „Müßiggang ist das Aufsuchen der Muße, das entspannte und von Pflichten freie Ausleben, nicht die Erholung von besonderen Stresssituationen oder körperlichen Belastungen. Er geht z.B. mit geistigen Genüssen oder leichten vergnüglichen Tätigkeiten einher, kann jedoch auch das reine Nichtstun bedeuten.“
Geistige Genüsse, leichte vergnügliche Tätigkeiten oder auch das reine Nichtstun – genau das empfiehlt das vierte Gebot. Im Fünften Buch Mose wird das Gebot wiederholt, diesmal mit einer anderen Erklärung, worum es am Sabbat, beim Ausruhen, bei der Muße geht: „Und denke daran, dass du Sklave gewesen bist im Land Ägypten und dass der Herr, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat mit starker Hand und ausgerecktem Arm. Darum hat dir der Herr, dein Gott, geboten, den Sabbattag zu halten.“ Am Sabbat, heißt das, gibt es keine Sklaven. Am Sabbat, wenn wir Zeit für uns selbst haben, sind wir alle Herrinnen und Herren.Lassen wir daher den Computer aus und spielen lieber eine Partie „Mensch, ärgere dich nicht“.
(4) Begonnen, liebe Gemeinde, haben wir mit einer Welt ohne Gebote und Verbote. Endlich frei? Eine Katastrophe! Nichts funktionierte. Dann haben wir uns vorgestellt, alle anderen müssten sich an Regeln halten, nur wir selber nicht. Auch nicht besser. So wollten wir nicht leben. Deshalb brauchen wir die zehn Gebote und noch ein paar mehr. Ohne sie finden wir uns schlecht zurecht. Das sollte uns das Sabbatgebot zeigen.
Wozu es gut ist, steht am Anfang der zehn Gebote, als eine Art Überschrift. Dort sagt Gott dem Volk Israel, warum er ihm Gebote gibt. „Ich bin der Herr, dein Gott“, sagt er, „der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus.“ Deshalb gelten sie, die zehn Gebote und die anderen, die Gott gibt: nicht weil er ein Spielverderber ist, sondern weil Gott uns wünscht, dass wir wirklich frei werden und frei bleiben.
(Bibelstellen zitiere ich nach der Zürcher Bibel 2007. Das Spottgedicht über den Faulpelz steht Sprüche 6,6-11, die Redensart über die Kreter Titus 1,12. Die Angaben zur Zahl der täglich versendeten E-Mails variieren auf hohem Niveau. 171 Milliarden werden in einem „Zeit“-Artikel von Ulrich Schnabel genannt [http://www.zeit.de/2010/01/Die-Wiederentdeckung-des-Nichtstuns], der sich seinerseits auf ein Buch von Miriam Meckel beruft. Die Formulierung, dass wir am Ruhetag nicht Knechte sind, sondern Herren, verdanke ich einem Aufsatz von Robert Spaemann [Der Anschlag auf den Sonntag; in: Robert Spaemann, Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001, S.273-280].)
(1) Stellen wir uns eine Welt vor, liebe Gemeinde, in der es keine Gebote und Verbote gibt. Stellen wir uns vor, wir dürfen tun, was uns gefällt. Endlich frei! Endlich frei?
Stellen wir uns vor, wir verlassen morgens das Haus. Weil es in unserer Welt keine Gebote und Verbote gibt, gibt es auch keine Verkehrsregeln. Aber wir haben Glück und kommen lebendig auf der anderen Straßenseite an. Dort erwartet uns jemand, der ebenfalls darf, was ihm gefällt. Leider gefällt es ihm, uns das Portemonnaie wegzunehmen. Am besten überlassen wir es ihm. Sonst schlägt er uns zusammen. In unserer Welt ist das völlig in Ordnung, und im Grunde brauchen wir das Portemonnaie überhaupt nicht. In unserer Welt bezahlt man nicht. Man nimmt sich einfach, was man braucht. Falls man es bekommt. Dafür muss man stärker sein als die anderen.
Die Auseinandersetzung mit dem Straßendieb hat dazu geführt, dass wir zu spät zur Arbeit kommen. Kein Problem in einer Welt ohne Gebote und Verbote. Es wird sowieso nicht gearbeitet. Auch die Kolleginnen und Kollegen tun, was ihnen gefällt, und sind gar nicht erst gekommen. Also wieder nach Hause – wieder vorbei an unserem Straßendieb und durch den lebensgefährlichen Verkehr. Zu Hause können wir jedoch nicht bleiben. Dort wohnt inzwischen jemand anders. Ohne Gebote und Verbote passiert das alle Tage. Uns bleibt nichts übrig, als umzuziehen. Auf eine Parkbank vielleicht? Schade, dass wir keine finden. Noch nicht einmal einen Park. In unserer Welt macht sich niemand die Mühe, einen Park anzulegen und Bänke aufzustellen. Es gibt auch keine Eisdielen, Sporthallen, Theater oder Kaufhäuser. Nichts funktioniert, wenn jeder das tun darf, was ihm gefällt. Endlich frei! Endlich frei?
Die Sache wird auch nicht besser, wenn wir uns vorstellen, dass sich zwar alle anderen an Recht und Gesetz halten müssen, bloß ich nicht. Das klingt auf Anhieb vielleicht verlockend. Ich genieße die Vorteile der öffentlichen Ordnung. Um die Nachteile brauche ich mich nicht zu kümmern. Doch freuen wir uns nicht zu früh. Denn möchten wir wirklich so leben? Auf Kosten der anderen? Wenn sich die Konfirmandinnen und Konfirmanden mit den zehn Geboten beschäftigen, sind sie sich schnell einig, dass es ohne Regeln nicht geht und dass die Regeln für jeden gelten müssen. Sonst wären sie ungerecht.
Allerdings finden die Konfirmandinnen und Konfirmanden nicht alle Regeln gleich sinnvoll und gleich notwendig. Wenn sie die zehn Gebote nach Wichtigkeit ordnen, kommt immer „Du sollst nicht töten“ auf Platz eins. „Du sollst nicht stehlen“ hat ebenfalls gute Karten und meist auch „Ehre deinen Vater und deine Mutter“. Die Eltern wird es freuen – obwohl sich das Gebot gar nicht an Jugendliche richtet, sondern an Erwachsene, die sich um ihre alt gewordenen Eltern kümmern sollen. Bei „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden“ sind sich die Jugendlichen nicht sicher, was sie davon halten sollen. Sie verstehen „Du sollst nicht lügen“ und fragen sich mit Recht, ob das tatsächlich immer gilt. Und mit einigen der zehn Gebote können sie auf Anhieb gar nichts anfangen. Eins dieser weniger populären Gebote möchte ich daher etwas genauer unter die Lupe nehmen und am Beispiel dieses Gebots zu zeigen versuchen, wie klug auch diejenigen der zehn Gebote sind, die wir möglicherweise ein bisschen unterschätzen. Dazu erinnere ich zunächst an ein Sprichwort. „Müßiggang ist aller Laster Anfang“, sagt das Sprichwort, liebe Gemeinde.
(2) Natürlich hat das Sprichwort recht. Sprichwörter haben immer recht. Fast immer. Sprichwörter sind Lebensweisheiten, durch lange Erfahrung bestätigt. Auch dieses: „Müßiggang ist aller Laster Anfang.“ Etwa nicht? Das Wort „Müßiggang“ klingt zwar ein bisschen veraltet, und wenn wir von einem „Laster“ sprechen, meinen wir in der Regel einen Lastkraftwagen, nicht einen Charakterfehler oder eine schlechte Angewohnheit. Aber so gut verstehen wir das Sprichwort trotz der altertümlichen Ausdrucksweise: Wer nichts tut, verstehen wir, bringt es zu nichts. Wer faulenzt, gerät auf die schiefe Bahn. Etwa nicht?
Wie recht das Sprichwort hat, erfahren die Jugendlichen in der Schule. Wenn sie sich da nicht anstrengen, bekommen sie schlechte Noten. Wenn sie schlechte Noten bekommen, werden sie nicht versetzt. Wenn sie nicht versetzt werden, schaffen sie es womöglich nicht zum Abitur und dürfen nicht studieren. Bis dahin ist es zwar noch weit, aber anstrengen müssen sich die Schülerinnen und Schüler jetzt schon. Und weil Müßiggang aller Laster Anfang ist, lernen sie dasselbe, was man früher in neun Jahren Gymnasium lernte, jetzt in acht und gehen deshalb auch nachmittags in die Schule. Natürlich zu ihrem eigenen Besten. Etwa nicht?
In der Bibel gibt es ein kleines Spottgedicht über den Faulpelz. Es lautet: „Geh zur Ameise, du Fauler, sieh dir ihre Wege an, und werde weise. / Obwohl sie keinen Anführer hat, keinen Aufseher und Herrscher, / sorgt sie im Sommer für ihr Futter, sammelt sie in der Erntezeit ihre Nahrung. / Wie lange, du Fauler, willst du liegen bleiben, wann willst du aufstehen von deinem Schlaf? / Noch ein wenig schlafen, noch ein wenig schlummern, noch ein wenig die Hände ineinander legen und liegen bleiben – / da kommt wie ein Räuber die Armut über dich und wie ein bewaffneter Mann der Mangel.“
Das Gedicht wirft dem Faulpelz seine Dummheit vor. „Noch ein wenig schlafen, noch ein wenig schlummern“, heißt sein Motto, „noch ein wenig die Hände ineinander legen und liegen bleiben.“ Keine gute Idee, hält ihm das Gedicht entgegen. Wer sich nicht aufraffen kann, gerät in Armut und Not. Deshalb soll sich der Faulpelz ein Beispiel an der Ameise nehmen. Die sorgt vor und braucht keinen Anführer, Aufseher oder Herrscher, der sie antreibt. Die kluge Ameise weiß, worauf es ankommt.
Das kleine Gedicht steht im Alten Testament, im Buch „Sprüche“, einer Sammlung von Lebensweisheiten. Ein anderes Sprichwort über die Faulheit wird im Neuen Testament zitiert, im Titusbrief. „Kreter sind stets Lügner, wilde Tiere und faule Bäuche“, heißt es da. Wieso gerade die Kreter in einem dermaßen schlechten Ruf stehen,braucht uns im Moment nicht zu interessieren. Ich nehme nicht an, dass sie ihn verdient haben. Auffällig ist jedenfalls, dass nach dem Zitat aus dem Titusbrief Faulheit nicht nur dumm ist, sondern sogar böse. „Lügner, wilde Tiere und faule Bäuche“ werden die Kreter genannt, ganz und gar verkommen. Wer faul ist, lügt und stiehlt offenbar auch.
Zum Glück hat die Bibel noch mehr zu unserem Thema zu sagen, und damit sind wir wieder bei den zehn Geboten. Im Zweiten Buch Mose lautet das vierte Gebot: „Denke an den Sabbattag und halte ihn heilig. Sechs Tage sollst du arbeiten und all deine Arbeit tun; der siebte Tag aber ist ein Sabbat für den Herrn, deinen Gott. Da darfst du keinerlei Arbeit tun, weder du selbst noch dein Sohn oder deine Tochter, dein Knecht oder deine Magd noch dein Vieh oder der Fremde bei dir in deinen Toren. Denn in sechs Tagen hat der Herr den Himmel und die Erde gemacht, das Meer und alles, was in ihnen ist, dann aber ruhte er am siebten Tag. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn geheiligt.“
(3) „Müßiggang ist aller Laster Anfang“, haben wir gehört und uns gefragt, was daran ist. Fast sah es so aus, als müssten wir uns schämen, wenn wir nicht ständig beschäftigt sind. Genauso leben wir auch: als dürfte sich ein anständiger Mensch keine Pause gönnen – ein anständiger Schüler oder eine anständige Schülerin keinen freien Nachmittag, ein anständiger Erwachsener keinen Tag ohne Termine und Pflichten. Sogar unsere Freizeit ist immer schon verplant: mit Fitness- und Wellnessaktivitäten, Einkaufstouren und lange verschobenen Kinobesuchen. Jetzt ist endlich Gelegenheit dazu – ob wir wirklich Freude daran haben oder nicht. Und das Handy ist sogar im Restaurant auf Empfang.
Wer herausfinden will, wie viele E-Mails auf der Welt verschickt werden, informiert sich wahrscheinlich am besten im Internet und stößt dort auf eine abenteuerliche Zahl. Das heißt, er stößt auf mehrere Zahlen, je nachdem auf welcher Website er sich informiert. Genau weiß offenbar niemand, wie viele E-Mails es sind, aber abenteuerlich sind die Zahlen alle. 171 Milliarden täglich, habe ich gefunden, 71 Prozent davon Spam-Mails. 171 Milliarden E-Mails – unter so viel Druck setzen wir uns. Denn wenigstens die 29 Prozent Mails, die kein Spam sind, wollen auch beantwortet werden. Das sind, wenn ich mich nicht verrechnet habe, immer noch knapp fünfzig Milliarden E-Mails; sieben, die jeder der ungefähr sieben Milliarden Menschen auf der Welt jeden Tag bekommt und beantworten soll. Dabei sind Babys und Kleinkinder, Analphabeten und die Menschen mitgerechnet, die keinen Computer haben. Für die anderen gibt es entsprechend mehr zu tun. Schaffen Sie es, liebe Gemeinde, schafft ihr es, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, täglich siebzehn oder womöglich siebzig einigermaßen vernünftige Briefe zu schreiben? „Müßiggang ist aller Laster Anfang“,sagt das Sprichwort. Unser Problem besteht nicht darin, dass wir nicht genug tun. Das Problem ist, dass wir viel zu viel tun.
Das vierte Gebot, das Sabbatgebot, rückt die Dinge ins richtige Licht. „Sechs Tage sollst du arbeiten“ –ja, denn ohne Arbeit geht es nicht. Darin können wir uns ein Beispiel an der klugen Ameise nehmen. Aber am siebten Tag soll Gott selber unser Vorbild sein. „Da darfst du keinerlei Arbeit tun, weder du selbst noch dein Sohn oder deine Tochter, dein Knecht oder deine Magd noch dein Vieh oder der Fremde bei dir in deinen Toren. Denn in sechs Tagen hat der Herr den Himmel und die Erde gemacht, das Meer und alles, was in ihnen ist, dann aber ruhte er am siebten Tag.“ Die Bibel erzählt, dass Gott die Welt an sechs Tagen schafft, weil es ihr auf den siebten ankommt. Er ist der wichtigste von allen, das Beste an der ganzen Schöpfung: der Tag, an dem wir nicht für etwas anderes da sind – unsere Aufgaben, unseren Lebensunterhalt –, sondern nur für uns selbst.
Bisher haben wir das altertümliche Wort „Müßiggang“ mit „Faulheit“ übersetzt. Wenn das gemeint ist, behält das Sprichwort vermutlich recht. Wer faul ist, verpasst viel. Ganz anders sieht die Sache aus, wenn wir stattdessen „Muße“ sagen. Dann stimmt das Sprichwort nicht mehr. Muße ist nicht nur erlaubt. Sie muss sein und darum auch der Müßiggang. Recherchieren wir wieder im Internet, dann finden wir bei Wikipedia: „Müßiggang ist das Aufsuchen der Muße, das entspannte und von Pflichten freie Ausleben, nicht die Erholung von besonderen Stresssituationen oder körperlichen Belastungen. Er geht z.B. mit geistigen Genüssen oder leichten vergnüglichen Tätigkeiten einher, kann jedoch auch das reine Nichtstun bedeuten.“
Geistige Genüsse, leichte vergnügliche Tätigkeiten oder auch das reine Nichtstun – genau das empfiehlt das vierte Gebot. Im Fünften Buch Mose wird das Gebot wiederholt, diesmal mit einer anderen Erklärung, worum es am Sabbat, beim Ausruhen, bei der Muße geht: „Und denke daran, dass du Sklave gewesen bist im Land Ägypten und dass der Herr, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat mit starker Hand und ausgerecktem Arm. Darum hat dir der Herr, dein Gott, geboten, den Sabbattag zu halten.“ Am Sabbat, heißt das, gibt es keine Sklaven. Am Sabbat, wenn wir Zeit für uns selbst haben, sind wir alle Herrinnen und Herren.Lassen wir daher den Computer aus und spielen lieber eine Partie „Mensch, ärgere dich nicht“.
(4) Begonnen, liebe Gemeinde, haben wir mit einer Welt ohne Gebote und Verbote. Endlich frei? Eine Katastrophe! Nichts funktionierte. Dann haben wir uns vorgestellt, alle anderen müssten sich an Regeln halten, nur wir selber nicht. Auch nicht besser. So wollten wir nicht leben. Deshalb brauchen wir die zehn Gebote und noch ein paar mehr. Ohne sie finden wir uns schlecht zurecht. Das sollte uns das Sabbatgebot zeigen.
Wozu es gut ist, steht am Anfang der zehn Gebote, als eine Art Überschrift. Dort sagt Gott dem Volk Israel, warum er ihm Gebote gibt. „Ich bin der Herr, dein Gott“, sagt er, „der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus.“ Deshalb gelten sie, die zehn Gebote und die anderen, die Gott gibt: nicht weil er ein Spielverderber ist, sondern weil Gott uns wünscht, dass wir wirklich frei werden und frei bleiben.
(Bibelstellen zitiere ich nach der Zürcher Bibel 2007. Das Spottgedicht über den Faulpelz steht Sprüche 6,6-11, die Redensart über die Kreter Titus 1,12. Die Angaben zur Zahl der täglich versendeten E-Mails variieren auf hohem Niveau. 171 Milliarden werden in einem „Zeit“-Artikel von Ulrich Schnabel genannt [http://www.zeit.de/2010/01/Die-Wiederentdeckung-des-Nichtstuns], der sich seinerseits auf ein Buch von Miriam Meckel beruft. Die Formulierung, dass wir am Ruhetag nicht Knechte sind, sondern Herren, verdanke ich einem Aufsatz von Robert Spaemann [Der Anschlag auf den Sonntag; in: Robert Spaemann, Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001, S.273-280].)
Perikope