Endstation Sehnsucht - Predigt zu Matthäus 28,16–20 von Henning Kiene
28,16-20

Die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten. Und Jesus trat herzu, redete mit ihnen und sprach: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und lehret alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Liebe Gemeinde,

da sitzen die anreisenden Gäste mit mir im Zug, der ruckelt gemächlich über unsere Insel. Ich sehe die Augen, die leuchten voller Vorfreude. Sommer, Sonne, Strand, Meer erwarten sie. Wer hier auf dem Hinweg zum verdienten Urlaub ist und sich nicht freut, ist selbst schuld. Endstation Swinemünde, steht vorne am Zug. Endstation Sehnsucht, müsste dort eigentlich aufleuchten. Der Zug leert sich von Station zu Station. Am Zielbahnhof steht er dann leer, es ist still, Ende der Reise, Ende der Gleise. Der alte Prellbock steht noch da, am letzten Ende der langen Fahrt zur Sicherheit, damit der Zug nicht über das Ziel hinausschießt. Er zeigt, die Fahrgäste werden an der Endstation vor Unglücken bewahrt. Das Gefühl, am Ende in die Leere stürzen zu können, kommt hier nicht auf.

Meine Taufurkunde ist für mich so eine Art Prellbock. Sie sagt mir: Wenn die Spur deines Lebens das Ende der Welt erreichen sollte, dann wird Gott dich nicht runterfallen lassen. Da ist ein Halt, der ist dir sicher.

Ich kann den Tag meiner Taufe nicht erinnern. Meine Eltern sagten, sie wollten das Beste für mich. Sie waren beruhigt, nach der Taufe. Man könne nicht so genau wissen, was auf einen Menschen zukomme, sie würden ja nicht ewig für mich da sein und immer für uns Kinder sorgen. Wohin die Lebensreise auch immer gehen würde, sei ja offen. Die Taufe gab ihnen die Gewissheit, dass alles gut sein wird. Und ich spürte bei dem Wort Taufe eine Gelassenheit, die es sonst nicht gab.

Jede Reise, die Menschen an das Meer führt, geht auch in Richtung Ende der Welt. Das spüren wir nicht nur in den Zügen, mit denen unsere Urlauber*innen anreisen. Das wird vor allem am Meer gegenwärtig. Unbegrenzter Horizont öffnet sich und ein Sternenhimmel, dessen Tiefe seinesgleichen sucht. Da schlagen die Wellen an den Strand, unter den Füßen knirschen die Schalen der Muscheln. Hier krabbelt, wie am Anfang, erstes Leben aus dem Wasser, um sich an Land weiterzuentwickeln.

Das Ende der Welt wird zur Nahtstelle zwischen bewohnbarem Land und wogendem Meer. Für uns ist der Lebensraum von hier an feindlich. Mit dem Meer öffnen sich Untiefen und Wasser voller Gefahren. Allein geht es hier nicht weiter. Der Glaube an Jesus Christus bewahrt mich an den Endpunkten meines Lebens, er schützt vor Absturz.

Ende der Welt, auf Latein sagt man: finis terrae. Hier herrscht nur noch Gefahr. Und mit solcher Gefahr spielt auch der Urlaub am Meer. Wir, die Kinder, kannten bald die Untiefen am Strand und spürten das Reißen der Strömung. Unser Vater las uns abends an den Betten die Abenteuer von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer vor. Da bauen Lukas und Jim die Lokomotive Emma um, so, dass sie auf dem Meer schwimmen und weit reisen kann. Sie erreichen das Ende der Welt. Für Jim Knopf liegt das im Barbarischen Meer. Meere mit solchen Namen meiden die Meeresbewohner. Seefahrer reisen im großen Bogen um solche Regionen herum. Aber Lokomotive Emma, Lukas und Jim weichen nicht aus, sie müssen durch das Ende der Welt hindurchreisen. Wir Geschwister hielten den Atem an, als die ächzende Lokomotive zwischen magnetische Felsen gerät und nur mit Mühe den Kurs halten kann. Aber Jim Knopf, Lukas und Lokomotive Emma bestehen in der Gefahr. Und wir fühlten mit, wussten uns beschützt.

Die Bahn stellt einen Prellbock auf, der stoppt den Zug im Notfall. Der Glaube an Jesus Christus grenzt meine Furcht ein. Selbst durch das Barbarische Meer bahnt er mir den Weg. Solche Meerespassagen gibt es einige, gerade im Leben, besonders heute. Jesus sagt: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. Hier an der Küste ist dieses Wort mein Prellbock. Und Jesus führt durch Untiefen, übernimmt Verantwortung. Er ist auch Rettungsring in Zeiten am Ende der Welt, wenn es finster werden kann.

Abends am Strand. Ein Paar Schuhe steht am Bohlenweg, der durch die Düne führt. Diese Schuhe habe ich schon im Zug gesehen. Man erkennt sie, es sind typischen Stadtschuhe, frisch geputzt sind sie, die Socken liegen jetzt sauber aufgerollt im rechten Schuh. Vom Zug ging es offensichtlich schnell an den Strand. Kinder rollen von der Düne, toben im Sand. Am Flutsaum bückt sich jemand, barfuß, die Hosen hochgekrempelt, entdeckt etwas im Schaum. Eine Muschel in Herzform oder ein Bernstein? Abends bin ich hier an dieser Grenze, am Ende meiner Welt unterwegs, treffe Menschen und spüre das Wasser und den Sand zwischen den Zehen. Und wenn wir heute Abend in den Sternenhimmel sehen, dann habe ich Jesu Wort im Ohr: Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastor Henning Kiene

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie werden in Ahlbeck und Zirchow die Gottesdienste unter den Laubdächern der alten Bäume unmittelbar neben den Kirchen gefeiert. Die Gottesdienste sind verkürzt. Die Atmosphäre hat sich unter diesen Bedingungen gewandelt und verdichtet. Die Kirchenmusik schafft mit einfachen Instrumenten, Bläser*innenensembles und kleinen, spontan gebildeten Singkreisen ein anspruchsvolles Musikprogramm. Neue Lieder werden eingeübt, die Vielfalt der unterschiedlichen Gesangbuchanhänge aus dem Bereich der EKD werden erprobt.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Im Laufe meiner über dreißig Berufsjahre habe ich den Text mehrfach gepredigt und am 6. Sonntag nach Trinitatis immer auch Taufgottesdienste gehalten. An einen Taufgottesdienst ist im Moment kaum zu denken, die Tauffamilien wollen den kleinen Kreis, ohne die große Gemeinde für ihre Familienfeste. Also kann es mal ganz anders sein und Taufen muss nicht den Fokus vollständig ausfüllen. Weniger Kasualien am Sonntag, mehr Thema tut mir gut.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Auf die Entdeckung der Reise von Jim, Lukas und Emma durch das Barbarische Meer – man kann den Abschnitt übrigens weglassen – werde ich bei anderer Gelegenheit wieder zurückgreifen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die wertschätzende und präzise Rückmeldung hat mich fokussiert. Danke!

Perikope
11.07.2021
28,16-20