Entzweiungen auf einem Grund – Predigt zu Matthäus 10, 34-39 von Dr. Dörte Gebhard
10,34-39

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde,

Niemand kann einen anderen Grund legen als den, der schon gelegt ist. Und das ist Jesus Christus  (1. Kor 3, 11).

Auf den einen, vor uns gelegten Grund sind Kirchen gebaut. Fest gegründet, aber entzweit. Nicht erst seit 500 Jahren, seit der Reformation, gibt es mehr als eine Kirche. Sie gründen auf Jesus Christus, haben sich aber in unterschiedliche Richtungen entwickelt und gewandelt, restauriert und reorganisiert, reformiert. Die Gemeinschaft aller Christinnen und Christen ist daher entzweit.

Wir hören den Predigttext aus dem Matthäusevangelium im 10. Kapitel:

Jesus spricht: Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden.

Liebe Gemeinde

Es sind nicht nur entscheidende, sondern einschneidende Worte. Soll man so an einem runden Reformationsfest predigen?

Dass Jesus ein scharfes, entscheidendes Schwert bringt? Ein Schwert, an dem sich die Geister schieden und scheiden? Man muss nicht nach diesem Wortschwert suchen, es steckt genau in diesen Worten. Jesu Wortschwert versteckt sich nicht! Verstecken wir uns also vor seinem Schwertwort nicht!

Reformation bedeutet beides: Rückbesinnung auf den einen festen Grund, den wir nicht legen können und nicht gelegt haben, Jesus Christus und die Einsicht, dass zu dieser Umbruchszeit auch Spaltungen und Schmerz, Leid und Not, kurz, das Kriegsschwert gehören. Fangen wir mit Letzterem an.

Ich nenne nur ein einziges, berühmt-berüchtigtes Beispiel: In der zweiten, entscheidenden Schlacht von Kappel am 11. Oktober 1531 wurde viel Blut vergossen. Anna Zwingli verlor an diesem einen Tag fünf Angehörige: ihren Mann Ulrich Zwingli, ihren ältesten Sohn, einen Schwiegersohn, einen Bruder und einen Schwager. Sie blieb als alleinerziehende Witwe mit zwei kleinen Kindern zurück. Am Morgen hatte sie ihren Mann noch gewarnt, nicht in diese Schlacht zu ziehen ...

Wollen wir der Reformation gedenken, kommen wir an den Kriegsschwertern nicht vorbei. Nun schauen wir zurück auf den Anfang, auf bei Jesus Christus. Er kommt mit seinem Wortschwert zur Welt und schneidet den faulen Frieden, den er vorfindet, entzwei. Nein, dem Frieden in der Welt traut er nicht: Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht (Joh 14, 27), sagt er seinen Jüngern.

Jesus kommt beileibe nicht mit Waffengewalt, sondern mit wortgewaltiger Entschiedenheit – und muss deshalb selbst Gewalt erleiden. Er hat nicht zu Mord und Totschlag aufgerufen, sondern klargemacht, dass es keine harmlose, naive, christliche Sicht auf den Lauf der Welt gibt. Die christlichen Perspektiven sind entscheidend – und damit auch entzweiend.

I

Jesus musste den Realitäten ins Auge sehen. Das Neue Testament gibt immer wieder Hinweise auf die frühen Entzweiungen in seiner Familie.

Seit er 12 Jahre alt war, verstanden ihn seine Eltern nicht mehr, fanden ihn seine Eltern nicht mehr. Sie suchen ihn überall, nur nicht im Tempel, wo er mit den Schriftgelehrten klug disputiert. Seine Eltern wollen ihn erziehen, aber er zieht los, entzieht sich seiner Sippe, entzieht auch seine Jünger ihren Familien. Zur Entzweiung kommt es unter den Allernächsten. Matthäus nennt in seinem Evangelium die brutalen Fakten, die seit Menschengedenken gelten.

Wir müssen den Realitäten ins Auge sehen. Gerade nicht vor Fremden, vor Flüchtlingen sollten wir uns fürchten. Das versuchen nur Populisten uns immer wieder weiszumachen. Die häusliche Gewalt hat ganz andere Ausmasse. Neun von zehn misshandelten Kindern werden von den eigenen Familienangehörigen missbraucht und oft im Verborgenen gequält.

Und die allererste Gewalttat, die die Bibel überhaupt überliefert, ist nicht ein Kampf zwischen Unbekannten, die sich nicht kennen und nichts gönnen, sondern Mord unter Brüdern, die beide ihre Arbeit und ihr Auskommen hatten. 1

II

Liebe Gemeinde

Auch Matthäus musste den Realitäten ins Auge sehen. Schon zwischen den Generationen in seiner noch so jungen Gemeinde lag die Entscheidung für oder gegen Jesus Christus; der Sohn dabei, der Vater nicht, die Schwiegermutter wohl, aber die Tochter dagegen. Die engsten Familienbande entzweien sich. Lapidar heisst es bei Matthäus: Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein.

III

Auch Die Reformatoren mussten den Realitäten ins Auge sehen. Vor 500 Jahren kamen zwischen den allernächsten Nächsten die ärgsten, späteren Feinde hervor. In den Gemeinden und an den Universitäten, in Kirchen und Klöstern, Staaten und Städten gab es aufgrund der Reformen nicht nur Aufbruch und Begeisterung, sondern auch Streit und Unfrieden, bald auch Mord und Totschlag. Es wurde um ein neues, besseres Verständnis der Bibel gerungen – und es wurden Bürgerkriege zwischen den Konfessionen angezettelt und durchlitten.2 Dass Jesus friedlich, nur mit seinem Wortschwert, zur Welt kam, geriet und gerät immer wieder in Vergessenheit, sogar zu den Zeiten, in denen man sich an die Reform der Missstände macht(e). Wir müssen den Realitäten ins Auge sehen. Die Gewalt ist noch nicht aus der Welt – und wir sind immer noch daran zu lernen, unsere Auseinandersetzungen nur mit Worten statt mit Waffen zu führen.

Das gilt seit biblischer Zeit besonders unter Brüdern, Verwandten und Bekannten, laut Matthäus auch in Kirchgemeinden, unter den Allernächsten. 2001, das entsetzlich berühmte Jahr wegen der Terroranschläge am 11. September hat in Amerika knapp 3000 Terroropfer gefordert. Im selben Jahr aber sind in Amerika ca. 30'000 Menschen durch Schusswaffen umgekommen, Unfälle daheim und Suizide mitgerechnet.3

Geht uns das hierzulande etwas an? Im „Tagesanzeiger“ stand kürzlich zu lesen: „Allerdings gehört auch die Schweiz punkto Waffendichte zur weltweiten Spitze, die neue Waffengesetzgebung wurde gerade entschärft, und die Waffenkäufe nehmen zu.“ „In praktisch allen Kantonen haben vor allem im letzten Jahr die Gesuche für Waffenerwerbsscheine rekordmässig zugenommen. Einen solchen muss jeder Käufer bei seiner Wohngemeinde beantragen, wenn er eine Schusswaffe (Pistole, Revolver oder halbautomatisches Gewehr) erwerben will. Der Schein berechtigt dazu, sie zu Hause aufzubewahren. Der Bund rechnet damit, dass in Schweizer Haushalten zwei Millionen Waffen lagern.“4

Man führt solches Tun auf verstärkte Terrorangst zurück. Aber ist das nicht eine verheerende Furcht?

IV

Viel entscheidender aber ist: Woher kommt verheissungsvolle Hoffnung? Für Matthäus, für die Reformatoren, für uns? Auch die Hoffnung ist in scharfe Worte gefasst: Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden. Nicht nur, wer Streit hat wie die Eltern und Kinder in Matthäus’ Gemeinde, sogar, wer sein Leben verliert (wie Zwingli und die Seinen), wird das Leben in Christus finden. So gross ist Gottes Verheissung und Gnade, dass sie nur in so dramatische und entscheidende Worte passt.

Wir feiern 500 Jahre Reformation und haben unzählige, sehr gute Gründe zur Hoffnung, weil sich die Zeiten rasant geändert haben: Wir können nach Kappel fahren und die Augen in Ruhe über das ehemalige Schlachtfeld schweifen lassen, müssen dabei keinen Angriff von Katholiken aus dem Luzernischen mehr fürchten, sondern können viel mehr angeregte Gespräche mit ihnen im Haus der Stille führen. Nach Jahrhunderten der Entzweiung ist es möglich, die Reformationen der Kirchen gemeinsam und in ökumenischem Frieden zu feiern. Welch eine Reformation!

Aber wo können wir, 2017, die Grösse von Gottes Gnade am besten spüren? Wo kommt uns die Reformation persönlich nahe? Wahrscheinlich nicht auf dem Acker vor dem Kloster Kappel! Eine aufrechte Protestantin in unserer Gemeinde hatte schon vor einiger Zeit die entscheidende Idee: dort, wo wir jeden Tag hineinschauen, was wir regelmässig zur Hand nehmen ... im Portemonnaie! Der Geldbeutel ist ein sehr sensibler Ort, dort fühlen und spüren wir alles sehr genau. Da schauen wir genau hin. Auf die Geldbörse achten wir.  

Zum Reformationsfest ist in Deutschland ein besonderer Geldschein5 herausgekommen, den auch wir ab heute immer im Portemonnaie haben sollten. Er ist sehr speziell: Er kann nur verschenkt werden, aber kaufen kann man nichts damit. So wie Gottes Gnade, die er uns schenkt, die wir aber nicht kaufen, geschweige denn erarbeiten können. Weil Luther diese frohe Botschaft wiederentdeckt hat, ist er auf dieser Banknote abgebildet.

Der Schein ist echt! Es ist kein Spielgeld, Gottes Gnade ist ernst gemeint! Der Schein ist echt, nach allen Regeln der Geldscheinproduktionskunst hergestellt. Er hat ein Wasserzeichen und einen Kupferstreifen, ein Hologramm und einen Sicherheitshintergrund, sogar fluoreszierend unsichtbare Tinte, sichtbar unter UV-Licht. Diese Banknote ist sicher, Gottes Gnade ist gewiss!

Ausserdem hat jeder Schein eine individuelle Seriennummer, ist also einmalig und unverwechselbar – wie wir Menschen bei Gott. So bleibt mir nun nur noch übrig, dieses Geld sehr fröhlich zu verteilen. Gottes Gnade ist umsonst, gratis, aber niemals vergeblich.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der stärke unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen.

 


1 I  Vgl. Carel van Schaik/Kai Michel, Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät, Hamburg 2016, S. 78ff.

2 I Ulrich Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014, S. 8, zit. Odo Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist,  in: ders., Abschied vom Prinzipiellen,  Stuttgart 1981, S. 117-146, S. 129: Ulrich Luz, Berner Neutestamentler, zeigt,  „dass die Schrift nicht die Einheit der Kirche begründete, sondern ihre verschiedenen Interpretationen die Vielzahl der christlichen Konfessionen. Von Anfang an geriet die Bibel in den Strudel konfessioneller Debatten; von Anfang an wurde sie von allen Konfessionen zur Selbstlegitimation verwendet. Die Berufung auf das sola scriptura läutete das Zeitalter des Konfessionalismus ein, das – nach den bissigen Worten des Philosophen Odo Marquard – gekennzeichnet war durch einen ‚konfessionellen Bürgerkrieg ... um den absoluten Text’. Die Geschichte des Protestantismus ist eine Geschichte von Abweichungen, Spaltungen, andauernden Aufbrüchen neuer reformatorischer Bewegungen.“

3 I Vgl. Stefan Tomik, Waffengewalt in Amerika. Die ernüchternde Sprache der Zahlen, in: FAZ vom 4.10.2015; Quelle: CNN mit Daten des Centers for Disease Control and Prevention sowie des amerikanischen Aussenministeriums, abgerufen am 9.10.2017.

4 I Vgl. Werner Schüepp, Zürcher decken sich mit Waffen ein. Schusswaffen sind nicht nur in den USA ein Thema: In fast allen Schweizer Kantonen nehmen die Gesuche für Waffenscheine stark zu – insbesondere auch in Zürich, in: Tagesanzeiger vom 4.10.2017, abgerufen am 9.10.2017.

5 I 0-Euro-Schein, zu beziehen auf www.gott.net.

Perikope
05.11.2017
10,34-39