Diese Woche war es fast überall verregnet, aber wer vorletzte Woche durch die Felder wanderte, konnte sich über die großen Staubwolken wundern, die zum Himmel stiegen. Mähdrescher waren bei der Arbeit. Die großen und die kleinen Kornfelder wurden abgeerntet. Eben noch konnte man die weiten gelben Flächen bewundern. Den Weizen auf seinem kurzen Halm, die langen Halme von Gerste und Roggen mit langen Grannen, die schönen Rispen des Hafers. Pralles Leben. Kraftvoll werden sie gemäht und in große Speicher gebracht, getrocknet und auf ihre Qualität geprüft. Das geschieht alles, Jahr um Jahr, damit wir an unseren Tischen unser Brot essen können. Roggenbrötchen, Dinkel-Hirse mit Sesamkörnern, Baguette aus Weizen, Gerstebrot, Hafermüsli. Brot ist Leben. „Davon lebt die Welt“ meldete die Ausgabe der „ZEIT“ auf einer ganzen Seite in ihrer Ausgabe vom letzten Wochenende. „Weizen ist eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel des Menschen“, hieß es im Untertitel. „Weizen deckt 19 Prozent des Kalorienbedarfs der Menschheit, gleich hinter Reis. 760 Millionen Tonnen werden weltweit allein an Weizen geerntet.“ Phantastische Zahlen. Sie garantieren Leben. Und wo er fehlt, ist Leben bedroht. In diesen völlig verregneten Tagen können wir ahnen, was es bedeutet, wenn die Kornfelder durch die Witterung gefährdet sind. Wir leben von dem Brot, das aus dem Korn ersteht. Wenn es auf dem Tisch liegt, zieht es uns an. Alle Sinne sind angeregt. Der Duft von frischem Brot zieht in die Nase. Brot ist schön anzusehen. Ich höre es knacken, wenn frisches Brot gebrochen wird. Ich nehme es in die Hand, es schmeckt. So war es immer, auch zur Zeit Jesu von Nazareth. Darum liegt es sehr nahe, dass ein so genialer Prediger und Lehrer wie er Brot zur Veranschaulichung seiner Botschaft wählt. Und mehr noch. „Ich bin das Brot des Lebens“, sagt er (Joh 6,35). Brot bekommt durch ihn sakramentale Qualität. Diesen Sprung zu verstehen von dem Brot, das ich riechen und anfassen kann, hin zur der sakramentalen Deutung hat mich Huub Osterhuis, der holländische Priester gelehrt. Er erzählt die Geschichte eines Durchschnittsmenschen, nennen wir ihn Adam. Um es gleich klarzustellen, es könnte auch eine Frau sein, die Eva heißt. Er ist verheiratet, hat Kinder und findet sich in seiner Welt vor. Er arbeitet mit Freude, manchmal auch mit Widerwillen. Er arbeitet mit Kopf, Händen und mit seiner Seele. Seine Arbeit hat einen Wert, einen Geldwert. Er setzt seine Lebenskraft in Arbeit um, das in Geld ausgezahlt wird. Er macht sich selbst zu Geld. Er verdient es für sich und für die er sich verantwortlich weiß. Mit dem Geld kauft er Wohnung, Urlaub und Brot. Er setzt sich selbst um zu Brot. Wenn das Brot zum Abendbrot auf dem Tisch liegt, kann er sagen: In diesem Brot ist alle meine Arbeit, meine Kraft für Euch. Dieses Brot, das bin ich. Das ist mein Leib. Arbeit, Mühe, Liebe und Sorge verwandeln sich in Brot, werden sichtbar im Brot.
Jede Mutter, die gekocht hat, jeder Mann am Herd könnte es genauso sagen, wenn das Essen für die Gäste auf den Tisch kommt. „Seht, das bin ich – für Euch“.
„Ich bin das Brot“, sagt Jesus, „seht, das ist mein Leib“. Das ist er mit seiner ganzen Existenz, seiner Liebe für die Menschen, Gott leibhaftig.
In dem Brot, das auf den Tisch kommt, kann unser Adam sagen: „Das bin ich selbst. Jeder Tag Arbeit, jedes Jahr Anstrengung kostet mich ein Jahr meines Leibes. So werde ich aufgezehrt, ich verbrauche mich für andere. Hier winkt übrigens schon das Wort Jesu aus Johannes 12,24: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bringt es keine Frucht“.
„Ich bin das Brot des Lebens“(Joh 6,35). Was legt er da auf den Tisch? Ewiges Leben ist seine Antwort. Leben, das bleibt. Der russische Autor Solschenizyn erzählt in seinem Buch „Krebsstation“ von Jefrem, der plötzlich im Krankensaal die anderen fragt: „Wovon lebt der Mensch?“ „Von der Versorgung mit Nahrungsmittel“, sagt der erste. „Vom Arbeitslohn“, sagt der Pfleger, „Von Luft und Wasser“, der nächste. „Von der Qualifikation“, sagt der Vierte. Der Vertreter des Systems, ein Professor, antwortet: „Von der Ideologie und den gesellschaftlichen Interessen.“ Jefrem ärgert sich über die letzte Antwort und sagt: „Halt’s Maul.“ Die Antwort auf seine Frage bleibt offen. Er sucht weiter. Manchmal sind wir Prediger und Predigerinnen wie der Professor. Wir proklamieren allbekannte Parolen, behaupten eine Ideologie, reden von Jesus in einem dogmatischen Pathos. Es ist wenig überzeugend.
Was legt er auf den Tisch, wenn er sich selbst als Brot bezeichnet?
Er lehnt zwei Antworten als unmöglich ab. Als man ihn nach der Speisung der 5000 zum Brotkönig machen will, entzieht er sich. Ein Führer mit Macht über die Menschen will er nicht sein.
Und er lehnt die Antworten der Tradition seines Volkes ab. Die Väter haben das Manna in der Wüste gegessen. Brot kam vom Himmel, aber es verfaulte am nächsten Tag. Die Geschichte vom Brot in der Wüste aus dem Himmel ist für die Zuhörer Jesu so etwas, was wir heute ein Narrativ nennen. Eine Geschichte, die Erfahrung, Gewissheit vermittelt und Identität stiftet. Jesus widerspricht ihr. Das ist eine Provokation. „Die Väter sind gestorben, aber wer mich isst, der wird leben“, sagt er. Damit bringt er die Leute gegen sich auf – mit tödlichem Ausgang. Man stellt sich die Wiederkunft des Messias so vor, dass er Manna austeilt. Auf die Frage, was er tun werde, antwortet er so, wer er ist. Er backt keine kleine Brötchen, um sie zu verteilen.
„Ich bin das Brot des Lebens. Wer von mir isst, wird nicht hungern.“ (Joh 6,35)
Wer ihn isst, der hat ewiges Leben. Wenn Johannes von ewigem Leben spricht, dann meint er nie ein Nacheinander, sondern ein Gleichzeitiges. Das ewige Leben habe ich mitten in diesem Leben. Es ist schon da. Ich muss mich nicht selber steigern in meinen Leistungen, in meinem Bemühen. Ich kann stolz und dankbar sein, wenn meine Arbeit zu Brot wird, ja, aber ich muss und kann das Leben nicht selber schaffen. Ich muss mich nicht selber gebären, nicht selber ständig neu erfinden. Mein Leben erschöpft sich nicht in meinen Entwürfen. Es ist schon da. Das ist Gnade. Die Merkmale vollkommenen Lebens beschreibt Jesus in seiner Bergpredigt: Barmherzig, hungrig nach Gerechtigkeit, sanftmütig, friedfertig, gewaltlos.
Unser Zeitgeist unterliegt dem Wahn, das wir selber schaffen müssen, was Leben ist, sich selbst überbieten. Wer das versucht, will jagen, vorne sein, übertreffen. Er kann nicht spielen, er ist atemlos und wird nie satt. Er versucht, das Leben an seinem Rand zu erleben, im Extremen, in immer neuen Erfahrungen, die nicht reflektiert werden, sondern vorbeirauschen. Das ist der Unglaube.
Das Brot ist da, es liegt auf dem Tisch. Glaube heißt dann: „Ja, so ist es. Das sehe ich. Das ergreife ich.“ In Jesus Christus wird das Leben leibhaftig. Leben, das Bestand hat, ewiges Leben. Um den Glauben kann ich nur bitten. Der Duft des Brotes möge mich anziehen.
Wenn ich dann zum Abendmahl vor dem Altar stehe und meine Hand nach dem Brot des Lebens ausstrecke, sage ich: „Ich bin machtlos, ich bin bedürftig, ich bin dankbar“. Ich kann da nur mit zitternden Händen stehen, bettelnd, unsicher, erwartungsvoll. Es ist meine Zustimmung zu dem, der sagt: „Ich bin das Brot des Lebens. Das ist mein Leib. Brot des Lebens. Nimm hin und iss.“
Und am Ende, das soll heute nicht unerwähnt bleiben, ist die ausgestreckte Hand gleichzeitig eine Geste des Protestes. Protest gegen alle Macht der Ungerechtigkeit, des zugelassenen Hungers auf unserer Erde. Der Erde, auf der Korn genug wächst: Reis, Hafer, Roggen, Weizen und Gerste für alle.