Erinnerungsorte - Predigt zu 1Kor 10,16-17 von Christian Boerger
10,16-17

Erinnerungsorte - Predigt zu 1Kor 10,16-17 von Christian Boerger

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

I. STEINE MIT GESCHICHTE

Ungefähr 10 Meter lang und 15 Meter breit, hohe Decken. Weißlich-beiger Boden, wie überall in dieser Stadt – allerdings schon ziemlich durchgetreten. Mehrere Säulen tragen ein Gewölbe. Beides aber irgendwie aus der Zeit gefallen, zusammengewürfelt. Sowieso wirkt hier nichts wirklich passend. Da war kein Architekt mit einem ausgefeilten Plan am Werk. Das Ganze ist gewachsen, über Jahre, Jahrhunderte. Ich frage mich eigentlich jedes Mal aufs Neue, wozu dieser oder jener Stein, wozu diese oder jene Ecke des Raumes, in dem ich schon so oft stand, eigentlich gebaut wurde. Welchen Zweck er wohl schonmal erfüllt hat. Mit welchem Anliegen Menschen hier schon standen? Ja, welche Geschichten diese Steine wohl erzählen könnten.
Heute jedenfalls ist das Anliegen aller, die mit mir hier sind, klar. Ich lehne mich an eine der schweren Säulen und beobachte, wie sich der Raum immer weiter füllt. So viele sind gekommen. Denn heute ist der Raum unser Gebets-Raum, unsere Kirche.
Links von mir steht ein Mann mit langem Bart, noch längerem Gewand und großer Kapuze. Rechts von mir steht eine Frau im schwarzen Kleid, mit einem auffälligen, weißen Kragen.
Wir drei und die vielen anderen hier fangen an zu beten und singen gemeinsam: „Laudate omnes gentes, laudate dominum. Lobsingt ihr Völker alle, lobsingt und preist den Herrn.“

II. GEMEINSCHAFT

Szenenwechsel. Gründonnerstag 2022 – [Kirchengemeinde und Ort]. Auch wir sind zusammengekommen, um zu beten und zu singen. Tauchen gemeinsam ein in diese besondere Nacht, hören die bekannten Worte „Unser Herr Jesus Christus, in der Nacht da er verraten ward…“, schmecken und sehen, wie freundlich der Herr ist. Und tun damit etwas, das die christliche Versammlung schon immer ausgezeichnet hat: Das gemeinsame Essen.

Der Apostel Paulus schreibt dazu an die Gemeinde in Korinth:

Der Kelch des Segens, den wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Denn ein Brot ist’s. So sind wir, die vielen, ein Leib, weil wir alle an einem Brot teilhaben.

Das Segnen des Kelches und das Brechen des Brotes.
Für Paulus ist klar, wer der Gastgeber dieser besonderen Mahlzeit ist und was sie bewirkt:
Gemeinschaft. Gemeinschaft der Gäste mit ihrem Gastgeber und Gemeinschaft der Gäste untereinander.

Der Kelch des Segens, […] ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Ist es nicht Jesus, der mit seinem ganzen Leben bei euch ist, der euch mitnimmt, durch Leiden und Sterben hindurch in sein neues Leben? Die Gemeinschaft des Blutes Christi?
Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Seid ihr nicht alle untrennbar? Wie eine Familie, wie ein Leib, bei dem es jedes Glied zum Leben braucht? Die Gemeinschaft des Leibes Christi?

Für Paulus ist klar, wer der Gastgeber dieser besonderen Mahlzeit ist und was sie bewirkt: Gemeinschaft der Gläubigen mit Jesus und Gemeinschaft der Gläubigen untereinander.
Sie sitzen gemeinsam an Jesu voll gedecktem Tisch.
Aber, wer genau sitzt da denn nun neben wem – und wer nicht?

III. ERINNERUNGSORTE

Der bärtige Mann mit dem langen Gewand ist Father James, ein armenischer Mönch, die Frau auf der anderen Seite ist Pastor Anne, eine lutherische Pfarrerin aus Amerika. Der Anlass für unser Treffen ist die sogenannte „Gebetswoche für die Einheit der Christen“. Und der Raum, in dem wir stehen, ist der Abendmahlssaal in Jerusalem.
Dieser Saal ist geschichtsträchtig. Er war schon einmal Teil einer Kirche, dann eine Moschee und heute ist er das Obergeschoss einer Synagoge. Unten jüdische Betende, oben christliche Pilgernde.
An einem Tag im Jahr findet hier das Gebet für die christliche Einheit statt, hier im Abendmahlssaal, in dem Raum, der alle, die da stehen, an den Gründonnerstag erinnert und an das Geschenk, das Jesus an jenem Abend den Seinen hinterlassen hat.
Der Abendmahlssaal ist ein Erinnerungsort für so viele, so unterschiedliche Menschen – und sie alle quetschen sich in den viel zu kleinen Raum mit der zusammengewürfelten Architektur der Jahrhunderte, dessen Boden schon unzählige Füße getragen hat. Und sie beten und singen gemeinsam: „Laudate omnes gentes, laudate dominum. Lobsingt ihr Völker alle, lobsingt und preist den Herrn.“

IV. DENN EIN BROT IST‘S

Der Kelch des Segens, den wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Denn ein Brot ist’s. So sind wir, die vielen, ein Leib, weil wir alle an einem Brot teilhaben. 

Danke, Paulus, für deine schönen Bilder, deine frommen Wünsche und die Utopie, die du beschreibst. Aber die Realität sieht doch anders aus: Getrennte Altäre, getrennte Tische – durch die große christliche Familie geht ein Riss, der sich durchzieht bis in unsere Freundschaften, Beziehungen, Ehen… „Gemeinsam am Tisch des Herrn? Aber doch bitte nur mit Menschen derselben Konfession!“
Ja, uns trennt vieles von den Geschwistern aus Rom und Byzanz. Und trotzdem glaube ich, wer so redet, denkt Paulus zu eng und Gott zu klein. „Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi?“, schreibt Paulus und sagt damit doch: Wer Abendmahl feiert, ist Teil einer Gemeinschaft, die viel größer ist als nur der Raum, der Saal, die Kirche, in der gerade ein paar Menschen versammelt sind. Weil der eine, wahre Gastgeber sie alle einlädt, Teil dieser Gemeinschaft zu sein, Teil der einen weltumspannenden Familie, die sich Christentum nennt.

Ist damit nicht jeder Abendmahlstisch und jeder Altar, auch unserer, ein Erinnerungsort? Ein Ort der Erinnerung an die Einladung Jesu – und ein Ort der Erinnerung an unsere vielen Geschwister im Glauben, die überall auf der Welt Abendmahl feiern, ganz besonders an diesem Abend? Ja, auch das Trennende wird uns heute wieder schmerzlich bewusst, und dennoch: Im Glauben feiern wir gemeinsam, trinken und essen von dem, was Christus schenkt – sich selbst, ganz und bedingungslos. Denn ein Brot ist’s. So sind wir, die vielen, ein Leib.

V. SO SIND WIR, DIE VIELEN, EIN LEIB

Am Ende unseres Gebets im Abendmahlssaal bleibe ich noch ein wenig stehen und schaue mich um. Ich denke an Paulus, der die Gemeinschaft der Christenmenschen mit Brot und Kelch vergleicht, die Jesus am Gründonnerstag geteilt hat, in einem Saal oder einem Raum, in irgendeinem Obergeschoss irgendwo in Jerusalem. Und ich denke an das Wunder, das die große christliche Familie seither feiert, wenn sie Brot und Kelch miteinander teilt in ihren vielen und vielfältigen Gebets-Räumen, in ihren Häusern und Kirchen.
Als ich gehen will, merke ich, dass Father James noch immer neben mir steht. Ich schließe die Jacke und verabschiede mich von ihm: „Good-bye, Father“. Er lächelt zurück und antwortet: „Go in peace, brother“ – „Geh in Frieden, Bruder.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Christian Boerger: 

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ein Abendgottesdienst am Gründonnerstag, mit Lesungen und Gesängen, eher meditativ (z.B. Taizé), im Zentrum steht die gemeinsame Mahlfeier.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Noch vor der exegetischen Erkundung musste ich an den Abendmahlssaal in Jerusalem denken, mit seinen vielfältigen Traditionen, als uralter Memorialort, der Menschen unterschiedlichster Prägung verbindet – in diesen Ort möchte ich die Gemeinde am Gründonnerstag gedanklich hineinholen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
In nur zwei Versen bringt Paulus eine theologisch bedeutsame Aussage auf den Punkt: Die Gemeinschaft mit Christus und die Gemeinschaft der Gläubigen untereinander sind in der Feier des Abendmahls untrennbar miteinander verbunden. Ein heilsamer Ausgangspunkt für ökumenische Bemühungen!

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Den ausführlichen Hinweisen meines Coaches verdankt die Predigt ihre Präzision: Welche Nebenschauplätze braucht es, welche nicht? Wo nehme ich die Gemeinde mit, wo gibt es „Bildstörungen“? Damit konnte ich die eigene Predigt nochmal neu hören und abrunden.

Perikope
Datum 14.04.2022
Bibelbuch: 1. Korinther
Kapitel / Verse: 10,16-17