Erwählung, verändert. - Predigt zu 5. Mose 7, 6-12 von Peter Meyer
7, 6-12

Predigttext Dtn 7,6-12 zuvor als Lesung

„Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind.“ Habt ihr das gehört? Ich habe die Ohren gespitzt, um das mitzubekommen. Wie über einen Zaun hinweg. So halb betroffen und doch ganz darauf aus, zu hören, was Mose sagt. Zu seinem Volk, zum Volk, das Gott erwählt hat. Zu Israel.

Wie im Sportunterricht. Wie ich damals lauschte. Ich hier, auf der glatten Bank aus hellem Holz, nur so halb betroffen. Da drüben die beiden Mannschaftsführer, die vor dem Spiel ihre Auswahl treffen:
Tobias wird erwählt. Spielt im Verein und ist mit allen Wassern gewaschen.
Susanne wird erwählt. Eine Ballkünstlerin und das Hirn jeder Mannschaft.
Linda wird erwählt. Die Sprinterin.  
Eine nach dem anderen. Ich nicht. Ich lausche, schaue nur zu. Ich werde ja nicht erwählt. Sondern am Schluss ‚genommen‘: „Ei ja, kommst du halt noch zu uns.“ Weil am Schluss alle irgendwo unterkommen müssen. Auch die, bei denen es, Hand aufs Herz, nicht darauf ankommt, in welcher Mannschaft sie landen. Weil sich an ihnen nichts entscheidet. Denen diese Erwählung vielleicht sogar predigt: Du bist uns eine Last!  

An solche Erfahrungen gewöhnt das Leben: Du lauschst oder siehst, wie über den Zaun hinweg. Dahin, wo die Wahl auf andere fällt, mit Pomp und Gloria. Wo sich Auserwählte in ihrem Glück sonnen.
Jeder hier, jedem wird es schon einmal so gegangen sein, mehr oder weniger dramatisch. Dass es gar nicht anders geht, als die Ohren zu spitzen.
Wenn Kollegin Maria vom jährlichen Familientreffen schwärmt. Wie sie es gar nicht erwarten können, sich von allen Enden der Republik zu den Eltern aufzumachen. Sich im uralten, hübsch renovierten Vier-Seiten-Hof wiederzusehen, großes Hallo. Maria sprudeln die Details direkt aus dem Herzen. Am Ende weißt du nicht mehr, was mehr Wärme spendet: Der Kamin, den die Enkel mit ihrem Opa zusammen anheizen, Ruß an den Händen und große Augen. Oder die Harmonie, die wie eine Wolldecke über allem liegt.
Du hörst, wie über den Zaun. Freust dich mit. Und zuckst doch tief drinnen zusammen. Weil dir ausgerechnet jetzt euer Familienstreit von neulich in den Sinn kommt. Wie ein schneidender Luftzug.

Vor allen anderen erwählt!

Es gibt gut trainierte Gedanken. Sie helfen, die gemischten Gefühle beim Blick über den Zaun in Zaum zu halten: Das Gras auf der anderen Seite ist immer grüner. Wenn man das ganze Bild kennt, relativiert sich fast alles. Bin ich auch nicht erwählt: Am Ende komme ich schon unter.
Aber wer steht schon völlig drüber. Dass ihm mühelos zu gelingen scheint, wofür du wieder und wieder kämpfst. Erfolglos, wie gegen Windmühlen. Dass sie sonnengebräunt durchs Leben tänzelt. Aber du hockst da wie im Wartezimmer.

Wir hocken hier. Und Mose sagt dem Volk Israel, irgendwo östlich des Jordans:
„Du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind.“ Keine Belohnung für besondere Größe, nein: „Weil er euch geliebt hat.“ Gott, der „den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen.“

Es geht gar nicht anders, als die Ohren zu spitzen: „Vom Herrn, deinem Gott erwählt.“ Bis ins tausendste Glied.
Für Gott sind wir ja hier. Gott, von dem ich erwarte: Der ist immer drauf und dran, Grenzen zu sprengen.
Nun, in dieser Sache ist es anders. In dieser Sache bin ich nur halb betroffen und ihr vermutlich auch. Lauschen wir wie über einen Zaun hinweg. Mose redet zum Volk Israel. Redet von Gottes Beziehung zu seinem Volk. Wie von der Liebe, die du zweien ansiehst. In der flüchtigen Berührung ihrer Hände. Im vertraut vielsagenden Blick, den sie wechseln. Du siehst es genau und weißt davon doch nur: Das ist ganz zwischen denen.
So redet Mose.
Schnell flammt Neid auf. Schleicht sich Eifersucht ein. Anspruchsdenken. Flüstert: Warum die? Warum dieses Volk, östlich des Jordans?
Ich bin doch auch da! Es ist doch auch mein Recht, innig vertraut mit Gott zu sein. Jesus hat uns doch berufen. Hier, in diese glänzenden Mauern hinein. Also müsste doch…!

Hüte dich davor. Vor den Flüstererklärungen. Vor dem Neid. Sie nähren Hass. Im schlimmsten Fall so tief, wie bei unseren Glaubensvätern. So entsetzlich, wie sie ihn in die Mauer dieser Kirche hineingegraben haben. Draußen, knapp unter dem Dachgesims, in Form des Wittenberger „Judensau“-Reliefs. Als Bild des Hasses gegen das Volk Israel, gegen Jüdinnen und Juden.
Heute ein Sinnbild für alle, die es nicht aushielten, zuzuhören, wie über den Zaun hinweg. Die ihr vermeintlich eigenes Volk, „ihre Nation“ hochjubeln. Bis zum Mord.
Ein Sinnbild am Ende auch für mich, wenn ich über den Zaun hinweghöre. Und dabei nur höre, was doch mir zustehen soll, mir!

Wenn ich so lausche, habe ich ja keine Ahnung.
Keine Ahnung davon, wie das ist, mit der Liebe Gottes. Und: Mit den Narben, die sie auf den Rücken haben, zu denen Mose spricht. Narben von den Peitschen ägyptischer Aufseher, abenteuerlich entkommen. Sie nennt Mose: ein heiliges Volk.
Ich habe ja keine Ahnung davon, wie das ist, mit Gottes Bund. Den er mit denen schloss, deren Haut sonnengegerbt ist. Wie Leder über Knochen, von den Jahren, die sie durch die Wüste zogen, mit nichts als nacktem Leben. Denen ruft Mose das zu: „erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern.“ Denen gegenüber nennt Mose Gott so: treu. Fordert, Gesetz und Gebot zu halten. Denen gegenüber, die ihre Toten in der Wüste ließen.
Und sie hören, mit ganzem Herzen.

Besser also, ich hüte mich, vor kleiner Missgunst. Vor grässlichem Neid.
Besser, ich vergesse meine Illusionen. Wie ich mir das ausmale, diese Erwählung.
Wer weiß, vielleicht höre ich dann zum ersten Mal wirklich davon. Ein Echo. Ein Funke davon, wovon das handelt: erwählt sein.

Ich war in diesem Moment davon überzeugt, es schlecht getroffen zu haben. Mich leichtsinnig auf ein Auslandsstipendium beworben zu haben. Jetzt hatte ich den Salat: Ich stand verloren da. Im auf 17 Grad heruntergekühlten Gemeinschaftsraum der Universität, in Atlanta, im Süden der USA. Sie sind ja alle auf 17 Grad heruntergekühlt, solche öffentlichen Räume in den USA. Jemand drückte mir eine Cola in die Hand. In einem Styroporbecher. „Typisch!“, rumorte mein Missmut. Ich vermisste jetzt schon alles zu Hause. Zehnmal besser wäre es gewesen, da zu bleiben. Wo das Leben seinen vertrauten Gang geht, unter Freunden.
Mit meinem Englisch ließen sich zwar Bücher lesen, aber beim Small-Talk bestand es aus Lücken, Ecken und Kanten.
Deshalb brach mir, 17 Grad hin oder her, der Schweiß aus. Mit schwingendem Bass sprach mich einer von der Seite an. Ein Professor. Schlimmer noch, wie sich herausstellte, der Professor für Predigt, Tom Long. Nervös haspelte ich herunter: Ich komme aus Good old Germany. Bin der diesjährige Austauschstudent aus Deutschland.
Darauf er, sonorer Ton, strahlender Blick: „So they have chosen you! Good for you! Your faculty must love you!“
Sie haben dich also ausgewählt. Gut gemacht! Die Profs müssen dich lieben!“   

Ich spüre jetzt noch, wonach sich das anfühlt: Alles ändert sich. Obwohl sich rein gar nichts verändert. Ein bestenfalls tausendfach verdünntes Echo von so einer, von der Erwählung, von der Mose spricht. Aber: Sie rüttelt auf. Geht ans Eingemachte.
Wo du bist: Das ist eine Gabe. Die fremden Gesichter um dich herum, besonders die. Die halten was parat für dich.
Deine Möglichkeiten sind eine Tat der Liebe an dir.
Sich nur mühsam ausdrücken zu können: Auch dafür bin ich jetzt da, im unterkühlten Gemeinschaftsraum, auf der anderen Seite der Welt.

Neid auf Erwählte verstellt den Blick. Rechnet vor, was alles auch noch sein könnte, sein müsste. Neid vermutet nur rosarote Gefühle jenseits des Zauns. Erhebt laut schreiend Ansprüche auf wärmliches Licht und ewiges Wachstum. Für mich, für mich!

Ein Echo göttlicher Erwählung, sei’s auch tausendfach gedämpft, befreit davon.
Du lauschst. Du siehst, was du hast. Empfingst. Spürst rohe Gefühle, die den Geschmack des Lebens auf die Zunge geben. Und wie von dir aus Licht in die Welt scheint.

Ein Echo genügt.
Deshalb beginnen wir, wann immer wir hier zusammen feiern, mit einem Echo:
„Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“
Ein Echo vom Gott, der Israel erwählte, lange vor uns und ewig treu.
Das Echo davon für uns:
[zum Taufstein gehen, dreimal Wasser durch die Hand rinnen lassen.]
Von dreimal Wasser, in der Taufe: im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Ein Echo der Liebe, mit der sich der Vater im Himmel zu seinem Sohn beugte. Unter uns beugt.

Ein Echo, das rein gar nichts verändert.
Und doch: Alles ändert sich.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfr. Dr. Peter Meyer

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich gast-predige in der Stadtkirche in Wittenberg, erwarte eine Feriengemeinde an his-torisch bedeutsamem Ort. Corona-bedingt wird eine Kurzversion der Predigt erklingen. Der Sonntag steht im Zeichen der Taufe. Der Predigttext redet von der Erwählung Isra-els. Jüngst ist der Streit um den Verbleib des Schmähreliefs einer „Judensau“ an der Mauer der Kirche neu entbrannt. In all dem: Spannung zum Zerreißen. Sie wird drum unausweichlich zentral für die Predigt.   

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Weg zum Predigtschreiben war für mich frei, als Eindrücke von der ‚Erwählung anderer‘ (eine menschliche Grunderfahrung) mit der hermeneutischen Überzeugung von der vorgängigen, bleibenden Erwähnung Israels zu verschmelzen begannen. Da-von ausgehend sammelte ich zunächst: Wie ist das, anderen zuzusehen, auf die die Wahl fällt? Welche Varianten gibt es, damit umzugehen? Steckt in Haltungen dazu auch Evangelium? So entstanden Kerntexte der Predigt.  

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich denke, der Blick auf die Taufe wird mich begleiten. Obwohl die Predigt das nur zum Schluss, in Form der Umkehr aus einer denkerischen (und historischen) Sackgasse thematisiert. Taufgnade korrespondiert mit der Aufgabe von eigenen Ansprüchen. Das gilt auch für kirchliches Handeln und die schon sprachlich ambivalente Erwartung, dieses Sakrament ‚verwalten‘ zu können.   

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Das umsichtige Predigtcoaching erschloss mir eine zweite ‚Hörart‘ meiner Predigt. Auf diese Weise versetzte es mich in die Lage, Abstand von Lieblingsgedanken zu gewin-nen, meinen Text als Text wahrzunehmen. Die Folgen: Kürzungen. Lieber eine Idee konsequent ausgemalt als zwei flimmernde Anspielungen. Spracharbeit gegen das mögliche Missverständnis, Gott erwähle Israel um seines Leidens willen.  

Perikope
19.07.2020
7, 6-12