Erwartung und Gewißheit
„Seid ihr nun mit Christo auferstanden, so suchet, was droben ist, da Christus ist, sitzend zu der Rechten Gottes. Trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist. Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit Christo in Gott. Wenn aber Christus, euer Leben, sich offenbaren wird, dann werdet ihr auch offenbar werden mit ihm in der Herrlichkeit.“ (Übersetzung: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift, Stuttgart 1912)
Liebe Gemeinde,
wir befinden uns in der „Osternacht“. Man kann sie die Nacht der Nächte im christlichen Kalender nennen; auf jeden Fall ist sei eine Nacht des Wachens und Betens, während man den Weg Jesu vom Kreuz zur Auferstehung bedenkt, seinen Gang vom Tod zum Leben. Es ist eine stille Nacht, wie ja überhaupt die Nacht keine Zeit der Unruhe sein soll.
Wir lesen und hören die Ostergeschichte, und das bedeutet: Der Blick ist nach vorne gerichtet. Wir richten unsere Erinnerung auf das Bevorstehende, auf das kommende Leben, und darin überwinden wir die Zeit der Passion.
Viele Worte sollen heute nicht gemacht werden; es ist, wie gesagt, eine stille Nacht. Wenn wir jetzt etwas zu sagen haben, dann tun wir es in der Hauptsache im Gebet, im Gesang und in der gemeinschaftlichen Antwort auf die Segenszusage.
„Seid ihr nun mit Christo auferstanden, so suchet, was droben ist [...].“ Das sei dabei unser Motiv. Zweierlei entnehmen wir ihm: Zum einen die fast schon lapidar anmutende Mitteilung, daß wir „nun“ mit Christo auferstanden seien. Zum anderen die Aufforderung, zu „suchen“, was „droben“ ist.
I.
Es ist leicht zu sehen, daß auch der erste Punkt einen fordernden Gehalt hat. Man kann es auch so sagen: „Wenn ihr nun also mit ihm auferstanden seid“ oder: „Sofern das der Fall ist, dann ...“. Wann aber sind wir denn mit Christus auferstanden? Was überhaupt das „Auferstanden sein“ – und zumal „mit Christus“ – bedeutet, wollen wir hier einmal als hinreichend klar unterstellen. Es meint die Überwindung des Todes, die Lösung aus den Banden des unlebendigen Lebens. Auferstanden im übertragenen Sinne ist derjenige, der zu einem „wahren Leben“ gefunden hat, christlich gesprochen: einem Leben mit Gott, eines aus Glauben.
Es handelt sich um einen Weg. Das Bild besagt: Du bist aufgebrochen in der Dunkelheit und findest nun zum Licht. Was das Dasein im ganzen ausmacht, das Gehen, Laufen und Hinstreben, gilt auch für alles, was mit der Erfüllung, dem Gelingen zu tun hat. Auch zum gelingenden Leben muß man gelangen. Zu einem solchen Leben aber, sagt der Text, findet ein Christ durch Christus. Denn er ist ihm auf diesem Weg vorangegangen; er ist es, der die Orientierung gibt.
In dieser Osternacht machen wir uns das besonders deutlich. Zwar sind wir uns dessen ja schon bewußt, daß auch für uns gilt, wir seien „mit Christo auferstanden“. Doch zugleich wissen wir, daß es dazu erst hat kommen müssen. Man kann wohl auch sagen: Es muß immer erst dazu kommen. Wir können uns nicht damit begnügen, uns selbst zu sagen, wir seien schon in jener Fülle, jener Erfülltheit, die uns eröffnet worden ist. Sondern unser Streben dahin dauert immer weiter an. Das Streben selbst ist es, um das es eigentlich geht.
Was wir wirklich haben, ist das Ziel. Davon, es sei bereits erreicht, spricht keiner. Und das kann auch nicht anders sein. Denn in dem Moment, in dem wir das behaupten wollten, hätten wir das Erreichte schon wieder verloren. Die Erwartung ist wichtiger als ihre Erfüllung. Die „Auferstehung“, von der der Kolosserbrief spricht und die uns zuteil geworden sein soll, ist das Auferstehen in ein Leben der Erwartung.
Nur die Erwartung kann den Tod überwinden. Erwartung ist die Haltung des Überwindens. Sie überwindet, indem sie darüber hinaus geht. Sie ist nicht an die Endlichkeit gebunden, und gerade darin ist sie gegründet. Erwartung ist die Grundhaltung des Seins aus und mit Gott. Christlicher Glaube ist Erwartung aus der Gewißheit. Er ist gewisse Erwartung und erwartende Gewißheit.
II.
Das führt nun zu dem zweiten, dem „Droben“. Es heißt in unserem Text: „Trachtet nach dem, was droben ist.“ Auch da muß man nicht lange herumraten, was gemeint ist. Der Gegensatz ist offen ausgesprochen. Wir wissen auch, wie viele Lebenswege verlaufen, die im Hiesigen festgehalten sind. Ein christliches Leben kann das nicht sein. Mit seinem „droben“ meint der Verfasser eine andere Orientierung, eine die um „Gut“ und „Nicht gut“, um „Richtig“ und „Nicht richtig“ weiß. Gewiß ist es oft nicht einfach, diese Unterscheidung wirklich anzuwenden, zumal man über die Folgen des eigenen Tuns keine volle Kontrolle hat. Aber so weit muß man auch nicht gehen. Es genügt, wenn man intuitiv entscheidet, wenn man sich von seinem Gewissen führen läßt.
Doch jene Forderung bezieht sich auch auf die Erwartung. Vieles, was wir erwarten, ist eigensüchtig, es ist verblendet, sieht die anderen nicht in ihrem Recht und verzerrt alles. Man muß auch sagen, daß es oft gar nicht am Platz ist, etwas zu erwarten; vielmehr soll man an der Sache, um die es geht, einfach arbeiten, fleißig und stetig, dann wird sie sich auch einstellen, ich brauche sie deshalb gar nicht „erwartet“ zu haben. Es ist unsinnig, eine gute Ehe, eine Freundschaft, ein gesichertes Leben oder einen guten Ruheplatz im Alter zu erwarten.
Die Erwartung, die uns heute nacht erfüllt, ist ganz anders. Es hängt nicht von uns selbst ab, ob und wie sie sich erfüllt. Diese Erwartung ist keine subjektive, sondern eine substantielle. Als substantielle Erwartung aber kann sie nicht enttäuscht werden. Sie hat ihre Erfüllung in sich selbst. Sie ist keine Erwartung, die auf Bestätigung aus wäre. Nicht das Eintreten oder Nicht-Eintreten eines Ereignisses, Geschehnisses oder Zustandes ist es, worauf sie bezogen ist, sondern das Überwinden als Überwinden selbst. Überwinden aber ist nicht Überwunden-Haben oder Überwinden-Werden, sondern es ist, was es ist. Glaube ist Überwinden, denn er ist Erwartung aus Gewißheit.
Überwinden ist schwer; die Hoffnung bewahren angesichts von etwas, das überwunden werden soll, noch schwerer. Wenn es wirklich eine Bewährungsprobe des Glaubens, des Vertrauens auf Gott, gibt, dann ist sie hier: die Hoffnung zu bewahren, auch wenn alles dagegen spricht. Zu hoffen gegen den Anschein der Wirklichkeit, das ist das Wesen des Glaubens.
Worauf zu hoffen ist, das kann uns auch wieder nur unsere eigene innere Stimme sagen. Der neutestamentliche Text nennt es offenbares Leben oder auch „Herrlichkeit“. Das muß man in sein eigenes Leben übersetzen. Es kann das erneute Zusammenkommen mit einem geliebten Menschen sein (jenseits der Zeit), die Wiedergewinnung körperlicher Kraft und Integrität, es kann sich überhaupt auf einen anderen beziehen und gar nicht mich meinen. Jedes Leben und jede Lebenslage führt zu einer anderen Wahrheit des Hoffens. Allem gemeinsam aber ist das Überwinden. Überwinden ist Festhalten der Hoffnung; und festgehaltene Hoffnung ist der Glaube selbst.
Amen.