Es geht auch ohne Herrschaft - Predigt zu Markus 10,35-45 von Dieter Splinter
Es geht auch ohne Herrschaft
Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen: Meister, wir wollen, dass du für uns tust, um was wir dich bitten werden. Er sprach: Was wollt ihr, dass ich für euch tue? Sie sprachen zu ihm: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? Sie sprachen zu ihm; Ja, das können wir. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das steht mir nicht zu, euch zu geben; sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist.
Und als das die Zehn hörten; wurden die unwillig über Jakobus und Johannes. Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist unter euch nicht: sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.
I.
Liebe Gemeinde !
Es geht auch ohne Herrschaft. Das ist die Botschaft der Worte Jesu. Wir erleben es anders. Wir erleben, dass die einen über die anderen herrschen. Unsere Erfahrung ist zudem: Ohne Herrschaft geht es nicht. Ein Staat will regiert, eine Stadt verwaltet, eine Kirchengemeinde geleitet sein. Dafür braucht es Männer und Frauen, die das tun. Sie tragen Verantwortung. In einer Demokratie haben sie ihre Ämter auf Zeit inne. Ihre Macht wird dadurch begrenzt. Sie können abgewählt werden. Doch das ist keineswegs überall selbstverständlich. So führen uns die täglichen Nachrichten immer wieder Zustände wie zur Zeit Jesu vor Augen: „Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an.“
Jesus weiß, von wem er da spricht. Bekanntlich ist zu seiner Zeit Pontius Pilatus der römische Statthalter in Palästina. Palästina galt in Rom als Unruheprovinz. Pontius Pilatus hatte sich in der römischen Provinz Germania als Statthalter einen Namen gemacht, weil er hart durchgegriffen hatte. Er schien darum dem Kaiser in Rom der richtige Mann für die Unruheprovinz Palästina zu sein. Er sollte dort für Ruhe und Ordnung sorgen. Er tat es mit eiserner Hand und brutaler Gewalt. Er veranlasste in kurzer Zeit hunderte von Kreuzigungen. Auch die Kreuzigung Jesu war darunter.
Wie gesagt: In zahlreichen Ländern kommen uns heutzutage die Zustände ganz ähnlich vor wie zur Zeit Jesu. Machthaber unterdrücken Volksgruppen oder ganze Völker mit brutaler Gewalt. Fast täglich wird uns das in den Nachrichten vor Augen geführt. Wir Deutschen haben selber vor nicht allzu langer Zeit zwei Diktaturen auf deutschem Boden erlebt. Umso dankbarer sind wir für einen Staat, in dem Macht und Herrschaft demokratisch legitimiert werden müssen. Doch auch in einer Demokratie muss es Macht und Herrschaft geben, damit das Gemeinwesen funktioniert.
II.
Jesus sieht das anders. Es geht auch ohne Herrschaft. Seine Worte widersprechen unserer Erfahrung. Für uns ist es selbstverständlich, dass es Herrschaft und Macht geben muss. Diese Erfahrung teilen zwei Jünger Jesu mit uns: die Brüder Jakobus und Johannes. Sie wollen, dass Jesus ihrer Forderung nachkommt: „Meister, wir wollen, dass du für uns tust, um was wir dich bitten werden.“ Und das fordern sie: „Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit.“ Die Brüder Jakobus und Johannes wollen mit Jesus im Himmel herrschen. Sie wollen mit ihm am Ende der Zeiten über die Völker zu Gericht sitzen. Sie meinen ein Anrecht darauf zu haben. Schließlich sind sie zum Martyrium bereit. Daraus leiten sie ihren Anspruch auf ihre Mitregentschaft im Himmel ab. Leistung muss sich lohnen, so meinen die beiden Brüder. Auch und gerade dann, wenn es um das Eintreten für den Glauben an Jesus Christus geht.
Der aber meint: Der von den beiden Brüdern eingeforderte Lohn im Himmel wird denen zuteil, für den er bestimmt ist. Auf Erden ist es anders. Da hängen Macht und Leistung zusammen. Wer etwa in einer Firma durch besondere Leistungen auffällt, der klettert auf der Karriereleiter nach oben. Je höher er kommt, desto mehr Macht hat er. Wer etwas leistet, kann mehr Macht bekommen. Die Jünger Jakobus und Johannes übertragen diese irdische Erfahrung auf ihren Lohnanspruch im Himmel. Sie sind bereit ihr Leben für Jesus Christus hinzugeben. Wir wissen, dass die beiden tatsächlich den Märtyrertod gestorben sind. Sie erklären sich dazu bereit und wollen dafür dereinst belohnt werden.
Doch der enttäuscht sie. Für Märtyrer gibt es nicht automatisch einen besseren Platz im Himmel. Das veranlasst Jakobus und Johannes aber nicht dazu, ihren Entschluss rückgängig zu machen. Das hängt mit dem zusammen, was Jesus danach zu allen Jüngern sagt. Er sagt es aber nicht nur, sondern er wird seinen Worten gemäß handeln. Das wird schließlich dazu führen, dass wir von ihm - und nur von ihm – bekennen, was Jakobus und Johannes gerne ebenso für sich in Anspruch genommen hätten: „...aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten.“
III.
Bevor es aber soweit ist, muss Jesus diesen seinen Worten Taten folgen lassen: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“
Ein Lösegeld wird zum Loskauf verlangt. Wenn etwa jemand in Geiselhaft genommen wird, dann wird eine Summe für den Freikauf festgesetzt. Oder es kommt vor, dass jemand sich für den in Geiselhaft Befindlichen als Geisel anbietet. Er kauft so den Gefangenen frei.
Was uns sozusagen immer wieder in Geiselhaft nehmen kann, ist etwas, was wir eigentlich gar nicht wollen: nur auf unseren Vorteil bedacht zu sein. Immer wieder geschieht es, dass wir wie darin gefangen sind. Und: wir können uns selber daraus nicht befreien. Keine eigene Anstrengung kann uns daraus loskaufen. Doch Jesus Christus tut es. Er tut es für uns. Er lässt sich für uns im Garten Gethsemane gefangennehmen. Er lässt sich für uns zum Opfer am Kreuz machen und gibt sein Leben für uns hin. Um es mit den Worten eines alten Gesangbuchliedes zu sagen: „... dass er für uns geopfert würd, trug unsere Sünde schwere Bürd wohl an dem Kreuze lange.“ (EG 76, 1; Wochenlied)
Viele haben damit heutzutage Schwierigkeiten. Gleichwohl steckt dahinter eine Erfahrung, die ebenso zu unserem Leben gehört wie die Erfahrung, dass es ohne Herrschaft nicht geht. Diese andere Erfahrung sagt: Ein neues, ein anderes Leben ist ohne Opfer nicht möglich. Eltern wissen das nur zu genau. Aus Liebe zu ihren Kindern sind sie bereit, große Opfer auf sich zu nehmen. Und in der Tat: Davon, dass hoffentlich jemand für uns bereit ist, immer wieder große und kleine Opfer zu bringen, leben wir unser ganzes Leben lang. Wir leben immer wieder davon, dass Menschen, die uns lieben, für uns Opfer bringen, Verzicht üben. Neues und befreites Leben braucht immer Hingabe.
IV.
Es geht auch ohne Herrschaft. Wer „von der Sünde schwere Bürd“ freigekauft worden ist, kann nun seinerseits so frei sein, mit den Herrschaftsansprüchen dieser Welt anders umzugehen. In den Worten Jesu hört sich das so an: „... wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.“ In der Gemeinde, in der Kirche Jesu Christi soll also anders miteinander umgegangen werden als wir es gemeinhin in dieser Welt erfahren. Statt der Durchsetzung durch Macht, soll es ums Dienen gehen, statt Herrschaft der einen über die anderen, soll es um Hingabe gehen.
Wir wissen, dass dieser Anspruch in Kirche und Gemeinde immer wieder in Frage gestellt wird. Durch aufopferungsvolle Hingabe kann unterschwellig auch sehr viel Macht ausgeübt werden. Und Hanns Lilje, einst stellvertretender Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche Deutschlands, hat den Willen zur Herrschaft, den es eben auch in unserer Kirche gibt, einmal in diese Worte gefasst: „Alle wollen in der Kirche dienen – am liebsten in leitender Stellung.“
Und doch gibt es in den Gemeinden und in den Diensten und Werken der Kirche immer wieder Menschen, die dem Wort Jesu „wer unter euch groß sein will, der soll euer Diener sein“ sehr nahe kommen. Mir steht etwa der Kirchenälteste (Presbyter) vor Augen, der trotz vielfältiger Beanspruchung im Beruf, im Besuchsdienst und der Gemeindeleitung mitwirkt. Ich denke an die Prädikantinnen und Prädikanten, die die Verkündigung in den Gemeinden bereichern und ohne die in manchen Gegenden Gottesdienste ausfallen müssten. Ich denke an die Kolleginnen und Kollegen im Pfarrberuf, die sich mit viel Einsatz, Ideen und Herzblut um ihre Gemeinden kümmern. Ich denke an die Ehrenamtlichen, die in Krankenhäusern und Altenpflegeheimen in der Seelsorge mitwirken. Und besonders denke ich an eine Frau aus der Gemeinde, in der ich lange Jahre Pfarrer war. Sie war nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mit ihrem Mann aus Rumänien nach Deutschland gekommen. In Rumänien hatte sie sechs Kinder großgezogen und hart in der Landwirtschaft gearbeitet. Hier in Deutschland pflegte sie zunächst ihre Mutter; dann später ihren Mann, der an Alzheimer erkrankte und sie am Ende gar nicht mehr erkannte. Dennoch nahm sie am Gemeindeleben teil und hatte für andere immer ein aufbauendes Wort aus der Bibel oder dem Gesangbuch parat.
V.
Geht es auch ohne Herrschaft? In dieser Welt wird immer Herrschaft und Macht ausgeübt werden. Doch Dank Jesu Christi hat die christliche Gemeinde noch eine anderen Blick auf das Miteinander. Christen dienen der Welt mit den Taten der Liebe. So, und nur so, sind und bleiben wir das, was Jesus uns zugesagt hat: Salz der Erde und Licht der Welt.
Amen.