Es ist die falsche Frage, lieber Edmond Kirsch – Predigt von Christof Vetter

In einer Woche und einem halben Jahr ist … Weihnachten: „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.“ In einer Woche und einem halben Jahr: Familien treffen sich, Menschen machen sich Geschenke und wir beten und singen in den Gottesdiensten an Heilig Abend: „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.

Freuen Sie sich darauf? Ich schon! Ein kleiner Aspekt macht mir die Freude noch größer: Mein Stapel ungelesener Bücher wird dann wieder exponentiell wachsen. Langsam – zur Mitte des Jahres – nimmt er doch beängstigend ab. Ein dickes, das seit dem letzten Weihnachtsfest dort lag, habe ich in den letzten Tagen gelesen.

Das neueste Abenteuer des Kryptologen Robert Langdon. Nach Illuminati, Sakrileg – Da Vinci Code, Das verlorene Symbol und Inferno entführt Dan Brown dieses Mal nach Spanien – „Origin“. Edmond Kirsch, ein ehemaliger Student von Robert Langdon verspricht in einer Präsentation im Guggenheim-Museum in Bilbao die Welt und insbesondere die Religionen aus den Angeln zu heben. Drei Tage vorab informierte er je einen Vertreter des Christentums, des Islam und des Judentums über seine Erkenntnisse, die seiner Ansicht nach alle Religion unnötig machen. Er habe nämlich die Antworten auf die entscheidenden Fragen der Menschheit gefunden: #Woher kommen wir? - #Wohin gehen wir?

Seine Entdeckung würde das Ende allen Glaubens an Gott bedeuten, an welchen auch immer. Es kommt Furcht auf vor der Entdeckung des Zukunftsforschers Edmond Kirsch – und Widerstand gegen die Veröffentlichung. Das spanische Königshaus ist darin verwickelt, die katholische Kirche und Geheimdienste… Ein spannendes Sujet mit unendlich vielen Anklängen an naturwissenschaftliche Erkenntnisse der letzten Jahrhunderte und philosophische Gedanken der letzten Jahrtausende.

Nein, keine Angst – ich verrate nicht, wie der Krimi ausgeht. Auch wenn meine Frau behauptet, ich würde das immer machen. Aber wer Spaß an einem spannenden Krimi hat, versetzt mit philosophischen Erkenntnissen, naturwissenschaftlichen Gedanken, kunsthistorischen Erläuterungen und einer endlos unbeantworteten Frage der Menschheit, kann sich mit dem Buch einige Stunden fesseln lassen.

Spannend. Doch bei mir blieb ein schales Gefühl: Sind das wirklich die entscheidenden Fragen der Menschen: #Woher kommen wir? - #Wohin gehen wir? Der immer wieder aufkeimende Streit zwischen denen, die die biblische Schöpfungsgeschichte wörtlich nehmen, und denen, die sich sicher sind, dass die Welt durch Evolution geworden ist, wie sie heute ist? Schöpfungsakt in sieben Tagen? Darwinistische Evolutionstheorie? Oder der Urknall am Anfang allen Lebens – die big bang theory? Und: Können wir wirklich allein von der Frage abhängig machen, ob es Gott gibt – oder nicht?

Sorry, lieber Edmond Kirsch, sorry: Das ist einfach die falsche Frage. Davon bin ich überzeugt. Nicht das, was vor 9.000 Jahren oder Abermillionen Jahren war, macht mich aus – und auch nicht, was morgen, übermorgen oder in zehn Jahren ist – die Frage, die sich jeden Tag neu stellt, jetzt, hier, heute, ist die Frage: Wer bin ich? Wie lebe ich?

Zu dem Thema hat uns in den letzten Tagen ein Brief erreicht:

 

Liebe Christengemeinde

Ich schreibe Euch, was von Anfang an da war, was wir gehört haben, was wir mit eigenen Augen gesehen haben, was wir angeschaut haben und betastet haben mit unseren HändenVon ihm, von Jesus Christus, …, haben wir die Botschaft gehört, die ich euch weitersage und jetzt noch einmal schreibe: Gott ist Licht, in ihm gibt es keine Spur von Finsternis.

Wenn wir behaupten: „Wir haben Gemeinschaft mit Gott“, und gleichzeitig im Dunkeln leben, dann lügen wir und gehorchen nicht der Wahrheit. Leben wir aber im Licht, so wie Gott im Licht ist, dann haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut, das Jesus, sein Sohn, für uns vergossen hat, reinigt uns von jeder Schuld.

Wenn wir behaupten: „Wir sind ohne Schuld“, betrügen wir uns selbst und die Wahrheit lebt nicht in uns. Wenn wir aber unsere Verfehlungen eingestehen, können wir damit rechnen, dass Gott treu und gerecht ist: Er wird uns dann unsere Verfehlungen vergeben und uns von aller Schuld reinigen. Wenn wir behaupten: „Seit wir Christen sind, haben wir nie mehr Unrecht getan“, machen wir Gott zum Lügner und sein Wort lebt nicht in uns.

Meine lieben Kinder, ich schreibe euch dies, damit ihr kein Unrecht tut. Sollte aber jemand schuldig werden, so haben wir einen, der beim Vater für uns eintritt: Jesus Christus, den Gerechten, der ohne Schuld ist. Durch seinen Tod hat er Sühne für unsere Schuld geleistet, ja sogar für die Schuld der ganzen Welt. Ob wir Gott wirklich kennen, erkennen wir daran, dass wir auf seine Befehle hören. Wer behauptet: „Ich kenne Gott“, ihm aber nicht gehorcht, ist ein Lügner und die Wahrheit lebt nicht in ihm. Wer aber Gottes Wort befolgt, bei dem hat die göttliche Liebe ihr Ziel erreicht. Und daran erkennen wir, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben. 

Der Brief geht noch weiter. Aber lassen wir es bei diesen ersten Abschnitten. Darin steckt die Antwort auf die Fragen, deren Beantwortung im Kriminalroman von Dan Brown die Welt erschüttern soll. Es ist die Antwort auf die alles entscheidende Frage und damit die Antwort auf endlose Diskussionen, welche Religion die Bessere ist. Die Antwort auf die Frage, ob Menschen, die anders leben, anders glauben, anders kochen oder anders lieben als wir, Gegner sind, ausgegrenzt, ausgemerzt oder heimgeschickt gehören. Eben die entscheidende Antwort auf die Grundfrage unseres Seins. Es ist das, was von Anfang an da war, was wir gehört haben, was wir mit eigenen Augen gesehen haben, was wir angeschaut haben und betastet haben mit unseren Händen.

Selbst wenn es irgendeinem Forscher gelingt – anders als in einem fiktiven Kriminalroman – irgendwann tatsächlich zu erklären, wie es angefangen hat – ob Urknall, Ursuppe oder Urgeschichte – bleibt die Frage, was die Ursache der Ursache war… Um dies zu beantworten, brauchen wir kein Studium, keine Bibliotheken, keine Computer-Simulationen: Die Augen eines Neugeborenen, das strahlende Lächeln eines Kindes im Spiel versunken, das schelmische Grinsen einer Konfirmandin, wenn sie den Pastor aufs Glatteis geführt hat, das glückliche Strahlen von Braut und Bräutigam vor dem Traualtar, das stille Erinnern am Grab – unerklärlich, kaum in Worte zu fassen und doch in einem Wort zusammengefasst: Liebe. Dort, wo Liebe lebt, ist keine Sünde. Dort, wo Liebe lebt, gibt es keinen Anfang und kein Ende. Dort, wo Liebe lebt, sind Menschen bei sich selbst.

Wenn es wirklich passiert, dass Sünde, Gottlosigkeit oder Lieblosigkeit Platz greift, entsteht dort, wo Liebe lebt, die Kraft zu widerstehen, die Stärke, Nein zu sagen und die Gewissheit zu vergeben. Deshalb ein Zitat aus dem Roman „Origin“, ein Wort, das mich mitgerissen hat, das mir Antwort war: „Liebe stammt aus einem anderen Reich. Wir können sie nicht auf Befehl hervorbringen. Und wir können sie nicht unterdrücken, wenn sie da ist. Wenn es um Liebe geht, haben wir keine Wahl.“ Das Lächeln eines Kindes, der verliebte Blick eines Paares, der suchende Blick derer, die zurückbleiben musste – der Blick der Liebe, der Blick Gottes. Gott beweist sich nicht darin, dass er am Anfang die Welt erschaffen hat, sondern darin, dass seine Liebe präsent ist. In mir, in uns, in unserer Kirchengemeinde, in unserem Flecken, ja: auch unter Menschen, die nicht dasselbe glauben, wie wir. Gottes Liebe erleben wir: hören wir, sehen wir mit eigenen Augen, schauen wir an und betasten wir mit unseren Händen – dann ist alle Finsternis vertrieben: Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.

Wir, getauft und konfirmiert, wissen, so wie es in dem Brief an uns steht: Gott ist Licht, in ihm gibt es keine Spur von Finsternis. Das feiern wir an Weihnachten – und hoffentlich jeden Tag.

Wie ich darauf komme? Ganz einfach: Später in dem Brief schreibt der Absender: Gott ist die Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm

Das ist es doch: Liebe kennt keinen Ursprung, keinen Anfang, kein Ende und kein Ziel – Gott auch nicht. Deshalb, lieber Edmond Kirsch, ist dein Abenteuer spannend zu lesen, aber die Fragen falsch. Die richtige Frage ist: Wer bin ich? Lebe ich, indem ich liebe und geliebt werde? Für diese Liebe gibt es keine Ursuppe und keinen Urknall, keine Schöpfung und kein Ziel, sondern einzig und allein den Grund, dass wir zuerst geliebt wurden. Auf diese Erfahrung – mit Herzen, Augen, Ohren und Fingern – antworten wir, grundlos geliebt, dreifach: Wir lieben Gott, wir leben die Menschen – und uns selbst. Wer liebt, kennt Gott und – welch absurdum – hat keinen Grund ständig zu betonen, ihn zu kennen. Sondern wir leben es, weil wir lieben… grundlos, ziellos, aber hier und jetzt.

Amen.

Perikope