Es ist noch Nacht – Predigt zu Römer 15,4-13 von Angelika Volkmann
15,4-13

Es ist noch Nacht – Predigt zu Römer 15,4-13 von Angelika Volkmann

Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben. Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander, wie es Christus Jesus entspricht, damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt, den Vater unseres Herrn Jesus Christus. Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Ehre. Denn ich sage: Christus ist ein Diener der Beschneidung geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind; die Heiden aber sollen Gott die Ehre geben um der Barmherzigkeit willen, wie geschrieben steht (Psalm 18,50): "Darum will ich dich loben unter den Heiden und deinem Namen singen." Und wiederum heißt es (5.Mose 32,43): "Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk!" Und wiederum (Psalm 117,1): "Lobet den Herrn, alle Heiden, und preisen sollen ihn alle Völker!" Und wiederum spricht Jesaja (Jesaja 11,10): "Es wird kommen der Spross aus der Wurzel Isais, und der wird aufstehen, zu herrschen über die Völker; auf den werden die Völker hoffen." Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.

Liebe Gemeinde,

es ist noch Nacht. (Römer 13,12)
Wir streiten uns. Auch in der Kirche. Um das liebe Geld. Um Gemeindefusionen für die Zukunft. Um unsere Haltung gegenüber Flüchtlingen. Um den Segen für gleichgeschlechtlich Liebende. Und vieles mehr.

Es ist noch Nacht. Wir streiten uns. Wir verletzen uns. Wir bekämpfen uns. In den Familien, in den Kollegien, zwischen den politischen Parteien, in den kriegerischen Konflikten auf der ganzen Welt.

Oft hat nicht nur einer Recht. Meistens hat jede Seite etwas Wertvolles, wofür sie eintritt. Doch es ist schwer, das wahrzunehmen. Beim anderen wahrzunehmen, dass auch er einen Wert vertritt. Der darf nicht übergangen werden, wenn wir eine gemeinsame Lösung finden wollen. Stattdessen streiten wir abwertend und bekämpfen den anderen.
Manchmal geht es nicht darum, einen Kompromiss zu finden, der womöglich keinem gerecht wird. Manchmal geht es darum, sich gegenseitig anzunehmen, auszuhalten mit den Unterschieden.

Es ist noch Nacht. Wir streiten uns. Damals haben sie auch gestritten. Heftig sogar. Denn es geht um vieles, ja ums Ganze. In Rom. In der jungen Gemeinde der Christusgläubigen. Und Paulus schreibt ihnen diesen Brief.  Er kennt den Streit. Es gibt Starke und Schwache in der Gemeinde.  Es gibt die, die sich an die Tora gebunden fühlen und die, die von der Einhaltung der Speisegebote befreit sind. Juden und Menschen aus den Völkern, die an Jesus als den Messias glauben. Und wie sollen sie jetzt zusammenleben?
Paulus ist bekümmert. Gott hat die Kluft zwischen Israel und den Völkern geschlossen durch seinen Sohn Jesus Christus! Wie großartig! Gott befreit die Völker von ihren Götzen, sie haben jetzt durch Christus den Zugang zu ihm, zum Glauben an den einen und einzigen Gott - und kaum ist dieses Großartige geschehen, da tut sich eine andere Kluft auf. Israel erkennt den Messias Jesus nicht.

Nehmt einander an! ruft Paulus. Denn er erkennt: Diese Kluft ist gottgewollt. Diese Kluft ist nur von Gott selber zu überwinden. Und das Ziel, auf das Gott hinwirkt, ist Geheimnis.  Nicht mit Argumenten zu erreichen. Nur visionär zu erfassen:  Gott wird sich aller erbarmen! Gott selber ist alles in allem! (Römer 11,32.36)

Es ist noch Nacht. Die Welt versinkt im Streit. Wir erliegen unseren seelischen Verletzungen. Doch schenkt Gott uns Hoffnung.  Wir sind nicht alleine in der Nacht der Welt. Wir haben Gottes Verheißungen – durch die Zeiten hindurch. Sie stehen in der Bibel. Sie gelten Israel, seinem ersterwählten Volk, dem Gott treu ist. Sie gelten der jungen christlichen Gemeinde in Rom. Sie gelten der Kirche heute.  Gott wird sich aller erbarmen. Gott ist alles in allem. Der Gott aller Geduld und allen Trostes. Er hat es uns schriftlich gegeben. Wie einen Liebesbrief.
Es lebt sich anders, wenn ich mit einem Liebesbrief lebe. Wenn ich fühlen kann, ich bin gemeint. Jemand ist glücklich über mich. Jemand sehnt sich nach mir. Für jemanden bin ich die Wichtigste. Er denkt ständig an mich, will stündlich von mir wissen, zählt meine Tränen. Dann ist mein ganzes Leben anders. Viele Dinge sind plötzlich nicht mehr so wichtig. Ich kann nachsichtiger sein. Die Bedeutung von vielem verschiebt sich. Denn ich bin geliebt. Auch, wenn der Brief von weit her zu mir kommt. Er hat Kraft. Paulus schreibt: Durch den Trost der Schrift haben wir Hoffnung. Er meint damit das Alte Testament. Das große Buch von Gottes Barmherzigkeit. „Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben.“ (V 4)

Paulus betont das Gemeinsame. Und spricht einen Segenswunsch aus: Gott gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander. Das kann man auch, wenn man unterschiedlicher Ansicht ist. Die friedliche Gesinnung Jesu Christi annehmen.  Und in Vielstimmigkeit gemeinsam Gott loben, den Vater Jesu Christi. Gott loben, dessen Zuwendung jedem Menschen gilt. Gott gemeinsam loben in der willentlichen Entscheidung, andere und Andersdenkende anzunehmen.

Es ist noch Nacht. Doch wir können Gottes Lob singen. Dem hellen Morgenstern. Auch wenn wir geweint haben. Der Trost ist da.

Für den damaligen Konflikt hat Paulus eine Lösung errungen. Er erklärt der jungen christlichen Gemeinde, dass der Gott Israels an ihnen gehandelt hat.  Durch Jesus Christus, seinen Sohn, können nun alle Menschen zu Gott gehören, ohne jüdisch werden zu müssen. Gott wendet sich den Völkern zu, so wie es in der Heiligen Schrift Israels steht. Und dadurch bestätigt Gott die Verheißungen, die Israel gegeben sind. Sie sind immer noch in Kraft. Genauso wie seine Treue zu seinem ersterwählten Volk.  Sein Weg mit Israel und sein Weg mit der Kirche haben nebeneinander Platz. Nehmt einander an! Es ist nicht so, dass einer von euch mehr Recht hat als der andere.  Beide Wege sind von Gott so gewollt.

Dann hat Paulus einen überraschenden Gedanken für die christliche Gemeinde bereit: Jesus ist ein Diener der Juden geworden. Ein Diener. Nicht ihr Herr. Christus ist der Herr über die Kirche und ein Diener der Juden. Darum soll auch die Kirche Israel dienen und nicht Israel belehren. Im Gegenteil. In Vers 8 schreibt Paulus: „Denn ich sage: Christus ist ein Diener der Juden geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind.“ Z.B. dass Gott ihnen treu ist und dass Israel sein Volk ist.
Christus dient den Juden. Und parallel dazu heißt es: Die Heiden sollen Gott loben, und sich mit Israel freuen.  Das begründet Paulus ganz rabbinisch mit Bibelstellen aus Tora, Schriften und Propheten:
Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk“ (5.Mose 32,43)
Lobt den Herrn, alle Heiden, und preist ihn, alle Völker!“ (Psalm 117,1) und:
Es wird kommen der Spross aus der Wurzel Isais und wird aufstehen, um zu herrschen über die Heiden; auf den werden die Heiden hoffen.“ (Jesaja 11,10)

Es ist noch Nacht. Aber der Morgen ist nahe. (nach Römer 13.12)
Mitten in allem Streit, mitten in allen Verletzungen, mitten in der Dunkelheit, die uns umgibt, können wir das Lob Gottes singen. Das ist unsere Aufgabe. Dazu sind wir da! Wir können das vielstimmig tun, auch wenn wir verschiedene Ansichten haben, und gemeinsam mit Israel. Wir können dadurch der Welt ein Zeichen geben, einen Hinweis, dass es Hoffnung gibt, dass es reichen Trost gibt, den uns niemand nehmen kann, wie fatal auch immer Politiker entscheiden, wie hasserfüllt auch immer Mächtige Menschenleben auslöschen, wie böse auch immer Menschen sich im Streit verhalten.
Wir können Gottes Lob singen. Es gibt Vergebung bei Gott. Gott hat sein Volk nicht vergessen. Gott hat keinen Menschen vergessen. Es kommt alles noch einmal zur Sprache. Wer Böses tut, wird sich zu verantworten haben. Wir müssen uns nicht rächen. Wir können Gott das Gericht überlassen. Durch Christus können wir uns versöhnen mit unserem Feind. Mit uns selbst. Mit den Lebensumständen. Nichts kann uns von Gottes Liebe trennen. Was auch immer geschieht, wir sind in Gottes Hand. Von ihm beschenkt können wir Frieden stiften.

Es ist noch Nacht. Doch wir stehen unter dem Segen, den Paulus uns zuspricht: Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.

Amen.

 

Lied nach der Predigt: EG 16 Die Nacht ist vorgedrungen

Perikope
17.12.2017
15,4-13