Immer am Sabbat lehrte Jesus in einer der Synagogen. Und sieh doch: da war eine Frau. Seit achtzehn Jahren wurde sie von einem Geist geplagt, der sie krank machte. Sie war verkrümmt und konnte sich nicht mehr aufrichten. Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich. Er sagte zu ihr: „Frau, du bist von deiner Krankheit befreit!“ Und er legte ihr die Hände auf. Sofort richtete sie sich auf und lobte Gott.
Aber der Leiter der Synagoge ärgerte sich darüber, dass Jesu die Frau an einem Sabbat geheilt hatte. Deshalb sagte er zu der Volksmenge: „Es gibt sechs Tage, die zum Arbeiten da sind. Also kommt an einem dieser Tage, um euch heilen zu lassen – und nicht am Sabbat!“ Doch der Herr sagte zu ihm: „Ihr Scheinheiligen! Jeder von euch bindet am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Futterkrippe los und führt ihn zur Tränke. Aber diese Frau hier, die doch eine Tochter Abrahams ist, hielt der Satan gefesselt – sieh doch: achtzehn Jahre lang! Und sie darf am Sabbat nicht von dieser Fessel befreit werden?“ Als Jesus das sagte, schämten sich alle seine Gegner. Und die ganze Volksmenge freute sich über die wunderbaren Taten, die Jesus vollbrachte.
Es liegt an uns
I. Unsichtbar sichtbar – die Geschichte einer Namenlosen
Sie steht am Rand. Fast unsichtbar. Die Blicke der anderen gehen über sie hinweg. Trifft sie doch mal einer, versucht sie sich instinktiv noch kleiner zu machen. Über die Jahre ist es für sie eine Gewohnheit geworden. Eine, die sie sich nicht ausgesucht hat. Eine, die andere ihr zugeschrieben haben.
Das, was sie erlebt hat, haftet wie ein Makel an ihr. Sie kann es nicht abschütteln. Zu fest sitzt es. Unfrei fühlt sie sich.
Anfangs – wie lange ist das her? – da hat sie versucht, sich Gehör zu verschaffen. Doch niemand hat sie hören wollen. Dass ihr jemand Glauben schenkt, darauf hofft sie schon gar nicht mehr. Statt Zuspruch Widerspruch. Ihr Empfinden, ihre Erinnerungen, ihr Leid – all das zählt nichts.
Was sie sich erhofft: Gesehen und gehört werden. Gerechtigkeit.
Weshalb sie die Gemeinschaft nicht von sich aus verlässt? Die anderen sollen nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Als ob nichts passiert sei. Als ob es sie nicht gäbe. Sie will weiter Stachel im Fleisch bei ihnen sein. Auch wenn es anstrengend ist. Viel Kraft kostet. So wie jetzt gerade: Sich am liebsten unsichtbar machen.
II. Gesehen – gerufen – Jesus greift ein
Einer sieht sie doch. Ruft sie in die Mitte. Sie muss sich einen Ruck geben. Es ist nicht so einfach. Sie geht in dem Vertrauen, ja mit welchem eigentlich? Sie hat gelernt, nichts zu erwarten. Er sieht sie und ruft sie zu sich. Sieht mehr, tiefer. Augen, die wie erloschen sind. Einen Mund, der verstummt ist. Er sieht sie. Voller Wärme und Zuneigung. Das erreicht sie. Als er sie berührt, kann sie zunächst ein Unbehagen nicht leugnen. Schließlich hat sie um nichts gebeten. Selbst ihn nicht. Natürlich hat sie von ihm gehört. Von seiner Macht zu heilen. Aus tiefstem Herzen wünscht sie das auch für sich. Trotzdem bleibt das Unbehagen.
Als ob sie etwas zurückhält. Als ob sie sich fürchtet. Vor dem, was sich ändern wird.
Gemeinsam mit seinen Worten verändert sie sich durch die Geste. Sie richtet sich auf. Zu voller Größe. Das erste Mal seit vielen Jahren. Wirbel für Wirbel. Langsam. Überrascht. Nicht nur ihr Körper, auch ihr Herz wird frei.
Sie macht einen Schritt. Dann noch einen. Geht voran. In der Hoffnung, nicht allein zu bleiben. Sie macht sich selbst Mut. Jetzt muss sich doch etwas ändern. Kann sie jetzt sagen, was geschehen ist? Was sie zu der gemacht hat, die sie heute ist? Wie sie das Verhalten der anderen empfunden hat?
III. Hinsehen und handeln – so fängt Veränderung an
Jesus fragt nicht. Er handelt. Zunächst. Damit stellt er sich an ihre Seite. Wehrt Angriffe ab. Lässt nicht gelten, was gesagt wird. Rückt zurecht. Macht unmissverständlich klar, dass alles getan werden muss, was dem Leben dient. Erinnert daran. Macht damit möglich, dass die anderen das auch sehen. Dem zustimmen können. Veränderung ist angesagt. Veränderung, die der Menschenliebe Gottes Rechnung trägt. Nichts anderes muss folgen.
Ja, sie wird stärker. Und wir? Trauen wir uns. Trauen uns hinzusehen. Ergreifen Partei, wo immer es nötig ist. Erinnern auch dann, wenn es unbequem wird. Vergessen die nicht, die gern im Dunkel gelassen werden. Trauen wir uns zu handeln. Ziehen wir Konsequenzen, wann immer sie nötig sind. Belassen wir es nicht nur bei Worten.
Jesus hat es getan. So fängt es an und zieht Kreise, Gott sieht sie, sieht mich, sieht uns an. Sein Blick verändert.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Sommerferien liegen hinter uns. Der Alltag ist wieder eingekehrt. im Gottesdienst mischen sich die, die aus dem Urlaub zurückgekehrt sind, und die, die daheim geblieben sind. Die Gottesdienstbesucher*innen gehören zu verschiedenen Altersgruppen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Immer wieder beschäftige ich mich zurzeit mit den Ergebnissen der Forumstudie. Vor allem das Thema des „Dunkelfeldes“ lässt mich nicht los. Der Predigttext stellte schon beim ersten Lesen eine Brücke zu diesem Thema her. Betroffene zu sehen – zu ahnen, dass vielleicht Betroffene in der Gottesdienstgemeinde sitzen – hat mich herausgefordert.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich bin erschrocken, als mir aufgefallen ist, dass Jesus in dieser Geschichte übergriffig geworden ist. Einerseits. Andererseits: Ohne sein Eingreifen wäre die Frau nicht sichtbar geworden. Jesus handelt, weil er unter die Oberfläche sieht. Wahrnehmen, was da ist. Verborgen, im Dunkeln. Sich nicht täuschen lassen von dem, was sichtbar ist.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Meine Predigtcoach hat mich ermutigt, genauer zu werden. Deshalb konnte ich das Unbehagen der Frau besser beschreiben. Die Zielrichtung der Predigt auf uns, die wir lesen und hören, ist exakter formuliert.